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Scheiße und ein bißchen Glück

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15.07.2001
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Scheiße und ein bißchen Glück

Das Rad drehte sich. Immer schneller. Zahlen und Buchstaben verwandelten sich in einen bunten Brei. Sah man lange genug hin, konnte einem geradezu schwindlig werden.
Die Kandidatin war unendlich nervös. Schweißige Hände hatten dunkle Flecken auf ihrer hellen Hose hinterlassen. Keine gute Idee, sie ausgerechnet dort abzuwischen. Allmählich verlangsamte sich die große Scheibe in der Mitte. Die Spannung stieg. Erste Zeichen waren wieder zu erkennen. Da, 1000, 200 - wo würde es stehenbleiben? Sie schloß die Augen. Biss fest die Zähne zusammen. „Hoffentlich, hoffentlich...“ Bei 500 rastete es ein. Der Mann neben ihr wurde kreidebleich. Noch bleicher. Wo hörte der gestärkte Hemdkragen auf und wo fing sein Gesicht an? Es war schwer zu unterscheiden. Mit viel Phantasie konnte man eine Trennlinie ausmachen. Seine Hosen waren zu kurz. Ein Stück Bein lugte hervor. Weiß mit schwarzen Haaren. Weiß wie Zahnpasta.
„Scheiße“, murmelte er, „wehe, wenn die rosa Zicke auch diese Runde gewinnt. Dann hat sie fast ganz gewonnen.“ „K“, sagte die rosa Zicke. Sie trug eine pinke Bluse mit goldenen Comicmäusen. „Ein „K“ wählen Sie? Haben Sie gehört, meine Damen und Herren, unsere Annette nimmt ein „K“!“, verkündete der Moderator in einer Weise, als wäre er soeben vom Berg Sinai gestiegen. Aus dem Nichts kam eine adrette Blondine angwirbelt. Einer Eisprinzessin gleich tänzelte sie auf die Bühne und wartete, ob ein Lichtlein blinken würde. Ein Lächeln, breit und unnatürlich, starrte in die Runde. Es schien wie eingemeiselt. Wollte einfach nicht verschwinden. „Na dann schauen wir doch ‘mal, wie viele „K‘s“ es gibt. Tine, walte Deines Amtes.“ Gönnerisch schnippste der Moderator Tine zu. Sofort machte sie sich daran, die drei leuchtenden Täfelchen umzudrehen. „‘Nen geilen Arsch hat sie schon. Irgendwann muß ich die noch flachlegen.“ Unbewußt befeuchtete sich der Moderator seine Lippen. „Scheiße. Sie kommt über 3500 Punkte. Jetzt ist es aus.“ Der Mann mit den Zahnpastabeinen griff sich an den Kopf. Umsonst. Da war nichts, was man sich hätte raufen können.
Der dritte Spieler reckte sich. Auf den Zehenspitzen stehend, versuchte er einen Blick auf die bunte Scheibe zu werfen. Dumm, wenn man so klein ist. Es kostete ihn einige Mühe. Aber irgendwie schaffte er es. Er lag nur 100 Punkte hinten. Zufrieden stocherte er in seiner Nase. Selbst überrascht von dem überdimensionalen Fund, mußte er noch ein wenig gedreht werden. Nach genauer Inspektion von Form, Farbe und Konsistenz, wurde er diskret an das Kandiatenpult geschmiert. Links gekuckt, rechts gekuckt - keiner hat‘s gesehen. Glück gehabt.
Aber halt. Eine verflixte Kamera hatte es eingefangen. Eine halbe Millionen Zuschauer würden diese Aktion in Nahaufnahme bewundern können.
Schweißperlem bahnten sich einen Weg durch Makeup und Puder. Millimeterdicke Schwerstarbeit. Doch Wasser ist hartnäckig. Die Tropfen sammelten sich am Kinn. Zwei, drei, dann ging es weiter, den Hals hinab. Verklebte Poren schrien nach Luft.
Brauchst dich gar nicht wundern, wenn du mit fünfzig ‘nen Gesicht hast, wie eine Rosine.
Nervös pfriemelte sie an ihrem Damenbart. Ihr Gehirn arbeitete. Der Blick wanderte die Täfelchen auf und ab. Was sollte das nur heißen? Konsonanten waren alle erraten. Bloß die Vokale fehlten. „Ich kaufe ein „E“.“ Kein Licht leuchtete. Raunen im Publikum. „Ja sowas, haben Sie das gehört, meine Damen und Herren? Ein Wort ganz ohne „E“. Das hat es in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr gegeben.“ Der Moderator klatschte in die Hände. Und sie ärgerte sich schön. 400 Mark aus dem Fenster geschmissen. „Kein „E“. So ein langes Wort, und kein „E“.“ Unglaublich. Beim nächsten Kaffeeklatsch würde sie einiges zu erzählen haben. „Kein einziges „E“. Verzweifelt faßte sie sich an die Birne.
Herr Zahnpastabein feixte. Mit einem kräftigen Ruck setzte er das Rad in Bewegung. Zahlen. Viele Zahlen mit vielen Nullen spiegelten sich in seinen Augen. Geld! Der dritte Kandidat, der sich immer auf die Zehenspitzen stellen mußte, kratzte sich unter der Achsel. Unbewußt und teilnahmslos. Wie das juckte! Ein Stück Seife hätte an dieser Stelle Wunder bewirkt. Warum hatte ihm das nie jemand gesagt?
„1000!“, kreischte der Moderator. Tatsächlich: eine Eins mit drei Nullen. Am hellichten Tag. Sachen gab‘s. Einen Buchstaben brauchte er. Grübeln. „X“, posaunte der Kandidat. Der Moderator starrte ihn an, als hätte er ihm gerade in den Popo gezwickt. „X?“, wiederholte er langsam. Nun, wem nicht zu helfen ist. Dann soll er sein „x“ haben. Hauptsache die Show war bald vorbei. Er mußte Tine flachlegen. Am liebsten hätte er sich sofort auf sie gestürzt.
Nichts rührte sich. Tine ließ die Mundwinkeln hängen. Mitleidig schaute sie den glücklosen Kandidaten an und zuckte mit den Schultern. Ein „ooooh“ schwappte durch das Publikum. „So ein Scheiße“, war das einzige, was ihm dazu einfiel. Die große Chance - verpasst.
Warum regte er sich auf? Er hatte schon weitaus größere Chancen verpasst, ohne daß es ihm aufgefallen wäre. Hätte er sein Potential genutzt, hätte er das hier nicht nötig gehabt. Ein bißchen nachgedacht. Anlagen gepflegt und Begabungen daraus entwickelt. Das war „Scheiße“. Nicht dieses lächerliche „x“.
Der nächste Spieler war an der Reihe. Die Scheibe knatterte. Seine Unterlippe bibberte im Takt dazu. Bankrott. Die Miene rutschte ihm in die Hose. Bankrott. Kein Zeifel, die Buchstaben waren echt. Sie grinsten ihn an, lachten ihn aus. Bankrott. Das war sein Schicksal. Tod durch den Strang. Ein dicker Brocken wuchs in seiner Kehle. Nein, bitte nicht heulen. Nicht vor den ganzen Leuten.
„Wie Schade. Da hat unser Walter wirklich Pech gehabt. Das tut mir leid.“ Es tat ihm leid. Hihi, Scherzbold. Man konnte es ihm nicht verübeln. Seine Gedanken kreisten woanders. Eine Weile mußte er noch warten, bis er endlich zum Zug kam.
Zwischendrin eine Werbeunterbrechung. Dann das Finale. Am Ende gewann Annette. Ziemlich knapp. Voller Stolz posierte sie für die Kamera vor ihren Preisen: Staubsauger, Waschmaschine, ein Kaffeeservice mit so schreckliche Dekor, das einem schlecht wurde, wenn man zu lange hinsah. Annette freute sich. Ein kleiner Moment des Glücks, bevor sie zu ihrem prügelndem Ehemann und den drei plärrenden Kindern in die enge Zweizimmerwohnung zurückkehrte.
Wieder Werbung. Talk. Werbung. Sendung. Werbung. Kurznachrichten. Werbung. Spiel. Werbung. Fi. Werbung. Lm. Werbung. Com. Werbung. Edy. Werbung. Wer. Werbung. Bung. Werbung. Dann von Vorne. Die übliche Praxis. Im Spätprogramm werden die Sendungen vom Nachmittag wiederholt. Fiel den meisten nicht auf.

 

Schöne Darstellung des Mediums Fernsehen.
Da kommt die allgemeine Sinnlosigkeit irgendwie rüber finde ich. Und die Verblödung der Zuschauer :)
Erschreckend, nicht?

 

:cool:

Das Glücksrad läßt grüßen. Naja, wir hams nicht anders verdient. Die letzten Schranken sind zwar noch nicht gefallen, aber das kommt noch. Irgendwann wird es den "Running Man" geben.

Heiko

 

Eine sehr amüsante Geschichte. Die auch erschreckend ist, weil es ja wirklich so ist, wenn man sich solche Sendungen anschaut. Und sich Kandidaten blamieren. Ich schau mir nur öfters Wer wird Millionär? an, auf RTL, aber eigentlich auch nur wegen dem G. Jauch. :) Sein Witz gefällt mir und es wird niemand vorgeführt und man kann etwas mitraten.
Glücksrad habe ich zuletzt wohl so vor 10 Jahren mal gesehen. Ich habe in einem Cinema-Interview mit Oliver Kalkofe gelesen, das ärgste was er sah war folgendes: Der Begriff hieß "Nachwuchsmannschaft" und alle Buchstaben bis auf das U waren bereits aufgedeckt. Irgend ein Knallkopf ist dran, überlegt ellenlang und rät dann: "NachwIchsmannschaft?". :D :D

Aber zurück zum Text: Mir gefiel auch das ordinäre Element, wenn der Moderator seine "Assistentin" nur möglichst rasch beglücken möchte (na, wer wollte das bei Maren damals nicht???).
Grundsätzlich habe ich nix gegen "doofe" Shows, aber ich mag es nicht, wenn Moderatoren so herablassend zu Kandidaten sind, wenn doch eh offensichtlich ist, dass diese aufgrund der Nervosität Blödsinn reden oder ihren eigenen Namen vergessen.

@ Morphin Mit "Running Man" kann ich dir nicht dienen, aber mit meiner Kurzgeschichte "Unter Marsmenschen" im SF-Forum. Lass dich vom Titel nicht täuschen! Es geht auch um eine Show. Ziemlich makaber, aber ich sage euch, so was wird kommen!!! Und ich sollte mir echt mal die Rechte dran sichern lassen...

 

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