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Retuschen an der Schöpfung
Erstaunt betrachtete der Arzt das Gesicht des Patienten. In seinem Beruf war ihm manches untergekommen, doch dieses verblüffte ihn. Seine Gedanken von dem Anblick losreissend, begann er, den Bewusstlosen zu untersuchen. Puls und Atmung waren nicht besorgniserregend. Er winkte den Sanitätern, damit diese den Patienten für den Abtransport auf die Bahre hievten.
«Es sind keine äusseren Verletzungen erkennbar», bemerkte er zu der Polizeibeamtin, die danebenstand. «Ob innere Verletzungen vorliegen, wird erst die gründliche Untersuchung im Spital zeigen. Auch für seine Bewusstlosigkeit weiss ich noch keine sichere Ursache. Der flache Puls könnte ein Hinweis auf Drogen sein, wie Sie vermuten, doch möchte ich mich da nicht festlegen.»
Die Parkanlage, in der der Bewusstlose aufgefunden worden war, hatte diesen Gedanken aufkommen lassen. An diesem Ort hatte man öfters Ärger mit Junkies. Dass der Mann gepflegt wirkte und nicht jung war, sprach nicht dagegen.
«Aber … die Lippen!» Die Polizistin wirkte sehr verunsichert.
«Ja», der Arzt sprach das Wort gedehnt aus, als ob er zugleich nach einer plausiblen Erklärung suchte. «Eine Deformation, wobei es hier wirklich eine sonderbare Laune der Natur bildet. So etwas habe ich selbst noch nie gesehen. Verwunderlich ist, dass dies bei ihm nicht bereits im Kleinkindalter operiert wurde.»
Die Polizistin blickte nochmals intensiv auf das Gesicht des Bewusstlosen. «Es sieht ja nicht hässlich aus, aber dennoch erschrak ich, glaubte erst, er sei maskiert.»
Die Lippen standen leicht offen, sie waren unauffällig, doch einen Fingerbreit darunter, ein zweites Lippenpaar. Dieser Mund war kleiner als der darüber liegende, mehr wie ein Frauenmund, sich zu einem Kuss zuspitzend.
Die weiterführenden Untersuchungen erbrachten einige überraschende Befunde. Die Ursache der Bewusstlosigkeit konnte anhand der Laborwerte des Blutes zugeordnet werden. Es war eine starke Dosierung eines Anästhetikums, das bei Operationen zum Einsatz kommt. Als man seinen zweiten Mund untersuchte, zeigte es sich, dass der Kieferknochen und die Zähne darunter völlig intakt waren, er also keine Öffnung und Funktionalität hatte. Dafür waren Nähte erkennbar. Diese zweiten Lippen waren künstlich eingesetzt und seine Zunge im realen Mund reptilienartig ein Stück gespalten worden.
Harmsen legte das Buch auf die Seite. Die Bildnisse antiker Schönheit hatten ihn immer fasziniert, sie waren einer der Impulse, weshalb er sich während des Medizinstudiums entschied, die Richtung plastische Chirurgie einzuschlagen. Später erkannte er, dieses Gebiet war ihm nicht einfach ein Beruf, es war ihm vielmehr Berufung. Noch vor vier Jahren hatte die Zeitschrift Esquire über ihn geschrieben, er sei ein Schönheitschirurg, dem es gelinge, die Schöpfung zu vollenden. Diese Worte hatte er der Journalistin zwar selbst souffliert, aber er lebte sie mit Überzeugung, bis … Seine Gedanken wandten sich von der Faszination seiner Fähigkeiten ab, gaben kontrolliertem Hass wieder Raum, welcher ihn seit dem Verlust der Approbation beherrschte. Der Richter hatte seinen Preis erhalten. Seine Doppelzüngigkeit, welche er im Prozess aufscheinen liess, stand ihm nun ins Gesicht geschrieben. Sie würden alle noch ihre gerechte Strafe erhalten, Frau Dumermuth, welche ihn wegen schwerer Körperverletzung angezeigt, und ihr Anwalt, der ihn vor Gericht als Scharlatan dargestellt hatte. Ihn, den erfolgreichen Schönheitschirurgen, Dr. Mark Harmsen. Seine langjährige und renommierte Praxis war ein Beweis seines Könnens gewesen, die Liste höchst zufriedener Kundinnen lang. Es konnte nicht geklärt werden, warum in der verwendeten Originalpackung ein zellzersetzendes Mittel gewesen sein sollte. Der Hersteller wies die Verantwortung von sich und überzeugte das Gericht von seinen hohen Sicherheitsstandards. Offen blieb, ob das Pharmawerk Opfer eines Sabotageaktes geworden war. Da kein Erpresser sich meldete, stellte man diesbezügliche Abklärungen ein und ging von einem eklatanten Fehler des Arztes aus. Seiner Assistentin musste ein Fehler unterlaufen sein, davon war Harmsen überzeugt. Sie hatte die Medikamente bereitgestellt. Das Gericht lastete ihr trotzdem keinerlei Schuld an. Für sie würde er sich einen extravaganten Eingriff vorbehalten.
Beim Unternehmen, welches die öffentlichen, selbstreinigenden WC-Anlagen landesweit betrieb, ging ein Alarm ein. Dieser löste sich aus, wenn eine Kabine über eine Stunde nicht verlassen wurde.
Als die beiden Angestellten die Tür mit einem Spezialgerät öffneten, sahen sie einen älteren Mann mehr vornüber geneigt hängend, als sitzend, auf der Klobrille. Die heruntergelassene Hose war über den Schuhen gerafft. Sie hatten ihn noch nicht berührt, als er schon abrutschte. Die Beiden verhinderten ein hartes Aufschlagen des Körpers auf dem Metallboden, indem sie instinktiv zupackten und ihn abgleiten liessen.
Vorübergehend waren sie vor Schreck sprachlos, dann begann der eine hysterisch zu lachen, der andere stimmte ein, um alsbald in entsetztes Schreien überzugehen.
Die Ärzte, welche den als Notfall eingelieferten Patienten untersuchten, waren fassungslos. Es musste die Tat eines Wahnsinnigen sein, doch chirurgisch sauber durchgeführt. Anstelle seiner Nase hing schlaff der Penis samt Hodensack und an dessen Stelle war die Nase eingesetzt, permanent Urin tröpfelnd.
Der Bezug zum Fall Richard von Stähl, jenem Richter, der vor acht Monaten körperlich deformiert im Park hinter dem Landesmuseum gefunden worden war, lag auf der Hand. Im Blut war dasselbe Anästhetikum nachgewiesen worden. Bereits damals hatte die Kriminalpolizei unter Leitung von Kommissar Oberhänsli akribisch überprüft, wer für die Tat in Frage kommen könnte. Der einzige Hinweis, dass es jemand sein musste, der über entsprechend fachliche Kompetenz besass, verlief im Sande.
Man stiess zwar auf den Fall Dr. med. Mark Harmsen, welcher zu einer bedingten Gefängnisstrafe und zu einer sehr hohen Schadenersatzleistung verurteilt worden war. Als Täter musste er allerdings ausgeschlossen werden. Harmsen hatte sich nach dem Prozess bald ins Ausland abgesetzt. Ein Jahr später war er bei einem Badeunfall im Indischen Ozean, der gefährliche Strömungen aufweist, ums Leben gekommen.
Es war etwas in der Bewegungsart des Mannes, der vorhin aus einem Hauseingang trat, stehen blieb und sie, wie unabsichtlich, anschaute, das in ihrer Erinnerung einen Auslöser betätigte. Anita Lätsch hatte ihm ins Gesicht gesehen, als sie an ihm vorbeischritt, ein Fremder. Sie musste sich getäuscht haben.
Mitten in der Nacht schreckte sie auf. Die gespeicherte Information war in ihr Bewusstsein vorgestossen und meldete sich wie ein schriller Alarm. Sie sah sein Gesicht vor sich, so wie er damals ausgesehen hatte. Jahrelang hatten sie eng zusammengearbeitet, er war ihr in allen Nuancen vertraut. Sie meinte, sich sogar an seinen Geruch zu erinnern. Es war diese Bewegung gewesen, ein eigenwilliges, kaum merkliches Schlenkern mit dem linken Arm, welches der Mann zeigte. Angstschweiss trat ihr auf die Stirn. Sie erinnerte sich, als sie ihn letztmals vor Gericht sah. Die Schuld hatte er ihr zugewiesen. Direkt miteinander gesprochen hatten sie nicht mehr. Doch seine Augen waren hasserfüllt. Noch nie hatte ein Mensch sie so bösartig angeblickt. In dem Augenblick war ihr jäh eine Angst vor ihm aufgekommen.
Unmöglich, es musste eine Zufälligkeit im Bewegungsablauf sein. Sie hatte damals von seinem Tod gehört. Diese Nacht fand sie keinen Schlaf mehr, dieser Schock und die Unklarheit, ob sie nicht gleichwohl ihm begegnet war, sass zu tief.
In den nächsten Tagen achtete sie unauffällig darauf, ob er wieder in Erscheinung treten würde. Bereits wollte sie es als Hirngespinst abtun, als sie ihn entdeckte. Er sass allein an einem Tisch in jenem Restaurant, in dem sie regelmässig ihr Mittagessen einnahm. Da er nicht merken sollte, dass sie ihn einer Prüfung unterzog, bemühte sie sich, ihn nicht direkt anzublicken. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wenn sie ihn kurz fixieren und die nuancierten Merkmale mit dem Gesicht von Harmsen vergleichen konnte. Dessen Nase war gleichmässiger gewesen, die dieses Mannes hatte einen leichten Knick. Die Ohren waren es, die ihr die Gewissheit brachten, er muss es sein! Sie schienen auch verändert, doch der obere Bogen war eindeutig identisch. Angst beschlich sie. Ihr war der Gedanke gekommen, die Polizei zu verständigen, doch verwarf sie diesen wieder. Sie erinnerte sich, dass die Medien berichteten, die beiden Opfer, der Richter und der Anwalt, hätten keinerlei Angaben über den Täter machen können. Sie wurden unversehens bewusstlos und erwachten erst wieder im Spital. Nicht im Entferntesten, war ihr der Gedanke aufgekommen, diese hätten einen Bezug zu Harmsen. Wie sollte man ihm beweisen, dass er der Täter war? Dafür, dass er anscheinend seinen Tod vorgetäuscht und sich eine neue Identität zulegt hatte, könnte man ihn kaum gross belangen. Aber er stellte eine direkte Gefahr für sie dar. Wenn er sich wirklich an den beiden Prozessbeteiligten gerächt hatte, würde er sie erst recht nicht ausklammern. Sie war sich völlig im Unklaren, wie sie die Gefahr von sich abwenden könnte. Vorerst müsste sie versuchen, mehr über seine heutige Identität in Erfahrung zu bringen.
Harmsen hatte sich über die aktuellen Gewohnheiten und die Lebensumstände der Lätsch ein Bild gemacht. Ihren Wohnort hatte sie nicht gewechselt, verfügte inzwischen allerdings über eine eigene gutgehende Praxis. Letzteres verstärkte seinen Hass nur. Seine Klientinnen dürften der Grundstock gewesen sein, dass sie sich an einer solch renommierten Adresse etablieren konnte.
Er hatte mehrfach ihren Weg gekreuzt, um zu testen, ob sie ihn wiedererkennen könnte. An der perfekten Veränderung seines Aussehens zweifelte er nicht. Dennoch, wenn jemand ein Gespür für seine Gegenwart besass, dann wäre es sie. Ihre Zusammenarbeit hatte es erfordert, den andern präzis einschätzen zu können. Bei den Begegnungen zeigte sie keinerlei Anzeichen von Wiedererkennen, was ihn befriedigte. Sie würde ahnungslos sein, bis sie transformiert wäre. Da sie bestimmt wie alle dachte, er sei tot, würde der Gedanke sie wahnsinnig machen, wer sich für ihn an ihr rächte. Diese Vorstellung befriedigte ihn. Noch konnte er sich nicht entscheiden, welches der ärgste Makel für sie wäre, auch wenn sie ihn später wieder beheben lassen könnte. Der Schwierigkeitsgrad war etwas zu finden, das ihr infames Wesen repräsentierte. Es musste richtiggehend perfid sein, ihr Selbstwertgefühl nachhaltig schädigen. Nun, er hatte Zeit, davonlaufen konnte sie ihm nicht. Oder doch?
Vor einigen Tagen war sie ihm entwischt, er sah sie noch ins Kaufhaus hineingehen, dann war sie weg. Es war bereits einmal passiert, was ihn erst verunsicherte, ob sie ihn erkannte. Die nächsten Begegnungen waren ihm dann letztlich eindeutig, sie hatte keine Ahnung seiner Nähe.
Anita war sich des Risikos bewusst, als sie in das Haus eindrang. Harmsen, oder Helmut Rinderknecht, wie er sich jetzt nannte, war eben weggefahren. Zu diesem Zeitpunkt dürfte er sich in der Nähe ihrer Praxis auf die Lauer legen. Sie hatte also ausreichend Zeit sich umzusehen, - wenn er nicht überraschend zurückkehrte. Falls es nicht anders ging, hatte sie eingeplant, einen Schlüsselservice kommen zu lassen. Beim Rundgang um das Haus fand sie wie erhofft eine Schwachstelle. In einem Lichtschacht, einzig durch ein aufgelegtes Metallgitter gesichert, sah sie ein halb geöffnetes Kellerfenster. Das Gitter war lange nicht bewegt worden, klemmte, mit etwas Mühe konnte sie es dennoch abheben und verschieben.
Er musste das Haus möbliert gemietet haben, denn die Einrichtung entsprach nicht ihm. Auch schien er nur zwei Räume zu benutzen, die andern wirkten unbewohnt. Systematisch hatte sie alles durchgesehen und war enttäuscht, dass das Vorgefundene ihren Verdacht nicht bestärkte. Kein Hinweis auf seine wahre Identität oder seinen Beruf. Blieben nur noch die einzelnen Räume im Untergeschoss, die sie noch nicht inspiziert hatte.
Sie schluckte, als sie die dritte Türe öffnete und das Licht anschaltete. Eine schlichte, aber neuestem Standard entsprechende Praxiseinrichtung kam in ihr Blickfeld. Es war alles vorhanden, das er brauchte, um seine Gräueltaten zu begehen. Wenn sie nur einen Hauch von Zweifel gehabt hätte, dass er Harmsen war, dann wäre er nun endgültig verflogen.
Auf einem Arbeitstisch stand ein PC, den sie einschaltete. Natürlich passwortgeschützt. Nach acht Minuten hatte sie es geknackt. Glücklicherweise war kein Sicherheitssystem aktiviert, das nach drei Fehlversuchen den Zugriff blockierte. Adonis, da hätte sie eher drauf kommen können, da sie seine Vorlieben kannte. Früher verwendete er Venus.
Er hatte ab hier Zugriff auf medizinische Datenbanken, die nur akkreditierten Ärzten zugänglich waren, wie sie verblüfft feststellte. Entweder wurde ihm unter seiner falschen Identität der Zugang ermöglicht, dann müsste diese nahezu perfekt sein, oder er wusste das aktuelle Passwort eines Arztes. Sie klickte den ersten Ordner an, der einzig durch drei Buchstaben gekennzeichnet war. Auf der Seite erschienen fünf Fotos, die je den Richter, den Anwalt, den Vorsitzenden der Ärztekommission, die Patientin Frau Dumermuth und sie selbst zeigten. Die Bilder musste er auf der Strasse geschossen haben, wie ein Tourist, der Erinnerungen festhält, ohne sich um vorbeigehende Passanten zu kümmern. Das war der Beweis, er hatte es auf sie abgesehen. Ein Schauder liess sie leicht zittern.
Erstaunt blickte sie im nächsten Ordner die Bilder an. Er hatte die verschiedenen Phasen der Operationen festgehalten. Am Schluss der Serie war ein Foto, als der Anwalt zusammengesunken im WC-Abteil sass. Unglaublich, sie hatte von der Entstellung des Gesichts bei dieser Tat gelesen, aber ohne nähere Beschreibung. Eine derartige Perversion hatte sie sich nicht vorgestellt. Harmsen war zweifellos nicht mehr normal, dies war die Tat eines leidenschaftlichen Psychopathen.
Da war auch der Richter mit allen bildlichen Details. Die zweiten Lippen waren durchaus ein Kunstwerk, das musste sie Harmsen zugestehen. Er beherrschte noch immer seine Fertigkeiten.
Hinweise konnte sie keine finden, die andeuten könnten, was für Schandtaten er bei den drei noch verbleibenden Opfern im Sinn hat. Anita ahnte, dass sie nicht geringer ausfallen würden. Sein Rachefeldzug musste rasch und nachhaltig gestoppt werden, nur wie? Den Gedanken, die Polizei zu verständigen, verwarf sie. Selbst wenn man ihn fasste, würde er nur wegen Körperverletzung belangt werden und irgendwann seine Taten fortsetzen. Zur Mörderin wollte sie nicht werden, nicht wegen ihm. Es musste einen andern Weg geben.
Im Schlachthof hatte sich Harmsen einen Schweinekopf besorgt. Er war beglückt, als ihm dieser Gedanke aufgekommen war, es drückte sinnbildlich aus, was er von der Lätsch hielt. Ihre Brandmarkung als Sau war die angemessene Strafe für sie.
Am Bildschirm skizzierte er verschiedene Möglichkeiten. Er hatte lange hin und her getüftelt, bis er die ihm am stärksten erscheinende Ausdrucksform gefunden hatte. Ihre Nase würde er abflachen und aufwerfen, sie dem Aussehen eines Schweines anpassen, dies liess sich leicht ohne Transplantation durchführen. Als Glanzstück kämen die Schweineohren dazu, deren Spitzen borstige Haare krönten. Ihr Gesicht erhielt in der Fotomontage ein Aussehen, das ihn zynisch auflachen liess. Perfekt, die Lätsch würde ihren eigenen Anblick nicht verkraften. Wenn ihr dann ein Spiegel vorgehalten würde, musste ihr selbstzerstörerisch die Erkenntnis einsetzen, sie sei eine Sau.
Anita Lätsch wusste, dass die Zeit drängte, in den letzten Wochen war Harmsen wie ein Schatten an ihr geheftet, doch seit vier Tagen blieb er weg. Das Stadium des Beobachtens war für ihn anscheinend abgeschlossen, was bedeuten musste, dass er sich entschieden hatte, wann und wo er ihrer habhaft würde. Die Gefahr kristallisierte sich folglich. Da er seine Opfer stets unbemerkt betäubte, musste sie ihm zuvorkommen und ihn unschädlich machen. Ihre Entscheidung, wie sie es durchführen musste, hatte sie bereits vor einer Woche getroffen. Es war ihr nicht leicht gefallen. Was sie vorhatte, widersprach diametral ärztlicher Ethik, doch war es der einzige Ausweg. Notwehr, die zwar nicht das Recht auf ihrer Seite hat, aber hier ging es um das Gesetz des Stärkeren, das einzige, das sie vor ihm schützen könnte.
Beim dreitägigen Ärztekolloquium, an dem sie teilnahm, fiel es nicht auf, wenn jemand für zwei, drei Stunden abwesend war. Es war da ein Kommen und Gehen, zudem fanden parallel verschiedene Veranstaltungen statt. Anita hatte auf diesen Zeitpunkt gewartet, um ein Alibi, wenn auch nicht lückenlos, vorweisen zu können.
Sie spürte, dass das Beruhigungsmittel wirkte, welches sie geschluckt hatte, um ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Ihr Äusseres hatte sie kosmetisch und mit einer Perücke derart verändert, dass er sie nicht ohne Weiteres erkennen konnte. Auch das Grau ihrer Augen hatte sie vorsichtshalber durch Linsen mit dunkelbrauner Iris überdeckt. Dennoch, sie wusste, es blieb ihr nicht viel Zeit. Sein Gespür für sie würde irgendwann Alarm schlagen, auch wenn sie sich ihrer stark täuschenden Verwandlung sicher war. Ihre Anspannung wuchs an, als sein Haus in ihr Blickfeld kam. Mit einer Tasche in der Hand, wie sie bei Handelsreisenden üblich war, trat sie auf die Eingangstür zu und betätigte die Türklingel. Nichts rührte sich im Haus. Noch einmal drückte sie auf den Knopf der Klingel, diesmal anhaltender. Da, sie hörte einen Laut und im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür. Rinderknecht stand vor ihr, mit abweisendem Gesichtsausdruck.
«Sie wünschen?»
«Mein Name ist Bringolf. Ich komme von der Gebäudeversicherung. Wir hatten bei der letzten Prämienüberprüfung festgestellt, dass seinerzeit gemeldete Änderungen in unseren Plänen nicht nachgetragen wurden. Ich müsste nur kurz einen Blick in die Räume werfen und die Abmessungen notieren, soweit es die Änderungen betrifft.» Sie war zufrieden mit ihrem Sprachausdruck. Entstellend hatte sie sich auf den spitzen Basler Dialekt kapriziert, der ihr aus Kindheitstagen durch eine Tante sehr vertraut war.
«Da hätten Sie sich wohl anmelden können, einen Termin vereinbaren. Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit und muss gleich weg.»
«Es dauert keine fünf Minuten, dann bin ich auch wieder weg. Ich kann auch allein durchs Haus gehen, dann sind sie überhaupt nicht tangiert.»
Harmsen wirkte eine Nuance lang unentschlossen, doch liess er sie dann eintreten. «Ich habe das Haus nur gemietet und weiss nicht, was der Besitzer umbaute. Selbst habe ich keine Änderungen vorgenommen.»
Gezielt warf sie ein: «Es betrifft die Unterkellerung. Der Besitzer vergrösserte nach eigenen Angaben seinen Weinkeller und nahm Änderungen an andern Räumen vor. Wichtig ist dabei, dass die Stützmauern wegen der Statik nicht verändert wurden.»
Einen Moment zuckte ein Muskel in Harmsens Gesicht, als sie die Kellerräume erwähnte. Doch hatte er sich sofort wieder im Griff. Seinerzeit bei der Einrichtung hatte er seinen Praxisraum der Lieferfirma gegenüber ungefragt damit begründet, dass er Forscher sei. Darüber war auch der Hausbesitzer informiert. Hatte dieser vielleicht etwas gegenüber der Versicherung verlauten lassen? Nun, das konnte kein Problem sein.
Er schritt voran, direkt diesen Raum anvisierend. «Hier habe ich einen Praxisraum eingerichtet, für Forschungszwe…». Weiter kam er nicht. Er spürte den Stich der Injektionsnadel im Hals. Den Kopf halb wendend, brachte er noch ein «Du» heraus, alsdann zusammenbrechend.
Es war keine starke Betäubung, da sie ihn nachher wieder in Wachzustand haben wollte. Mit sicherer Hand und mithilfe des vorhandenen Monitors führte sie die Injektion von unten ins Gehirn durch. Zielgerichtet ein Nervengift in jene Mikroregion streuend, in der es begrenzt Zellen zerstören sollte. Anschliessend nahm sie seine Hände vor, in die einzelnen Gelenke ein Mittel spritzend, die sie nur leicht versteifen, dadurch aber unfähig machen würden, je wieder ein Skalpell zu führen.
Bei der Polizei war eine von Harmsens PC abgesandte Mail eingegangen, in der er sich selbst der chirurgisch deformierenden Taten bezichtigte. Unterzeichnet war das Mail mit Dr. Mark Harmsen alias Helmut Rinderknecht. Es war auffallend wirr abgefasst, dennoch sandte man eine Streife vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.
Kommissar Oberhänsli betrachtete den Mann, der im Wohnzimmer auf dem Sofa sass. Es war ein völlig anderes Gesicht als jenes von Harmsen, das er aus den Akten kannte. Ein Arzt hatte den Mann bereits untersucht und war zur vorläufigen Diagnose einer schwersten Intelligenzminderung gelangt, wie sie durch Krankheit oder Unfall eintreten kann. Er konnte zwar sprechen, doch nur bruchstückhaft und machte einen desorientierten Eindruck. In der Befragung konnte er weder seinen Namen sagen, noch was für ein Tag heute war.
«Im Keller hat es einen Operationsraum, den Sie sich ansehen sollten», bemerkte einer der beiden Polizisten, welche als Erste vor Ort waren, zu Oberhänsli.
Im Raum roch es stark nach Desinfektionsmittel. Der PC, welcher eingeschaltet auf dem Schreibtisch stand, zeigte ein Bild von dem Mann, welchen sie oben vorfanden, neben dem entstellten Gesicht des Anwalts. Harmsen musste sich neben sein Opfer gelegt haben, um die Aufnahme zu machen, dabei zeigte er einen zynischen Gesichtsausdruck.
Oberhänsli legte die „Akte Harmsen“ definitiv in das Ausgangsfach für das Archiv. Dass er es war, der die beiden Opfer malträtiert hatte, daran bestand kein Zweifel. Der Verdacht, dass Harmsen selbst zum Opfer eines andern Täters wurde, jemand den Ermittlungen der Polizei zuvorgekommen war, liess sich nicht erhärten. Der Kommissar hatte zwar einen vagen Verdacht überprüft, doch das Alibi dieser Person zeigte keine nennenswerte Lücken. Fälle, in denen Fragen offenblieben, mochte er an sich nicht, doch da Harmsen das Handwerk endgültig gelegt war, gab er sich damit zufrieden. Vielleicht gibt es doch eine höhere Gerechtigkeit, welche die Möglichkeiten der Natur nutzt, um in solchen Fällen selektierend einzugreifen, dachte er selbstzufrieden.
«Hässlich seid ihr. Hässlich», diese Worte murmelte Harmsen ab und zu vor sich hin. Die Mitpatienten in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik blickte er dabei nicht an. Deren Gesichter waren mehr oder weniger ausgeprägt von ihren Krankheiten gezeichnet. Apathisch wirkend sass Harmsen auf einem Stuhl. Die beständige Unruhe im Gemeinschaftsraum, durch Einzelne aufrechterhalten, prallte an ihm ab. Dementgegen rannten in seinem Kopf die Gedanken beständig gegen die schwarze Wand an, als wüssten sie, dahinter war mehr gewesen. Es blieb ein hoffnungsloses Unterfangen, kein Gedankengang, der sich auf Dauer fassen liess. Kein Stück Erinnerung, die sich ihm erschloss. Nur das dumpfe Bewusstsein, er war mit Hässlichkeit umgeben.