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Schneeweiß und blutrot
Täglich träumte ich von ihr, sah sie wieder vor mir liegen. Lächelnd und nackt, die Brustwarzen hart und die Haare nass. Wir waren damals gemeinsam am See gewesen und hatten uns im Gebüsch überall berührt. Als würden unsere Finger vom Körper des anderen angezogen wie Metalle von Magneten. Es war das erste Mal, dass ich eine Frau sah, ihren Körper richtig wahrnahm. Nicht wie in der siebten Klasse, als ich nach dem Sportunterricht um die Turnhalle schlich und durch das Fenster der Mädchenkabine lugte, um einen Blick auf entblößte Hintern zu erhaschen. Nein, diesmal spürte ich Sinas Atem auf meiner Haut, ihre Finger an meinem Glied und ich schloss die Augen und sagte: „Ich liebe dich.“
Sie lächelte. „Ich dich auch.“ Dann schlang sie die Arme um meinen Hals und presste ihr Gesicht an meine Brust und ich konnte ihre Haare riechen, während ich langsam in sie eindrang. Sie stöhnte leise, es war kaum mehr als ein langes Ausatmen, und sie sagte: „Lass mich nie mehr los, ja?“
Zwei Monate später war sie tot, erstickt an ihrem eigenen Erbrochenem nach einer Überdosis Koks.
Ihr Dealer war ein Asiate. Sina hatte mir von ihm erzählt und gesagt, er habe den besten Stoff der Stadt, richtige China-Cocktails. Sie wolle sich von ihm und den Drogen losreißen, aber so einfach sei das nicht. Sie stünde bei ihm in der Schuld. Drohungen, Schlägertypen, der ganze Mist. Ich wollte ihr helfen, aber sie sagte bloß, sie schaffe das schon, es reiche, wenn ich bei ihr bliebe. Jeden Tag sagte sie das und küsste mich danach lang und innig.
Drei Wochen nach der Beerdigung half ich Sinas Eltern dabei, ihr Zimmer aufzuräumen und ihre Habseligkeiten zu verstauen. Ihre Mutter weinte und der Vater versuchte, ihr Trost zu spenden; das Aufräumen überließen sie mir. Es störte mich nicht.
Ich betrachtete Sinas Schminktisch und ihre Poster von Rockbands über dem Bett, auf dem wir wenige Wochen zuvor noch miteinander geschlafen hatten. Ich lies mir Zeit, atmete tief durch, nahm einen Hauch ihres Parfüms wahr, der noch in der Luft lag. Das Logo von Metallica verschwamm hinter einem Schleier aus Tränen und ich legte mich auf den weichen Teppich. Sina hatte hier oft gesessen und gelernt und sich über ihre Dozenten beschwert. Ich schlug mit der Faust auf den Boden und Schmerz schoss durch meinen Arm. Der Schmerz verscheuchte die Gedanken an das, was nie mehr sein würde, und ich erhob mich.
In einer Schublade ihres Schreibtisches fand ich Bilder. Wir auf dem Rummelplatz, wir am See, wir auf dem Campus, Hand in Hand im sonnigen Gras. Und einen Zettel fand ich. Darauf stand eine Adresse. Gittergasse 12. Ich wusste einfach, dass dort der Asiate mit den Drogen lebte, der sich selbst Attila der Hunne nannte.
Ich klopfte an die weiße Tür und wartete. Über dem Klingelschild hing eine Glühbirne, die flackerte, als wollte sie mir in Morsecode mitteilen, dass ich lieber kehrtmachen sollte. Doch ich rührte mich nicht, konnte meine Finger in der Kälte kaum bewegen und meinen Atem gen Glühbirne schweben sehen. Ich vergrub die Hände in meinen Jackentaschen und stieß mit meiner Rechten gegen den kalten Stahl des Klappmessers.
Als ich gerade gehen wollte, um ein andermal wiederzukommen, rumpelte es hinter der Tür. Sie öffnete sich einen Spaltbreit und eine Frau musterte mich. Zerzauste, schwarze Haare fielen in ihre Stirn und die Türkette hing zwischen uns wie ein silbergrauer Wurm. Die Frau hatte Augenringe und ihr Lippenstift war verschmiert. Sie schniefte und fragte mit belegter Stimme: „Was?“
Ich räusperte mich und trat von einem Fuß auf den anderen. In der Ferne heulte die Sirene eines Krankenwagens.
„Alter, was willst du? Red schon, wird kalt.“
„Ich … also … Ist Attila da?“
Die Frau verengte die Augen. „Wer bist'n du?“
Halbwahrheiten waren die besten Lügen, also sagte ich: „Attila und ich, wir haben eine gemeinsame Freundin.“ Ich leckte mir die Lippen und kratzte mich am Hinterkopf, als hätte ich da fiese Mückenstiche. Das würde ein Junkie wohl auch tun, dachte ich. „Sie hat gesagt, er hat gute Sachen. Weißt schon.“
Die Frau stöhnte. „Ihr Penner geht mir langsam echt auf den Sack. Attila ist nicht hier, du Versager. Er ist auf dem Weihnachtsmarkt. Sucht sich da sicher 'ne neue Schlampe, die er ficken kann.“ Sie wischte sich Rotz von der Nasenspitze. „Ich lass ihn jedenfalls nicht mehr ran.“
Bevor ich etwas entgegnen konnte, knallte sie die Tür zu. Dann stand ich da wie ein kleiner Junge, der vor geschlossenen Pforten auf die Bescherung wartete. Nach einigen Sekunden drehte ich mich um und ging zur nächstgelegenen Haltestelle.
Während sich die Straßenbahn näherte, schwebten langsam die ersten Schneeflocken vom schwarzen Himmel.
Es roch nach Glühwein und Crêpes und Bratäpfeln. Dichtgedrängte Menschenmassen mühten sich durch die engen Gassen des Weihnachtsmarktes. Der Schneefall hatte zugenommen, und der Wind wurde ebenfalls stärker. Dicke Flocken wirbelten über den Köpfen der Marktbesucher umher wie Schwärme weißer Fliegen.
Ich quetschte mich durch die Warteschlange eines Glühweinstandes, hielt Ausschau nach Attila dem Hunnen, sah nur ein Meer aus Jacken und Schals und Mützen. Eine Frau lachte schrill, ein Kind jammerte, ein dicker Weihnachtsmann stand vor einer Bratwurstbude und bimmelte mit einer goldenen Glocke. „Ho, ho, ho“, rief er und ein Mädchen sah mit großen Augen zu ihm auf. Von einem Asiaten keine Spur.
Der Wind peitschte mir Schnee ins Gesicht. Ich neigte mich im Gegenwind leicht nach vorn und stapfte unbeirrt weiter, obwohl ich wusste, dass meine Chancen, Attila zu finden, äußerst gering waren. Ich wusste ja nicht mal, wie er aussah.
Der erste Asiate, den ich an diesem Abend sah, redete mit einer molligen Frau, die Lebkuchenherzen verkaufte. Ich tippte dem Mann auf die Schulter, und nachdem er sich zu mir umgedreht hatte, fragte ich: „Attila?“
Der Mann legte die Stirn in Falten und schüttelte bloß mit dem Kopf. Ich hob die Hand, entschuldigte mich für die Verwechslung und setzte meinen Weg fort.
Wie lange ich über den Weihnachtsmarkt irrte, konnte ich nicht genau sagen, aber als die Stände langsam geschlossen und die Gassen leerer wurden, musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, Attila heute nicht zu finden. Durchgefroren und müde ging ich zurück zur Straßenbahn und nahm mir vor, morgen erneut an die weiße Tür zu klopfen.
Zitternd stand ich neben dem Aushang, auf dem die Ankunftszeiten der Bahn standen, und befummelte das Klappmesser. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im glatten Stahl. Mein Bruder hatte mir das Messer gegeben, kurz bevor er nach Berlin gezogen war. Seitdem sah ich ihn nur noch an Feiertagen; aber er hatte mittlerweile eine eigene Familie gegründet, und Weihnachten würde er dies Jahr mit Frau und Kind in der Schweiz verbringen. Unwillkürlich grinste ich. Ich hatte meinen Bruder nur ein einziges Mal auf Skiern gesehen. Er hatte geflucht und getobt und war übersät gewesen mit blauen Flecken von den vielen Stürzen. Damals schwor er, nie wieder einen Skiurlaub zu machen. „Witzig, wie die richtige Frau einen verändern kann“, flüsterte ich dem Klappmesser zu, als wäre es ein Sprachrohr, das direkt ins Ohr meines Bruders mündete. Ich hoffte auf eine Antwort - mein Bruder wusste immer, was zu tun war -, aber natürlich erhielt ich keine.
Während ich auf die Bahn wartete, wurde das Schneegestöber stärker. Der Wind wehte Schnee vom Bahnsteig und wie Puderzucker stob es durch die Nacht und verschmolz mit der Finsternis. Ich presste die Lippen zusammen. Die Bahn würde sich gewiss verspäten.
Um die Zeit zu vertreiben, schob ich mit meinen Füßen den frischen Schnee zu einem Haufen zusammen, formte so einen kleinen Hügel. Ich fragte mich, ob das Koks, das Sina umgebracht hatte, ähnlich aussah. Mein Magen verkrampfte sich und ich stampfte auf den Haufen, wieder und wieder, bis nur meine Schuhabdrücke in der Schneedecke verblieben. Dann lauschte ich den leiser werdenden Stimmen der letzten Marktbesucher, dem Grölen der Studenten, die zu viel Glühwein gekippt hatten, dem Kichern der Frauen, die angetrunken nach Hause torkelten.
Wieder war mir nach Weinen zumute. Ich hatte Sina auf der Party eines gemeinsamen Freundes kennengelernt. Sie hatte mich angelächelt, wie mich noch nie eine Frau angelächelt hatte, und sie lachte über meine blöden Witze und lauschte gebannt meinem Gelaber über Geschichte, das ich damals im ersten Semester studierte. Sina hatte auch so mädchenhaft gekichert, als wir betrunken in den Nachtbus einstiegen und uns gegenseitig stützten, um nicht umzufallen.
„Haste mal Feuer?“ Die Stimme riss mich aus meinem Tagtraum. Ein schwarzhaariger Mann stand neben mir, er war ungefähr in meinem Alter.
„Hm?“, machte ich.
„Feuer“, wiederholte er und hob eine Zigarette. „Haste?“
Ich schüttelte mit dem Kopf. „Sorry, ich rauche nicht.“
„Gute Entscheidung.“ Er grinste und drehte sich weg.
Neben ihm stand eine blonde Frau. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, es wäre Sina und mein Wangen wurden warm und ich hörte Blut durch meine Ohren rauschen. Aber natürlich täuschte ich mich. Sie war kleiner als Sina, trug enge Jeans und eine teure Jacke und war stark geschminkt.
„Komm, gehen wir“, sagte der Mann.
„Muss das sein?“, fragte die Frau. Ihre Stimme klang piepsig und wehleidig, so als wäre es unter ihrer Würde, im Kalten nach Hause laufen zu müssen. „Können wir nicht die Bahn nehmen?“
Ich schmunzelte.
Der Mann sagte: „Ey, für zwei Stationen warte ich hier nicht noch ewig. Zu Fuß sind wir schneller, und das Wetter ist doch auch ganz nice.“
„Nice?“, fragte sie.
Er breitete die Arme aus. „Ich find’s jedenfalls schön. Weiße Weihnacht halt.“
Die Frau wandte sich abrupt ab und sagte: „Fick dich, Atti.“ Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht, als sie trotzig die Haltestelle verlies.
Ich lächelte nicht mehr.
„Nun sei doch nicht so“, sagte Attila und ging der Frau hinterher.
Ich wollte ihm folgen, doch ich konnte mich nicht rühren, wollte etwas sagen, doch mir fehlte die Kraft, gegen den Wind anzuschreien. Ich sah Attila und seiner Begleitung bloß nach, bis sie hinter einer Ecke verschwanden.
Schneeflocken legten sich auf meine Wangen und fühlten sich an wie die Berührungen kalter Fingerspitzen. Wieder dachte ich an Sina und den Sex am See, an ihre weiche Haut, ihre Küsse, ihr Lächeln. Dann stellte ich mir vor, wie Attila mit seiner neuen Freundin nach Hause ging und sie bei Kaminfeuer und Kerzenschein vögelte. Ich war mit Sina nie auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, könnte ihr nie mehr Geschenke unter den Tannenbaum legen. Alles nur wegen Attila und seinem China-Stoff; und der Typ flirtete rum, als wäre nie etwas passiert. Es fühlte sich so ungerecht an.
Ich zog die Kapuze meiner Jacke hoch und folgte Attilas Fußspuren.
In Fenstern leuchteten künstliche Weihnachtskerzen und grelle Sterne und kleine, mit Lichterketten behangene Tannenbäume. Laternen erhellten den Gehweg, ließen die Flocken, die vom Wind hin und her geblasen wurden, noch weißer erscheinen. Die Straßen waren verlassen. Der Kirchturmglocke läutete Mitternacht und Schnee knirschte unter meinen Schuhen, ansonsten war es still. Auf der Kreuzung vor mit sprang die Ampel auf Rot, aber kein Auto waren in Sicht.
Attila und die Frau überquerten die Straße und hielten sich an den Händen. Die Frau lachte. Attila hatte sie also wieder um den Finger gewickelt, und ich fragte mich, ob ihm das bei Sina auch gelungen war, immer wenn sie sich von den Drogen losreißen wollte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und folgte den beiden in eine enge Seitengasse.
Die Kapuze verbarg mein Gesicht fast vollständig. Mein eigener Schatten zeichnete sich auf der Schneedecke ab, und als der Kopf meiner Silhouette Attilas Fersen erreichte, rief ich: „Bleib stehen, Mörder.“
Attila drehte sich langsam zu mir um. Seine Haare waren ganz weiß, und dicke Flocken klebten an seinen Augenbrauen. „Wie haste mich genannt?“
Die Frau riss die Augen auf, als würde sie in die Scheinwerfer eines Busses blicken, der sie zu überrollen drohte.
„Mörder“, sagte ich. Ich umklammerte mein Klappmesser so stark, dass es wehtat. „Kennst du Sina?“
Attila zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist das deine Olle?“ Er sagte zu seiner Freundin: „Keine Ahnung, was der will. Ich schwöre, ich habe niemanden angerührt.“
Die Frau schnaubte bloß.
Ich sagte: „Sie war eine Kundin von dir. Du weißt schon, wovon ich spreche.“
Attila kratzte sich am Kinn. „Jetzt, wo du es erwähnst.“ Er grinste. „Das Blondchen, die Studierte.“ Er schnipste mehrmals mit den Fingern. „Hm, was war das noch. Ah, ja … Medizin, richtig?“ Er nickte. „Meine Medizin fand sie ganz gut, glaube ich.“
„Halt's Maul.“
„Sie war schon lange nicht mehr bei mir. Ist bestimmt schon vier Wochen her.“ Er legte den Kopf schief. „Ich hoffe, sie hat sich keinen Neuen gesucht.“
Meine Lippen fühlten sich trocken an und meine Glieder wurden schwer wie Blei. „Sie ist tot.“ Die Worte hallten durch die Gasse, und dann herrschte Schweigen. Nur der Wind heulte und peitschte mir weiter kalt ins Gesicht. Meine Augen tränten, aber ich wagte es nicht zu blinzeln, wollte Attila keine Sekunde aus dem Blick verlieren. „Überdosis.“
Die Frau sah betreten auf ihre Schuhe, und Attila presste die Lippen zusammen. „Sorry, Bro.“
„Spar dir das“, sagte ich. Ich deutete mit dem Zeigefinger auf seine Brust. „Du hast sie umgebracht.“
Attila schüttelte den Kopf. „Hör mal, was kann ich denn dafür, wenn sie nicht weiß, wie man mit dem Zeug umgehen muss, hm? Ich meine, wenn sich einer totsäuft, rufst du doch auch nicht bei Jim Beam an und beschimpfst die als Mörder, oder?“
Ich starrte in seine dunklen Augen und mahlte mit den Kiefern. Ich musste es zu Ende bringen, hier und jetzt. Für eine Umkehr war es zu spät. „Du hast sie mir genommen.“ Ich neigte mich nach vorn. „Jetzt wirst du dafür bezahlen.“ Bevor Attila etwas sagen konnte, stürmte ich auf ihn zu.
Die Frau quiekte, als ich ihn zu Boden riss, als wäre er ein Running Back vor dem Touchdown und ich der letzte Verteidiger.
Dann lagen wir beide im Schnee und schlugen aufeinander ein. Meine Fingerknöchel knallten gegen seine Wange, seine Faust grub sich in meinen Magen. Mir blieb die Luft weg, aber das hielt mich nicht davon ab, seiner Nase einen Kopfstoß zu verpassen. Sie knackte und Attila schrie auf und Blut sprudelte aus beiden Nasenlöchern. Dann schlug er mir gegen das Ohr, und ich hörte nur noch ein lautes Piepen und die Welt wurde etwas dunkler.
Wir rollten auf dem Boden umher, als wollten wir Schneeengel machen und mit dem Blut des anderen ein Gemälde auf die helle Leinwand unter uns malen. Attila hatte einen Cut unter dem rechten Auge, das langsam zuschwoll. Ich schmeckte Blut und spürte, wie meine Lippe dicker wurde. Attila rammte ein Knie in meine Rippen und etwas knackste. Die Frau schlug die Hände über den Kopf zusammen und kreischte: „Scheiße, scheiße. Hört doch auf damit.“
Nach einer weiteren Rolle gelang es mir, mich auf Attilas Brust zu setzen. Wehrlos lag er da, und ich rammte meinen Ellenbogen gegen seine Schläfe. Er grunzte und sein Kopf kippte zur Seite. Speichel rann aus seinem Mundwinkel und vermischte sich mit Blut. Dann griff ich in meine Jackentasche, zog das Messer heraus und ließ die Klinge hervorschnellen. „Jetzt lass ich dich ausbluten, du Sau.“
Er atmete schwer und versuchte, aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Ich hob die Hand, um das Messer in sein Auge zu rammen, als ich die Frau wimmern hörte. Ich hielt inne.
Mit nassen Haaren stand sie da. Ihr Mascara war verlaufen und schwarze Tränen rannen über ihr Gesicht. „Bitte.“ Sie schniefte und ihre Unterlippe bebte. „Bitte, töte ihn nicht.“
Ich öffnete den Mund, doch mir fielen keine Worte ein.
Die Frau sagte: „Vielleicht ist er ja ein Mörder.“ Sie zitterte, doch sie sah mir direkt in die Augen und ihre Stimme klang bestimmt. „Aber das heißt nicht, dass du auch so werden musst. Das würde deine Sina sicher nicht wollen.“
„Was weißt du schon?“, sagte ich, doch das Messer verharrte über Attilas Auge und meine Wut flaute ab, als hätte der Wind sie weggefegt.
Attila nutzte mein Zögern. Er packte meine Hand, verdrehte sie und richtete die Messerspitze auf meine Schulter. Mit aller Kraft streckte er die Arme aus, und der Stahl glitt durch meine Jacke und zerfetzte die Haut darunter. Ich spürte, wie der kalte Fremdkörper mein Fleisch zerschnitt und schrie auf, obwohl es nicht wehtat. Blut strömte heiß über meine Brust und tropfte auf den Boden. Ich kippte zur Seite.
Die Frau schrie und lief weg.
Attila erhob sich und blieb vor mir stehen. Er sah nicht wütend aus. „Das mit deiner Freundin tut mir echt leid, Mann.“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und presste es gegen seine blutige Nase. „Aber hör mir gut zu.“ Er ging in die Hocke und packte mich am Kragen. Langsam begann die Stichwunde zu schmerzen und ich biss die Zähne zusammen. Attila sagte: „Wenn ich dich nochmal sehe, dann bringe ich dich um, verstanden?“
Er stieß mich von sich, als wäre ich ein widerliches Insekt – mein Hinterkopf knallte hart auf den Boden –, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trat er mir zweimal in die Magengrube. Dann ließ er mich keuchend und blutend in der Gasse zurück.
Lange lag ich da und starrte in den Nachthimmel, während Flocken meinen Körper bedeckten und mein Blut in den Schnee sickerte. Mein Kopf brummte, in meinen Ohren piepte es und meine Schulter fühlte sich an, als würden sich tausend Käfer durch Fleisch und Knochen fressen. Doch trotz der Schmerzen fühlte ich mich besser als vor dem Kampf.
Langsam erhob ich mich. Das Messer steckte noch in mir. Ich zog es raus. Blutfäden hingen von der Klinge. Ich lächelte und lies das Messer zu Boden fallen. Dunkelrote Flecken bedeckten die Stelle, an der ich gelegen hatte. Ich spuckte Blut zwischen meine Füße und machte ich mach humpelnd auf den Weg nach Hause.
Ich dachte nicht mehr an Sina, nicht mehr an den Verlust. Die Schmerzen ließen all das nebensächlich erscheinen. Als ich an einem Schaufenster vorbeikam, blieb ich stehen. Ich spiegelte mich in dem Glas und erkannte den Mann kaum, der mich da angrinste, als hätte er den Verstand verloren. Das Gesicht war blutig und geschwollen und das Haar voller Dreck. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die kühle Luft, die über meine Wunden streichelte. Meine Gedanken waren klar, und ich fühlte mich wie eine Schlange nach dem Häuten. Stärker und gereinigt. „Wir sollten uns schnellstmöglich wieder häuten und unsere Gedanken reinigen, meinst du nicht?“, sagte ich und der Mann im Schaufenster nickte.
Während ich weiter die Straße entlanghumpelte, hörte es auf zu schneien.