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Routine

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29.11.2014
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Routine

„Lass es bitte noch nicht zehn Uhr sein“, denkt Eva. Sie wirft widerwillig einen Blick auf das Ziffernblatt der Bahnhofsuhr. Neun Uhr achtundfünfzig. Eva dreht sich der Magen um. „Vielleicht hat es einen Unfall gegeben und der Zug fällt aus?“ Wieder ein nervöser Blick auf die Uhr. Neun Uhr neunundfünfzig. „Heute könnte ich Glück haben. Heute könnte es endlich anders sein. Für immer.“ Zehn Uhr. Eva zupft an ihrer Uniform herum, sie kann die Hände nicht still halten, wie jede Nacht zu dieser Zeit. Sie blickt in das Schwarz des Tunnels. Kein Zug in Sicht. In fiebriger Erwartung atmet sie auf. Sie hofft, dass sie nicht im Zug sein werden. Sie wird dann einen entspannten Abend vor sich haben, da die Anstürme von Menschenmassen, die nach Hause wollen, alle schon vorüber sind. Sie würde die Waggons ablaufen und die Fahrkarten der Passagiere kontrollieren. Nach diesem Zug ist es bloss noch ein weiterer, dann ist ihre Schicht bereits zu Ende und sie kann nach Hause in ihr warmes Bett. Ins warme Bett zu Stefan. In dessen Armen sie so viel besser einschlafen kann …
Plötzlich zerreisst ein fürchterliches Geheul die kühle Luft der Bahnhofshalle. Nur um diese Uhrzeit, bei diesem Zug, kommt Eva der vertraute Lärm des näherkommenden Gefährts wie ein schadenfrohes Gelächter vor. Ihr Herz bleibt einen Moment lang stehen. Der Zehnuhr-Zug rattert auf quietschenden Schienen in den Bahnhof, wird langsamer und hält schliesslich an, bevor sich die Türen mit einem Zischen öffnen. Beim Einsteigen spürt Eva Schweissperlen im Nacken.

Sie kontrolliert die Fahrscheine der Gäste und durchläuft so den Zug von hinten nach vorne. Wie immer, ohne grosse Zwischenfälle. Bloss ein schwarzfahrender Teenager und eine ältere Dame, die ihren Fahrschein vergessen hat. Ein ganz normaler Wochentag. Eva mag die Routine, sie verschafft ihrem nervösen Charakter etwas Ruhe. Deshalb übt sie ihren Job eigentlich auch gerne aus, da nur selten etwas Aussergewöhnliches passiert.
Nun steht sie vor der Durchgangstür des letzten Waggons, dem von ihr gefürchteten Sektor des Zuges. Eva kann zitternd vor Angst nur noch einen Gedanken fassen wie jede Nacht zu diesem Zeitpunkt: den Waggon schnellstmöglich wieder verlassen Mechanisch öffnet sie die Tür und betritt zögerlich das Zugabteil. Sie sieht ihre Befürchtungen bestätigt, als sie, an derselben Stelle wie immer, sofort das Pärchen erblickt. Kurz ärgert sie sich darüber, dass sie gehofft hat, es könnte heute anders sein. Sie hätte es wissen müssen. Sie hätte es wirklich wissen müssen. Sie läuft den Gang entlang, dem Pärchen entgegen, ohne zu diesem hinzuschauen und kontrolliert die Fahrkarte eines älteren Herrn. Ansonsten sind nur noch sie im Waggon. Erst als sie nur noch wenige Schritte von den beiden entfernt ist, sieht sie hin, so wie sie es jede Nacht tut. Die blonde Frau schläft in seinem Arm, welchen er beschützend um sie gelegt hat. An diesem Arm ist deswegen der Pullover etwas nach oben gerutscht, so dass sie auf seinem Handgelenk eine kleine Narbe sehen kann. Eva fragt sich, was die beiden vor der Zugfahrt zusammen getan haben, obwohl sie sich darüber im Klaren ist, dass sie es nicht erfahren wird. Er braucht die Blondine, er kann nicht ohne sie, das weiss sie. Das weiss sie schon sehr lange. Sie geht an dem Pärchen vorbei, ohne nach den Fahrkarten zu fragen, denn sie ist sich sicher, dass sie welche haben. Er schaut Eva mit einem vertrauten Blick in die Augen und lächelt. Sie hofft, dass er etwas sagen wird. Vergebens, wie jede Nacht.
Am Ende des Waggons kann sich Eva kaum mehr auf den Füssen halten. Ein heftiger, doch ihr wohlbekannter Schmerz, zieht ihr die Brust zusammen. Die Sprechanlage kündet die Endstation an und sobald sie aussteigt und die frische Nachtluft spürt, verschwindet der Schmerz sofort wieder, so wie es jede Nacht passiert. Sie dreht sich nicht um, um nach dem Pärchen zu schauen. Ihr kommt der Gedanke, Stefan zu verlassen. Jedes Mal, wenn sie zu diesem Zeitpunkt den Bahnsteig entlangläuft, kommt ihr dieser Gedanke. Früher war es ein sehr starker Gedanke. Jetzt ist er nur noch da. Wenn sie Stefan nicht mehr hat, worauf soll sie sich dann freuen?
Nun muss sie noch einen Zug durcharbeiten, bevor sie nach Hause gehen kann. Bevor sie endlich zu Stefan kann. Das typische Geheul kündigt ihren nächsten Zug an. Diesmal tönt es für sie wie ein ermutigender, langer Pfiff. Ein Verkünder einer besseren Zeit. Unbeschwert steigt sie ein, denn sie weiss: Es dauert fast noch einen ganzen Tag, bis die Bahnhofsuhr wieder die gefürchtete zehnte Stunde schlagen wird. Sie wird fast einen ganzen Tag Zeit haben. Dass sie wieder Angst haben wird, ist ihr jetzt schon klar, doch das macht nichts, denn im Moment ist es vorbei. Das ist alles, was für sie zählt. Seit zehn Jahren ist das für Eva alles, was zählt.

Im letzten Zug waren nur wenige Passagiere. Alle waren freundlich und hatten gültige Fahrkarten vorzuweisen. Evas Arbeitstag ist vorbei. Sie will nur noch ins Bett. Zu Stefan. Sie denkt nicht mehr an das Pärchen. Früher war das noch nicht so, sie konnte jeweils für eine lange Zeit an nichts anderes mehr denken. Doch der immer selbe Trott machte es erträglich. Die Gewohnheit ist Evas tröstlicher Gefährte geworden, der in jeder Nacht mit ihr in den Zug einsteigt. Sie ist müde und verspürt eine beruhigende innere Ausgeglichenheit. Es war wieder so wie gestern und vorgestern und am Tag davor … Die Routine überrollt das Leben ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen und macht alles gleich.
Erschöpft aber glücklich kommt sie nach Hause und legt sich ins Bett zu Stefan, welcher schon schläft, als sie ankommt. Wie jede Nacht. Er wacht auf und schenkt ihr ein Lächeln, dann küsst er sie lang und innig, bevor er sie in den Arm nimmt und wieder einschläft. Eva lächelt auch und schmiegt sich dankbar an ihn. Ihre Beziehung hält schon so lange … Kurz bevor sie einschläft, dreht sie ihren Kopf von ihm weg und küsst Stefans Arm. Sie küsst sein Handgelenk, spürt die Narbe an ihren Lippen und weiss, dass alles seinen gewohnten Lauf nehmen wird.

 
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Lieber Knoboter

Bloss um das nochmals klar zu stellen: Ich wollte nicht herablassend gegenüber dir oder bernadette oder sonst jemandem sein. Gut, dass du das auch nicht so verstanden hast :) Ich bin froh um deine Kritik!!

dass ich mich beim Schlüsselsatz der Geschichte (dem ersten Auftauchen der Narbe) so sehr an deinem Zeitwechsel gerieben habe (den ich immer noch komisch finde)
Ich verstehe nicht ganz, weshalb du dich so sehr an dem Zeitwechsel reibst. Ich hab die Vergangenheit gewählt um zu zeigen, dass Stefan seinen Arm um sie gelegt hat, schon bevor Eva die beiden sieht und dass der Pulli auch schon zuvor heraufgerutscht ist. Sind ja beides punktuelle Ereignisse.
Oder seh ich da was falsch?

Ist halt eine schwierige Balance, gerade bei einem Text wie deinem, der ja davon lebt, dass du ein Stück weit eine falsche Fährte streust.
Würd ich so unterschreiben.

Danke dir, Knoboter :)


Hey joboe

Warum geht sie von hinten nach vorne durch den Zug? Ich fände andersherum besser, da Du auch vom letzten Waggon sprichst. Es ist momentan nur ihr letzter Waggon.
Ja das meinte ich auch. Das es der letzte Waggon ist, den sie "durcharbeiten" muss. Natürlich könnte ich es so ändern, wie du es vorschlägst, damit es auch noch der letzte Waggon des Zuges ist.

Sie könnte ja auch was sagen oder zwinkern, zumal die Blondine schläft.
Sie hat nichts mehr zu sagen. Das ist für sie eine schreckliche Situation und sie weiss, dass sich nichts daran ändern wird.

Vielleicht könntest du zehn Uhr abends schreiben?
Ja könnte ich. Aber spielt das eine grosse Rolle? Ich mag halt das Bild der Nacht mehr, als das des Abends :D Ist zehn Uhr technisch gesehen noch Abend oder schon Nacht?

Der Satz "Seit zehn Jahren ist das für Eva alles, was zählt." meint, dass für Eva der befreiende Moment nach der Begegnung im Zug mehr ist, als die Beziehung zu Stefan. Willst Du das wirklich so sagen?
Für Eva ist in dieser Situation, welche jeden Tag stattfindet, alles was zählt, dass sie vorbei ist. Ich wollte damit nicht sagen, dass es alles ist, was für sie in ihrem ganzen Leben zählt.

Auch dir danke für die Anregungen!


Hey bernadette

Was veranlasst einen Ehemann jedesmal, wenn seine Ehefrau als Schaffnerin Dienst hat, mit seiner Geliebten genau in dem Zug zu sitzen? Und das 10 Jahre lang? Das ist doch nur krank.
Das kann rein praktische Gründe haben. Dieser Zug ist für den Heimweg unumgehbar. Um diese Uhrzeit geht Stefan nach Hause. Wenns zehn Jahre lang funktioniert, wieso nicht damit weitermachen? Natürlich könnte man es anders machen. Die meisten würden es auch anders machen. Doch vielleicht halt nicht jeder. Dass das krank ist, ist schon möglich.

Danke dir für den Kommentar.


Hey Anakreon

Das Stück liest sich linear mit geringem Wellengang, angereichert mit einem Gag – mehr ist die Sache mit der Narbe nicht, da solche Dinge in Geschichten allenfalls nebenbei als Indiz auftreten. Kriterien, welche einen Stoff zur Geschichte machen, sind hier für mein Empfinden kaum ausgeprägt (Spannung), anderes nicht wirklich (Wandlung) vorhanden.

Das Thema einer Dreiecksgeschichte auf eine solche Kürze herab zu brechen ist ein schwieriges Unterfangen. Dass Du Dich daran wagtest, spricht für Dich.


Ich denke, dass du recht hast. Die Geschichte müsste länger und ausführlicher sein, dann würde es vermutlich auch weniger Missverständnisse gegeben haben.

Das Stück liest sich linear mit geringem Wellengang
Könntest du das etwas präzisieren? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das genau verstehe. Du meinst, dass Spannung und eine Wandlung fehlen? Was ist eine Wandlung genau? Eine Veränderung des Charakters oder der Handlung?

Vielleicht ist es Ungeduld, die Dich antrieb, es in dieser Form vorzulegen. Wenn eine Geschichte nicht rein unter dem Vorzeichen Fantasie steht, sollte sich die Wirklichkeit durchgehend spürbar spiegeln und vor diesem Hintergrund verblüffen. Dass dies bestmöglich gelingt, erfordert Geduld und sich die Zeit zu nehmen, es auch selbstkritisch und gut recherchiert auszufeilen.

Ich nehme mir das zu Herzen. Dein Kommentar hilft mir sehr, denke ich.

Vielen Dank, Anakreon


Hey Tell

Eventuell ist es zu wenig Beschreibung der Außenwelt, weil mir nicht ganz klar ist: Warum Tunnel? U-Bahn-Hof - da war mir das zu wenig, um mir die Szene richtig vorzustellen.
Das kann sein. Liegt dann vor allem auch an der unpassenden Kürze der Geschichte.

Eva steigt ein, kontrolliert die Fahrkarten, dann kommt die Endstation. Sehe ich das richtig, dass der Zug in der Zwischenzeit weiterfährt?
Ja, das siehst du richtig. Hätte ich vielleicht beschreiben sollen. Für mich als täglicher Zugfahrer, der somit auch oft mit Fahrscheinkontrolleuren in Kontakt kommt, war das klar.

WARUM setzt sie sich dem aus? WAS bewegt sie dazu, es so stoisch zu ertragen? Du schreibst einerseits, sie ist ein nervöser Typ, aber andererseits kann sie das dann so passiv über sich ergehen lassen? Das erscheint mir nicht so ganz stimmig, bzw. damit es rund wird, fehlt noch was.
Mein Anliegen war es, einen bestimmten Umgang mit einem Problem zu beschreiben, der ungewöhnlich ist, aber funktioniert. Für Eva funktioniert das Leben im Grossen und Ganzen. Ihr Schmerz wird gelindert, solange er Bestandteil eines sich wiederholenden Musters ist. Die Gewohnheit hilft Eva zu leben. Das Problem ist damit zwar nicht gelöst, doch Eva kann damit leben. Die wenigsten, ich übrigens auch nicht, würden so handeln wie sie. Das heisst aber nicht, dass niemand sich für diese Handlung entscheiden kann. Sie lässt das Ganze nur äusserlich passiv über sich ergehen. Im Inneren spürt sie den Schmerz und weiss dabei sogar noch, dass diese Situation jeden Tag wiederkehren wird. Sie entscheidet sich jedoch bewusst gegen eine Aussprache mit Stefan.

Mit dem nervösen Charakter hast du recht.

Denn in meiner Vorstellung muss jemand schon sehr neurotisch sein oder komplexbeladen, um da mitzumachen.
Da liegst du überhaupt nicht falsch, wenn du Eva so einschätzst. Wieso kann sie das denn nicht sein?

Danke für deine Zeit und deinen Kommentar Tell

 

Hallo Alex,

Ich meine gar nicht, dass das nicht sein kann, dass Eva äußerlich so duldsam, innerlich so unruhig ist. ;) Aber auch, wenn man dem Leser Platz für Eigenspekulationen lässt, braucht er gewisse Hinweise, um Verbindungen zu ziehen.
Ich weiß, als Autor ist es ein schmaler Grad zwischen zu viel schreiben und damit alles "zerreden" oder zu wenig und damit auf Unverständnis zu stoßen.

An dem, was du da eben geschrieben hast (das Motiv und die Dynamik von Evas Welt) ist wunderbar durchdacht, komplex und hat "Schwung". Mir - und das ist mein persönliches Empfinden beim Lesen - hat eben etwas gefehlt, um genau noch da drauf zu kommen.
Diese innerlich aufgelöste Person, die aber auf diese eigentlich pathologische Weise an dem festhält, was sie hat. Dass sie einerseits Routine braucht und ihr andererseits Routine hilft, mit so etwas "Annormalem" wie dem Doppelleben ihres Freundes umzugehen. Mit deiner Erklärung wird es klar bzw. klarer.
Aber mit der Geschichte alleine kam ich nicht so ganz auf den Trichter (was auch an mir liegen mag), aber dir als Autor fällt vielleicht noch etwas ein, um deine Intention klarer, aber immer noch im Stil der Geschichte zu verstärken.
Eben solche dünnen Fäden (wenn ich einmal bildlich sprechen darf) die diese Evas (innere und äußere) miteinander verweben und so auch plastisch lassen.

Lg

 

Tagchen AlexK

Also ich muss sagen, dass ich deine Geschichte irgendwie anders gelesen habe als die meisten. Für mich war Stefan nicht derjenige, der im Zug saß. Ich sah es so, dass die Protagonistin das Pärchen nicht sehen möchte, weil - und das steht ja auch im Text - er sie braucht. Er hat eine Narbe und hat quasi seine "Retterin" im Arm. Die Protagonistin sieht, dass der Mann im Zug glücklich ist mit seiner Blondine im Arm. Er hat seine Selbstmordgedanken hinter sich gelassen, weil er nun - in ihr - einen neuen Sinn im Leben gefunden hat. Nun denkt sie darüber nach, ihren Mann zu verlassen. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht auch die Routine? Egal. Jedenfalls hat ihr Mann auch eine Narbe. So wie der Mann im Zug. Doch die Protagonistin fühlt sich nicht länger von ihrem Ehemann gebraucht. Evtl war sie ja auch seine Retterin, doch nun musste sie feststellen, dass die Routine auch ihre Beziehung übernommen hat und ihr Mann, obwohl er einst selbstmordgefährdet war, es nicht mehr ist und er mittlerweile auch problemlos ein Leben ohne sie leben könnte, ohne von ihr gerettet zu werden.
Für mich beneidet sie das Pärchen im Zug und erträgt deren Anblick nicht, weil sie meint, dass ihre eigene Beziehung früher ähnlich war, aber heute nichts mehr davon übrig ist.

Keine Ahnung, ob das Sinn ergibt, aber so wie ich die Geschichte verstanden habe, hat sie mir ganz gut gefallen.

lg, zash.

 

Hallo AlexK

Das Stück liest sich linear mit geringem Wellengang​
Könntest du das etwas präzisieren? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das genau verstehe. Du meinst, dass Spannung und eine Wandlung fehlen? Was ist eine Wandlung genau? Eine Veränderung des Charakters oder der Handlung?

Eine Geschichte bedarf einer Transformation, um für eine solche die ihr wesentliche Charakteristika zu erlangen. Der Beginn einer Geschichte schafft in der Regel die Ausgangssituation, die Eckdaten von der die Handlung wegführt. Mit der Transformation (Wandlung) verändert sich die Situation für den oder die Protagonisten, es treten Komponenten auf, welche die ursprüngliche Ausgangslage vielleicht gar verkehren. Die Lösung muss den Wandel dann als wesentlich aufscheinen lassen.
Fehlt ein solcher Wandel, wird es leicht zu einer rein linearen Abfolge von Ereignissen und weist sich schnell mal eher als Essay, Aufsatz o. ä.

Die Wandlung kann sich also desgleichen in der Veränderung des Charakters oder der Handlung zeigen, nicht selten ist auch beides eingeschlossen. Da der menschliche Charakter über die Gene vererbt als auch durch die Umwelt geprägt wird, und mit der Sozialisation eine grundlegende Formung erhält, ist es durchaus so, dass tiefschürfende Erfahrungen in der Lebensspanne an Charakteranteilen noch Änderungen bewirken können. – In der vorliegenden Situation Deiner Protagonistin musste ein solcher Wandel mit grosser Wahrscheinlichkeit eingetreten sein, lange bevor die erzählende Handlung beginnt, was für eine Geschichte, will sie diese Gattung denn sein, ein absolutes Handicap wird. Lösbar wäre m. E. eine solche Gegebenheit nur, wenn ein erneuter Wandel eintritt.

Mit geringem Wellengang meinte ich eben die Spannung für den Leser. Du hast sehr wohl einige gute Elemente dafür gesetzt, dass diese aufkommen sollte, indem Du etwa zu Beginn ihr Bangen einbringst. Dann wurde es trotz der Handlung zu monoton, da der Leser bis am Schluss hingehalten wurde, was wirklich ihre desaströse Gefühlslage auslöst. Hier wäre ein auf- und abschwellen von Spannung ein tragendes Element gewesen, ohne die Lösung vorwegzunehmen. Mit diesem Wellengang tun sich allerdings viele Autoren schwer, diese Balance beim Schreiben einzuhalten. Doch ist es dies, was für Leser insbesondere auch das Faszinierende an einer Geschichte bildet.

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Dir die Bedeutung der Wandlung für eine Geschichte verständlich zu machen. Unter den Rubriken Kritiker und Autoren hat es einige Artikel, die sich mit solchen Themen auseinandersetzen. Allerdings kenne ich auch nicht alle, aber das eine oder andere könnte diesbezüglich auch hilfreich sein.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo AlexK,

so, das ist anscheinend mal wieder eine Geschichte, die die Gemüter hochkochen lässt. Nach einmaligem Lesen kann ich nur eins sagen: ich habe sie auch nicht verstanden. Ich dachte auch, dass der Mann im Zug ihr Ex-Mann ist, dem sie noch hinterhertrauert. Und Deine Antworten auf die Kommentare fand ich ziemlich frech.
Obwohl es mich nervt, wenn man Geschichten mehrmals lesen muss, um sie zu verstehen, hab ich sie noch einmal gelesen, mit besonderem Augenmerk auf "die Narbe". Okay, ich hab`s dann kapiert. Besonders reell erscheint mir das Ganze trotzdem nicht, also von wegen mitten aus dem Leben gegriffen oder so. Natürlich gibt es die verrücktesten Formen von Beziehungen, diese hier scheint mir sehr unrealistisch.
Eva ist anscheinend eine rückgratlose Masochistin ohne Spur von Stolz und Stefan ein eiskalter Bigamist. Von der Geliebten, die das seit 10 Jahren mitmacht, wollen wir erst gar nicht reden. Dass Eva dann seit Jahren diesen Zug kontrolliert, in dem der Ehemann aus unerfindlichen Gründen mit seiner Geliebten hockt, ist genau so unlogisch wie die Tatsache, dass sie deswegen jeden Abend um 21:58 die Krise kriegt. Sorry, das nehme ich niemandem ab.

Stilistisch finde ich das Ganze recht ordentlich. Teilweise ist es mir aber auch zu dick aufgetragen

könnte ich Glück haben und sie sind nicht im Zugabteil. Heute könnte es endlich anders sein. / Sie hofft, dass sie nicht im Zug sein werden. /
doppeltgemoppelt

dass sie gehofft hat, es könnte heute anders sein. Sie hätte es wissen müssen. Sie hätte es wirklich wissen müssen.
das Fettgedruckte würde ich ganz herausnehmen.

Der Plot ist ganz interessant, doch für mich einfach nicht nachvollziehbar.

Gruß Kerkyra

 
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Ich verstehe nicht ganz, weshalb du dich so sehr an dem Zeitwechsel reibst. Ich hab die Vergangenheit gewählt um zu zeigen, dass Stefan seinen Arm um sie gelegt hat, schon bevor Eva die beiden sieht und dass der Pulli auch schon zuvor heraufgerutscht ist. Sind ja beides punktuelle Ereignisse.
Oder seh ich da was falsch?

Es ist die Formulierung im Satz mit der Narbe, die für mich nicht passt. Du schreibst:

Die blonde Frau schläft in seinem Arm, welchen er beschützend um sie gelegt hat.

Mit dem Satz habe ich kein Problem, außer vielleicht das "welchen" ("den" würde meiner Meinung nach reichen und flüssiger klingen). Zeitform ist völlig nachvollziehbar. Und dann:

An diesem Arm war deswegen der Pullover etwas nach oben gerutscht, so dass auf seinem Handgelenk eine kleine Narbe sichtbar ist.

Würdest du "der Pullover IST hochgerutscht, so dass sie die/eine kleine Narbe an seinem Handgelenk sehen kann" (o.ä.) schreiben, würde sich das für mich besser lesen als die Version mit "war". Die Implikation würde ja die selbe bleiben - dass der Pullover nicht magisch hochrutscht als sie gerade hinguckt ist trotzdem klar. Sonst würdest du ja "Der Pullover rutscht nach oben, so dass eine kleine Narbe zu sehen ist" schreiben.
"War hochgerutscht" klingt für mich so, als wäre er irgendwann mal hochgerutscht gewesen und dann wieder runter. Oder so.

Ich hoffe jetzt verstehst du was ich meine. Ist ja an sich nur ein kurzer Satz, aber wie gesagt, der hat mich etwas rausgeworfen.

 

Hey Tell

Ich weiß, als Autor ist es ein schmaler Grad zwischen zu viel schreiben und damit alles "zerreden" oder zu wenig und damit auf Unverständnis zu stoßen.
Das habe ich nicht geschafft und genau das ist das grosse Problem des Textes. Ich versuche, dass ab jetzt besser zu machen.

An dem, was du da eben geschrieben hast (das Motiv und die Dynamik von Evas Welt) ist wunderbar durchdacht, komplex und hat "Schwung".
Es freut mich, dass dir meine Idee gefällt, auch wenns an der Ausführung gehappert hat.


Hey zash

Keine Ahnung, ob das Sinn ergibt, aber so wie ich die Geschichte verstanden habe, hat sie mir ganz gut gefallen.
Ist doch toll. wenn dir die Geschichte Vergnügen bereitet hat. Das war zwar nicht meine vorgesehene Interpretation, was eben wieder zeigt, dass die Geschichte zu unklar geschrieben ist, doch dass sie dir gefallen hat, ist ja auch was :)


Hey Anakreon

Vielen Dank. Weiss es echt zu schätzen, dass du dir die Zeit nimmst, um mir das zu erklären.

In der vorliegenden Situation Deiner Protagonistin musste ein solcher Wandel mit grosser Wahrscheinlichkeit eingetreten sein, lange bevor die erzählende Handlung beginnt, was für eine Geschichte, will sie diese Gattung denn sein, ein absolutes Handicap wird.
Das ist so. Tendiere fast immer dazu, die Wandlung vor der erzählenden Handlung stattfinden zu lassen. Scheint nicht so gut zu sein ...

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Dir die Bedeutung der Wandlung für eine Geschichte verständlich zu machen. Unter den Rubriken Kritiker und Autoren hat es einige Artikel, die sich mit solchen Themen auseinandersetzen.
Ja, denke dass ich's kappiert hab. Hoffe, dass ich es schaffe, die Theorie umzusetzen. Werd mir die Artikel anschauen.


Hey Kerkyra

Und Deine Antworten auf die Kommentare fand ich ziemlich frech.
Ich hab den falschen Ton erwischt, das tut mir leid.

Besonders reell erscheint mir das Ganze trotzdem nicht, also von wegen mitten aus dem Leben gegriffen oder so. Natürlich gibt es die verrücktesten Formen von Beziehungen, diese hier scheint mir sehr unrealistisch.
Mit dem Tag "Alltag" wollte ich nicht anzeigen, dass die Geschichte realistisch und mitten aus dem Leben gegriffen sein soll. Sie soll aussergewöhnlich sein und auch auf Unverständnis stossen. Auch ist es nicht mein Anliegen, Eva zur Identifikationsperson zu machen. Man darf sie ruhig unsympathisch oder auch blöd finden. Ich hab bloss "Alltag" als Tag benutzt, da es sich um Evas Alltag handelt.

Stilistisch finde ich das Ganze recht ordentlich. Teilweise ist es mir aber auch zu dick aufgetragen
Danke für die Hinweise. Beim zweiten Hinweis, verstehe ich nicht genau, weshalb. Diese beiden von dir fett markierten Sätze sind zwar nicht notwendig, doch sie verleihen doch einen gewissen Nachdruck, der meiner Meinung nach passt? Was meinst du?


Hey Knoboter

Würdest du "der Pullover IST hochgerutscht, so dass sie die/eine kleine Narbe an seinem Handgelenk sehen kann" (o.ä.) schreiben, würde sich das für mich besser lesen als die Version mit "war".
Danke. wird geändert :)


Danke euch allen! :)
Lg Alex

 

Die Routine überrollt das Leben ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen und macht alles gleich.

Ja, der zwote Text innerhalb weniger Tage, der vom Immergleichen und dem Leben als Kreislauf erzählt (der andere Text ist Reikis blaues Zimmer) und auch Deiner,
*
lieber AlexK -

herzlich willkommen hierorts! -
Dein Text ist außergewöhnlich. Einerseits, weil Routine ähnlich wie’s Ritual den meisten Menschen notwendig ist (ständige Änderung ist ihnen ein Gräuel, ängstigt sogar), andererseits die Verbindung mit dem öffentlichen Verkehr. Ich weiß nun nicht, ob Du die Bahn bewusst oder eher zufällig gewählt hast, denn tatsächlich stammt das Wort Routine (i. S. der Übung, Erfahrung, Fertigkeit, Gewandtheit) von der Route ab, dem Reiseweg/der Marschrichtung, dass Routine auch als Wegerfahrung definiert werden kann.

Paar Hinweise:

„Lass es bitte noch nicht zehn Uhr sein“, denkt sich Eva.
Warum das Reflexivpronomen?
„Lass es bitte noch nicht zehn Uhr sein“, denkt […] Eva
… Bahnhofsuhr. Neun Uhr Achtundfünfzig.
Ne Marotte – nachdem gerade die Uhrzeit korrekt geschrieben stand? I, d, R,. klein, auch die Minuten, sofern nicht am Satzanfang: z, B, *„acht Uhr acht“. (kommt nochmals vor, musstu mal schau’n)
„Vielleicht hat es einen Unfall gegeben und der Zug fällt aus.“
Klingt das nicht eher wie eine Frage?

Und hier

Eva kann zitternd vor Angst nur noch einen Gedanken fassen wie jede Nacht zu diesem Zeitpunkt: den Waggon schnellstmöglich wieder verlassen.
Will’s mir eher ein stummer Aufschei zu sein!

Warum hier am Anfang Konjunktiv und zum Schluss Indikativ („sind“)?

Sie würde dann einen entspannten Abend vor sich haben, da die Anstürme von Menschenmassen, die nach Hause wollen, alle schon vorüber sind.

Warum hier die Substantivierung des Adjektivs, das doch offensichtlich Attribut von „Zug“ ist?
Nach diesem Zug ist es bloss noch ein Weiterer, …

So viel oder wenig für heute!

Gern gelesen vom

Friedel

 

Lieber Friedel

Zuerst einmal Kompliment an deine Art und Weise, Kommentare zu schreiben! Die les' ich zum Teil lieber als die Geschichte, worunter sie stehen!

Ich weiß nun nicht, ob Du die Bahn bewusst oder eher zufällig gewählt hast, denn tatsächlich stammt das Wort Routine (i. S. der Übung, Erfahrung, Fertigkeit, Gewandtheit) von der Route ab, dem Reiseweg/der Marschrichtung, dass Routine auch als Wegerfahrung definiert werden kann.
Das ist in der Tat bewusst gewählt :D

Danke für die Verbesserungen. Leuchten mir alle ein. Nur bei einer wäre ich froh, wenn du sie etwas mehr ausführen könntest:

Warum hier am Anfang Konjunktiv und zum Schluss Indikativ („sind“)?

Meine Überlegung:
Konjunktiv am Anfang: Weil sie bloss einen entspannten Abend haben würde, falls das Pärchen nicht im Zug wäre. Der Eintreten des entspannten Abends ist also von der Anwesenheit/Abwesenheit des Pärchens abhängig.
Indikativ am Schluss: Weil die Menschenmasse bereits vorbei sind und zwar unabhängig von irgendeinem Ereignis.

Soll das "würde" oder "sind" geändert werden? Wäre froh, wenn du mir das erklären könntest.

Freut mich, dass du meine Geschichte gern gelesen hast!

Beste Grüsse
Alex

 

Danke für die Verbesserungen. Leuchten mir alle ein. Nur bei einer wäre ich froh, wenn du sie etwas mehr ausführen könntest:
[gemeint ist dieser Satz]
Sie würde dann einen entspannten Abend vor sich haben, da die Anstürme von Menschenmassen, die nach Hause wollen, alle schon vorüber sind.
Warum hier am Anfang Konjunktiv und zum Schluss Indikativ („sind“)? Meine Überlegung:
Konjunktiv am Anfang: Weil sie bloss einen entspannten Abend haben würde, falls das Pärchen nicht im Zug wäre. Der Eintreten des entspannten Abends ist also von der Anwesenheit/Abwesenheit des Pärchens abhängig.
Indikativ am Schluss: Weil die Menschenmasse bereits vorbei sind und zwar unabhängig von irgendeinem Ereignis.

Soll das "würde" oder "sind" geändert werden? Wäre froh, wenn du mir das erklären könntest.

"Sind" zöge ich vor,

lieber AlexK,

weil die würde-Konstruktion zugleich in die Zukunft weist und zugleich hoffen lässt, dass die andern Menschen(massen) dann hoffentlich schon weg wären. Der erste Teil weist über den zwoten hinaus, der aber auch eine (halt) nähere Zukunft/Möglichkeit beschreibt. Die erste Hälfte des Satzes ist gewisser als die zwote, denn theoretische könnte es immer noch Menschen/massen am Bahnhof geben ... Es sei denn, er schlösse in der Nacht, was hierorts (BeErDe) m. W. vielleicht am Bahnhof Scharzfeld geschehen kann.

Gruß

Friedel,
der hofft, dass er nicht nur kryptisch schreibt!

 

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