Schlafende Hunde soll man nicht wecken
»Wach auf, alte Schlafmütze!« Onkel Dolfie lag wie tot auf unserer Ledereckcouch. Er zeigte zunächst keine Reaktion auf meine Worte. Schleimige, mit Speiseresten versehene Körperflüssigkeit lief ihm langsam aus dem Mundwinkel heraus. Neben seinem leicht bläulich verfärbten Kopf, bildete sich schon eine kleine Pfütze. Der kleine Finger seiner rechten Hand stand ungewöhnlich weit nach hinten ab. Allem Anschein nach hatte der in Morpheus´ Armen ruhende ihn sich heute Nacht irgendwie ausgekugelt. Während ich selbigen in gebührendem Abstand nach weiteren Blessuren absuchte, kehrte langsam Leben in ihn zurück. Mehrmals versuchte er, begleitet von schmatzenden, schlürfenden Geräuschen, den herausgelaufenen Speichelfaden wieder in sich einzusaugen. Dabei machte er eine Schnute, die einer Schildkröte glich. Die dadurch erhöhte Sauerstoffzufuhr musste seine letzten Gehirnwindungen erreicht haben, welche infolge dessen ihre Arbeit aufnahmen. Nun sah er mich mit seinen gelblich verklebten Augen an. »Tolle Brille haste da auf, ist die selbstgeschnitzt?«, fragte er vergnügt. Blödmann, dachte ich. Kaum von den Toten auferstanden, schon wieder doofe Sprüche ablassen.
In jeder Familie gibt es eine aufreibende, anstrengende humanoide Lebensform. Unsere hieß Onkel Adolf. Sein Kosename Dolfie war lediglich der verzweifelte Versuch einer Verniedlichung, so als würde man die Pest als kleines Wehwehchen bezeichnen. Allein seine zu erwartende Anwesenheit ließ mich bei zirka dreißig Grad Celsius frösteln, und meine jüngeren Geschwister versteckten sich bei den ersten Anzeichen seiner Ankunft an den unglaublichsten Orten. Einmal zwängte sich mein jüngster Bruder hinter meinen Alice-Cooper-Starschnitt, was diesem einen starken 3D-Effekt verlieh. Tja, wo Adolf aufkreuzte, half nur noch Flucht oder Resignation, denn dieser unablässig sprudelnde Quell der Weisheit wusste erstens alles, und zweitens alles besser. Diskussionen mit ihm waren zwecklos, da er sein unerschöpfliches Wissen, das er vorzugsweise aus einer sehr dünnen Tageszeitung bezog, skrupellos verdrehte. Half das nicht weiter, kommentierte er bildreich die Schwächen seines Gegners. Zwischenmenschliche Klippen dabei taktvoll zu umfahren, lag diesem Ausbund an unbekümmerter Geradlinigkeit nicht. Immer voll rein in die Fettnäpfchen und nur ja keines auslassen. Wen juckt´s?! Hah! Und außerdem gab es absolut nichts, was er nicht konnte. Ein Hansdampf in allen Bereichen des täglichen Lebens, ein Do-it-yourself-Man erster Güte.
Wir sollten uns eigentlich geehrt fühlen, den fähigsten Autodidakten des gesamten Universums zu unserer Verwandtschaft zählen zu dürfen (laut seiner bescheidenen Selbsteinschätzung).
»Was hast du heute Nacht denn alles angestellt? Wirf mal einen Blick auf deine Finger.« Onkel Dolfie nahm die entstellte Hand, um sich in eine sitzende Position zu befördern. Er legte sie unter seine linke Schulter und stützte sich ab. Ohne es zu bemerken, musste sich der Finger beim Aufrichten in seine ursprüngliche Lage gebracht haben. Blinzelnd, schaute er beide Hände an und kontrollierte sie.
»Was willste denn, ist doch alles oki-doki.« Zum Beweis hielt er seine flatternden Finger in meine Richtung und fügte mit schrägem Grinsen hinzu: »Allzeit bereit.«
Genervt drehte ich mich um und beschloss, ihn bis auf Weiteres zu ignorieren, da wurde meine Aufmerksamkeit auf ein Geräusch gelenkt. Die Wohnzimmertür ging auf, meine Schwester Luisa betrat den Raum.
»Es ist doch noch fertig geworden.« Sie lächelte mich an. Ein langes Kleid auf einem Bügel wie eine Standarte hoch haltend, bewegte sie sich auf mich zu. All meine Bemühungen, sie durch Grimassen und Zeichen zu warnen, waren vergeblich. Dolfie hatte sie bereits erspäht.
»Hey, Kleine! Was´n das für ´ne Fahne, hehe.« Auf jeden Fall besser als deine, dachte ich. Unvermittelt fror Luisa ihre Bewegung ein. Mit weinerlicher Mimik hauchte sie: »Das ist mein Abschlussballkleid.« Dann, fassungslos: »Du – hier?«
Der so freudig Begrüßte setzte an, aufzustehen, brach den Versuch jedoch abrupt ab. Er stöhnte, während seine selbstreparierte Hand in Zeitlupe zur rechten Schläfe wanderte. Mit gequältem Gesichtsausdruck jammerte er mich an. »Ich hab schlimme Migräne. Hol mir mal ein Aspirin.« Mein Mitleid mit ihm hielt sich in Grenzen. Was dieser Saufkopf als Migräne bezeichnete, war ein ausgewachsener Kater. »Ma wartet in der Küche auf dich. Die hat alles, was du brauchst.« Mein subtiler Hinweis auf Verweigerung von Unterstützung zeigte Wirkung. Unter Aufbietung sämtlicher Willens- und Körperkräfte gelang es ihm, auf die Beine zu kommen. Offenbar über Nacht eingerostet, stakste er wie ein Roboter auf Luisa zu. Im Vorbeigehen grabschte er nach dem Stoff des Kleides. »Klasse Fummel. Zieh doch mal an.« Luisas Blick sprach Bände. Mit eisiger Miene starrte sie ihm nach, bis er entschwunden war, erst dann fand sie die Sprache wieder. »Seit wann ist der da?« Ich überlegte. »Muss irgendwann heute nacht eingetrudelt sein. Wollte dir vorhin Bescheid sagen und hab´s dann vergessen.«
Weshalb Mutter ihren älteren Bruder immer wieder mit offenen Armen aufnahm, war uns ein Rätsel. Das ganze Jahr über ließ er sich nicht blicken, nur am Ende seiner quartalsbedingten Kneipentouren fand er den Weg in unser bescheidenes Heim. Vorzugsweise zu vorgerückter Stunde. Soll heißen, zwischen ein und drei Uhr früh. Dann beliebte Dolfie als schwer gezeichnetes Opfer einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Bier und Schnaps uns für ein paar Stunden mit seiner Person zu beehren.
»Hmh, was jetzt? Soll ich das Kleid nun anziehen, oder nicht?«, fragte Luisa unsicher.
»Ja, mach ihm die Freude. Kann ja nicht schaden.« Sie hatte dieses wunderschöne Kleid bei der Schneiderin kürzen lassen, um es ihrer geringen Körpergröße von einem Meter achtundfünfzig anzupassen. »Komm, ich helfe dir, dann geht´s schneller.«
Luisa sah nun aus, wie eine Prinzessin. Ihre roten Locken bildeten einen hübschen Kontrast zu den Grüntönen der seidenen Robe, die taillenabwärts leicht ausgestellt war. Die schwarzen Pumps, die sie momentan trug, passten farblich nicht zum Gesamtbild, würden jedoch bei dem Abschlussball nicht zum Einsatz kommen. Dafür waren goldfarbene Riemchenschuhe vorgesehen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf den Ball freue.« Ihre grünen Augen strahlten und sie drehte sich einmal im Kreis. »Doch, kann ich wohl«, entgegnete ich, »vorletztes Jahr ging es mir genauso.« Ach, war das schön gewesen! Ich gönnte Luisa ihre Vorfreude von ganzem Herzen. Robert, ihr Tanzpartner, und sie gaben das perfekte Paar ab. Meine neu erstandene Digi-Cam lag bereit, das denkwürdige Ereignis nächsten Freitag festzuhalten. Nur noch vier Tage ...
Mitten hinein in meine friedlichen Gedanken polterte Dolfie durch die Tür, eine Hand zur Faust geballt, mit der anderen am Gesäß kratzend. »Ich brauch was zum Runterspülen.« Mit einer vorwurfsvollen Kopfbewegung in Richtung Küche: »Die will mir Wasser andrehen.« Um sein Anliegen zu unterstreichen, öffnete er die Faust und hielt mir eine Tablette unter die Nase. Bevor ich mich in irgendeiner Weise äußern konnte, rauschte er, suchenden Blickes, an mir vorbei. Schnurstracks steuerte er auf ein Sideboard zu, schnappte sich ein dort deponiertes Tetrapack mit Saft von Blutorangen, öffnete es und ließ einen tüchtigen Schluck des Inhalts in seinem trinkfesten Schlund verschwinden. »Ah, schmeckt lecker! Ist aber zu viel Fruchtfleisch drin.« Mir stellte es bei diesem Anblick die Nackenhärchen auf. Na, da hat er aber Glück gehabt, dass die Stückchen noch nicht leben, krähte ein Teufelchen in meinem Kopf. Das jungfräuliche Vakuum der Verpackung war nämlich vor ungefähr drei Wochen von mir eigenhändig zerstört worden und damals war noch kein Fruchtfleisch drin. Rülpsend registrierte er das elfengleiche Wesen, das wie angewurzelt in meiner Nähe stand.
»Siehst verdammt gut aus, Mädel. Da muss ich doch gleich mal das Tanzbein mit dir schwingen.« Vor meinem geistigen Auge lief ein Film ab, dessen Hauptdarsteller, der übrigens starke Ähnlichkeit mit meinem Onkel aufwies, unter der kronleuchtergeschmückten Kuppel eines Tanzsaales Ginger Rogers bedrängte. Dolfie trug einen hellblauen Smoking, ein gelbes Rüschenhemd und die wenigen, dünnen Haare wie üblich mit Pomade quer über die Schädeldecke verlegt. Ich schüttelte mich, dann die Vision ab.
»Mach mal das Radio an!«, rief er mir zu. Hoch motiviert schob er Tisch und Sitzmöbel zur Seite, um Platz zu schaffen für seine Performance. Auch das kleine Schaukelpferd, das er uns Kindern vor Jahren vom Sperrmüll mitgebracht hatte, wurde kurzfristig umgesiedelt. Das Ding war eine Beleidigung fürs Auge, meiner Mutter jedoch als Antiquität untergejubelt worden. Wenn ich mich recht entsinne, hatte der edle Spender damals etwas von einem Frühwerk Tilman Riemenschneiders gebrabbelt. Mein Gott, was für ein Schwätzer ...
Die von mir aktivierte Sound-Station beschallte den Raum mit Hip-Hop-Klängen. Mein Onkel verzog angewidert das Gesicht. »Nicht dieses Affengetöse! Such mal was Normales.« Was seine Vorstellung von normaler Musik betraf, trennten uns Welten. Seine Präferenzen lagen breitgefächert in sogenannten Tanztee-Schuppen, wo er bis vor wenigen Jahren seinen Ambitionen frönte. Dort baggerte dieser verhinderte Fred Astair regelmäßig Damen an, indem er sich als Direktor des hiesigen Kohlekraftwerks vorstellte. Der mit potenziellen Partnerinnen stattfindende Briefwechsel endete jedoch spätestens dann, wenn sie herausfanden, dass der angebliche Direktor lediglich als Hausmeister fungierte. Die Vorspiegelung falscher Tatsachen mag in nicht unerheblichem Maß zu dem Briefkastensterben im Bereich der Ortschaft Veitsdübelsum beigetragen haben. Aber das ist nur eine unbewiesene Vermutung von mir.
Endlich fand ich einen Sender nach seinem Geschmack. Bei den skurrilen Tönen erbebten meine Gehörgänge, die Anspruchsvolleres gewohnt waren. Erfreut wackelte er auf die Blumenbank zu. Mir schwante Fürchterliches. Noch bevor ich ein Veto einlegen konnte, knipste er die einzige Blüte von Mutters sorgsam umhegter Orchideen-Rispe ab und steckte sich die Beute ins Knopfloch seines speckigen Jacketts. »Los geht´s. Ayayayiiii, Lambada!« Fordernd umschlang er Luisas Taille und begann, die Überrumpelte umherzuwirbeln. Aus gebührendem Abstand beobachtete ich das Geschehen. Es war furchtbar mit anzusehen, wie Luisa litt. Bei nahezu jeder Drehung gerieten sie ins Straucheln. Der wilde Rhythmus überforderte die Motorik des Möchtegern-Latinos, seine Füße waren eindeutig zu langsam für das vorgelegte Tempo. Er stolperte, versuchte noch, das Gleichgewicht zu halten und wäre in die Scheibe der Nussbaum-Vitrine gestürzt, hätte nicht Luisa das Schlimmste verhindert. Sie fing seinen Schwung ab, hebelte ihn mit einer gekonnten Rückwärtsbewegung auf die Sitzmöbel hinter sich, hatte jedoch dabei die Belastbarkeit der Bänder und Sehnen ihrer Beine überschätzt. Hässliches Krachen im Bereich des rechten Knöchels und ein beinahe zeitgleich Mark durchdringender Schrei verkündeten die Nicht-Teilnahme Luisas an dem bevorstehenden Fest. Sofort eilte ich zu ihr, stützte sie und rief nach unserer Mutter. Adolf guckte derweil wie ein Mondkalb und ging unvermittelt zur Tagesordnung über. »Auf den Schreck brauch´ ich erst mal ein Bier.« Nach drei Flaschen Anti-Schreck-Getränk begab er sich erneut in die mit Federkern unterlegte Horizontale.
Ma und ich brachten Luisa hierher, in die benachbarte Sportklinik St. Augustin. Uns ist nicht wohl bei dem Gedanken, den unberechenbaren König des Chaos` unbeaufsichtigt zu Hause zurück zu lassen, aber meine zwei Brüder sind bis achtzehn Uhr in der Schule vor ihm in Sicherheit, und Dad kämpft in Helsinki mit dem Jet-Lag. Also alles im grünen Bereich.
Die Warterei in der Notaufnahme nimmt kein Ende. Gelangweilt schaue ich zu einem der hohen Fenster hinaus, beobachte hin und wieder gähnend das bunte Treiben in den Straßen. Passanten jeder Couleur flanieren vorbei, Hunde kläffen, schnuppern hier, machen Haufen dort – echte Highlights fehlen. Erst als zwei Feuerwehrautos und ein Notarztwagen mit Tatütata und Blaulicht vorbeirasen, beißt sich ein widerwärtiges Szenario in meinem Oberstübchen fest: Ich sehe Dolfie, wie er von der Toilette unserer Wohnung ins Wohnzimmer torkelt, hinter dem Vorhang im Flur den längst vergessenen, verstaubten Chemie-Baukasten von mir wiederentdeckt, diesen öffnet, hinein greift ...
Mir wird übel, ich muss mich setzen.
Mit trockenem Mund und zitternden Fingern wähle ich unsere Festnetz-Nummer.
Die Leitung ist – tot.