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Rotthausen, 3. Mai 2004
Eine Alternativwelt-Geschichte
»Du kanntest Markus doch, oder?«
»Nicht sehr gut.« Ich will nicht an ihn erinnert werden. Ein Kollege von früher hat immer gesagt: »Selbst schuld – kein Mitleid.« Und Markus ist selbst schuld an seinem Tod. Niemand hat ihn gezwungen, Soldat zu werden. Ich weiß auch nicht, warum ich hier auf dem Parkplatz am Revierpark stehe und mit Jürgen rede. Ich bin nicht aus Freundschaft zu dieser Verabredung gekommen. Eher aus Neugier. Deshalb: »Also, was willst du?«
»Veronika ist bei mir.«
Das ist eine Überraschung. Die Kleine hat es nicht verkraftet. Kein Wunder. Markus hat sie von ihrer Magersucht geheilt. Sagt sie jedenfalls immer. Seit er weg ist, geht es mit ihr wieder bergab. Zuerst hat sie jede Sendung aus dem Irak gegafft. Seit sie ihr gesagt haben, dass er bei einem Bombenanschlag getötet wurde, hat sie ihre Wohnung drüben in Katernberg fast nicht mehr verlassen.
»Ich hab ein ziemlich schlechtes Gewissen«, sagt Jürgen. Aha. Ob ich das Richtige denke?
»Spinnst du?«, frage ich, packe seine Schulter, zwinge ihn, mich anzusehen. Er weicht aus. Ich fixiere ihn. »Was hast du mit ihr gemacht?«
Jetzt sieht er mich doch an. Schuldig. »Komm mit, jemand muss ihr helfen.«
»Helfen. Ich.« Irgendwie bitter, aber ... na gut. Ich klettere auf den Beifahrersitz. Jürgen scheint ein Dankesgebet zu sprechen, bevor er ebenfalls einsteigt, den Wagen anlässt und losfährt.
Jürgen fängt immer von alleine an zu reden. Jedenfalls, wenn keine Musik läuft. Ich drücke den Knopf, mit einem Klick geht das Autoradio aus. Zwei Ampeln Schweigen. Dann redet er. Er hat sie angerufen, nur so. Gestern. Dann ist er einfach hin. Hat Alcopops mitgebracht, aber sie verträgt nicht viel. Hat sie überredet, tanzen zu gehen, sie solle nicht immer zuhause sitzen. Irgendwie ist sie dann wirklich mit. Hinterher sind sie dann zu ihm. Er hat sie gevögelt und jetzt weigert sie sich, wieder zu gehen. Oder sie kann es nicht. Oder sie ist einfach fertig.
Steeler Straße. Wir sind da.
Kaum stehe ich in Jürgens winzigem Zimmer, weiß ich Bescheid. Der Boden liegt voller Krempel, ich muss mir einen Weg zum Bett suchen. Da sitzt sie. Das Laken hängt halb raus, die Kissen durcheinander, dazwischen Veronika, bleich wie das Laken, strähnige Haare, nichts an, nur ein T-Shirt von Metallica. Es ist Jürgens. Sie hat sowas nicht.
»Hi«, fange ich an, aber sie starrt nur auf den Fernseher. Ich könnte ihn ausschalten, aber wenn sie auf der Intensivstation einen künstlich beatmen, zieht man auch nicht einfach den Stecker.
»Sie kommt nicht damit klar«, sagt Jürgen. Er steht da neben dem Fernseher, starrt auf den Boden, die Arme in die Seiten gestützt, als frage er sich, wer den ganzen Müll in seinem Zimmer abgeladen hat. »Halt die Klappe«, sage ich. »Mach mal nen Tee oder so.« Er wankt in die Küchenecke.
Der Fernseher zeigt den Kanzler. Er erzählt, dass unsere Soldaten im Irak eine wichtige Aufgabe erfüllen. Dass wir weiter an der Seite unserer amerikanischen Freunde stehen werden.
Veronika scheint es gar nicht wahrzunehmen. Ihre Finger spielen mit der Ecke eines Kissens. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Wo hat sie nur die Fernbedienung?
»Verfluchtes Arsch, dieser Stoiber«, murmle ich mit einer Geste zum Bildschirm.
»Hab ihn nicht gewählt«, sagt Jürgen und hantiert mit Tassen und Wasserkocher. Etwas mehr als die Hälfte hat ihn aber gewählt. War eine knappe Angelegenheit.
Sie zeigen eine Friedensdemo. »Stoiber weg«, steht auf einem Spruchband. Ich frage mich, welcher Sender das ist. Die meisten würden sowas nicht zeigen. »Spiel mit dem Feuer«, sagt der Innenminister immer über diese Demos und hebt den warnenden Zeigefinger.
»Sie wollen mir Rafael wegnehmen.«
Ich habe mich wohl verhört. Ich sehe Veronika an. »Was?«
»Erziehungsheim«, sagt sie so leise, dass ich es kaum verstehe.
»Warum?«
Sie antwortet nicht. Ich kann es mir denken. Das Sozialamt weiß ziemlich genau, was mit ihr los ist, die haben ja ihre Leute. Da hilft es auch nicht, dass der kleine Rafael meistens bei ihren Eltern ist. Vater gefallen im Irak, Mutter psychisch auffällig. Fernsehsucht, Apathie. Was weiß ich. Natürlich haben sie bürokratische Ausdrücke dafür, die irgendwie gefühllos klingen, hinter denen verstecken sie sich. Gefühllosigkeit ist bei denen Einstellungsvoraussetzung.
Der Teekocher brodelt und klickt, Jürgen gießt den Tee auf. Ich weiß nicht, ob er gehört hat, was Veronika gerade gesagt hat. Erst nehmen sie ihr den Mann weg, dann das Kind. Habe ich gerade noch »selbst schuld – kein Mitleid« gedacht?
Verdammt. Ja, er war überzeugt, das richtige zu tun. Friedenseinsatz. Klar wollen wir Frieden. Aber da sind welche, die einen anderen Frieden wollen. Und sie wissen, wie sie uns das mitteilen können. Indem sie unsere Leute in die Luft jagen. Und den Dom. Genau jetzt beratschlagen sie über neue Ziele.
Ich sitze hilflos da. Bis zur nächsten Wahl sind es noch zwei Jahre. Ich sehe Veronika an. Diesen Schaden kann keine neue Regierung reparieren. Niemand kann das. Ich auch nicht, aber ich versuche es wenigstens. Ich nehme sie in den Arm. Aber sie will nicht, zieht sich zurück.
Jürgen kommt mit dem Tee.
»Ich wollte ihr helfen«, sagt er und stellt die Tassen ab.
»Du wolltest sie ficken. Fühlst du dich scheiße?«, frage ich ihn. »Du fühlst dich noch nicht scheiße genug. Arschloch. Ich hoffe, dass dir der Schwanz abfault.«
»Ich wollte es aber«, sagt Veronika.
Jetzt reichts mir aber langsam. »Verdammte Scheiße, ihr wart besoffen, deshalb wolltest du das.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du verstehst das nicht«, sagt sie. »Wenn wir heiraten, kann ich Rafael behalten. Ich meine, wir.«
Jürgen fällt fast die Tasse aus der Hand. Papa spielen steht nicht auf seiner Liste.
Ich grinse. »Ich frage mich, was ich noch hier mache. Ihr habt einiges zu besprechen, glaube ich.« Ich nehme eine Schluck Tee. »Ich kann ja dann den Trauzeugen spielen.«
Jürgen gafft nur.
»Du willst ihr helfen?«, frage ich ihn. »Dann los.« Ich stehe auf. »Danke für den Tee.«