Schlaflos
Die Stadt liegt unter einem grauen Nebelschleier. Meine Füße tragen mich ohne erkennbares Ziel durch die Gegend, vorbei an dreckigen Plattenbauten und eingestürzten Häusern. Überall lauert der Verfall: um mich herum und in mir drin. Menschen gehen an mir vorbei, jeder geht seinen Weg… doch wie sieht mein Weg aus? Ich weiß es nicht. Kalt klatscht mir der Nieselregen ins Gesicht, durchnässt mich, lässt mich erschauern. Durst. Müde. Schlaf. Wie Blitze zucken Gedankenfetzen durch mein Gehirn. Träge schleppe ich mich in den nächsten Supermarkt, kaufe mir ein paar Flaschen Bier und mach mich auf den Heimweg.
Während ich durch die Straßen schleiche, trinke ich die ersten zwei Flaschen Bier. Kühl rinnt das Gesöff meine Speiseröhre hinunter. Nach einer Weile erblicke ich in der Ferne meine Wohnung. Mühsam schleppe ich mich die Stufen hoch, schließe die Tür auf und betrete meine winzige Wohnung. Die Wohnungstür fällt lautstark ins Schloss. Es gibt keinen Grund leise zu sein, hier wartet nur die triste Einsamkeit auf mich. Ich ertaste den Lichtschalter zu meiner Rechten, fahles Licht durchflutet die Zweiraumwohnung und der Anblick meiner Wohnung lässt mich fast kotzen. Tapeten lösen sich allmählich von den nikotinvergilbten Wänden, die Möbel sind abgenutzt und kaum noch als solche zu erkennen. Langsam lasse ich mich auf mein Sofa fallen, trinke eine Flasche Bier, gefolgt von einer Zweiten, einer Dritten. Was ist schiefgegangen? frage ich mich, wann ging alles den Bach runter? Neben mir auf dem Sofa liegt ein altes Fotoalbum. Während ich darin blättere, wie fast jeden Tag, überkommt mich das altbekannte Gefühl der Trauer. Ich sehe mich selbst mit meiner Frau und unserem Sohn vor dem Brandenburger Tor. Ich sehe uns Eis essen, Fußball spielen, baden… ich sehe uns lachen. Glücklich. Ja, ich war mal glücklich. Doch die Erinnerungen an diese Zeit kommen mir irreal vor; sie gehören nicht zu meinem Leben, vollkommen unmöglich. Die alles umfassende Stille frisst sich in meinen Kopf, lässt mich kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Unaufhörlich zerrt etwas an meinem Bewusstsein, ein letztes Aufbäumen eines ansonsten reglosen Verstandes. Ich bin gefangen in meinem eigenen Körper. Doch wer, wenn nicht ich selbst, hat den Schlüssel?
Müde. Schlaf. Die Entscheidung ist gefallen, es gibt kein Zurück mehr. Wie in Zeitlupe bewege ich mich ins Badezimmer und sehe mein Spiegelbild im Badezimmerschränkchen. Ein fremder Mensch starrt mir entgegen, emotionslos, mit einem maskenhaften Gesichtsausdruck. Nachdem ich meine Hände den Schrank öffnen sehe, greife ich wie von geistesfremder Hand geleitet nach den Schlaftabletten, schließe den Schrank und schlurfe anschließend wieder in die Wohnstube.
Müde. Doch bald kann ich schlafen. Ein fast schon aufrichtiges Lächeln verzerrt meine Mundwinkel: Bald werde ich meine Familie wiedersehen können.