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Schneewittchen?
Lautlos und unbemerkt brennt sich meine heiße Träne in den eiskalten Schnee.
Mit Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haar so schwarz wie Ebenholz, so sitze ich hier und friere.
All meine Schönheit ward mir stets zum Verhängnis im harten Kampf auf der Straße.
Wie oft waren meine Lippen nicht rot wie Blut, sondern Violet, wie die kleinen Veilchen, von deren wundervollen Geruch man lange schwärmen könnte. Einst fand ich eines, sog seinen Duft ein, verliebte mich in diese süße Verführung und nun gäbe ich alles darum noch einmal an einem solchen Blümlein zu riechen.
Doch das wird mir wohl verwährt bleiben. Ich bin nun fast sechzehn und das Leben hier wird immer härter. Ich bin nicht länger das süße, Mitleid erregende Kind, sonder nur noch ein dreckiges Straßenmädchen. Ein dreckiges Straßenmädchen wie tausend andere dreckige Straßenmädchen. Ich besitze nichts, als meinen dünnen Mantel, einen kleinen Kamm, den ich einst fand und meine wunderbaren ledernen Stiefel. Ich bin ungemein stolz auf sie. Es gibt hier kaum jemanden, der so gutes Schuhwerk trägt.
Freunde zu finden ist auf der Straße sehr schwer. Immer gibt es rechte Kämpfe um den besten Bettelplatz oder den besten Schlafplatz. Wahre Freundschaften sind rar.
Der einzige Mensch dem ich vertrauen kann ist mein Blutsbruder Franz. Franz und ich, wir uns geschworen immer füreinander da zu sein.
Wir brauchen uns gegenseitig. Ich brauche seinen Schutz vor der großen Welt, vor den Männern und den Straßenjungen, ich brauche seine einfühlsame Art, wie er mich berührt ohne mich zu ängstigen, ohne alte Erinnerungen zu wecken. Und er braucht mich, die ich ihm nachts den Kopf halte, ihm des Morgens sein güldenes Haar kämme und ihm eine Zuhörerin bin, wenn er von unserer Zukunft erzählt.
Franz ist ein schöner Junge, er ist sechzehn Jahre alt, sein lockiges goldblondes Haar fällt ihm über die Stirn und seine hellblauen Augen sind von einem zartblonden Wimpernkranz geschmückt. Doch er ist so mager und ständig krank. Mein lieber, lieber Franz. Seit etwa drei Woche hat er einen furchtbaren Husten. Er leidet so sehr und ich kann ihm nichts Gutes tun, als ihn, wenn er des Nachts einen Hustenanfall hat, zu stützen, ihm über sein zerzaustes Haar zu streichen und ihm beruhigende Worte zuzuraunen.
So sitze ich auch nun da. Franz liegt in meinen Armen und ich rede auf ihn ein.
Er schnappt nach Luft und lächelt gequält zu mir herüber.
Noch einmal schüttelt ihn der Husten, dann kann er allmählich wieder ruhig atmen. Er blickt erneut zu mir auf. Ich sehe ihn an, und erstarre. Aus seinem Mundwinkel rinnt ein feines Blutrinnsal.
Franz bemerkt meine Blicke und fährt sich mit der Hand über die Lippen. An seinen Finger klebt Blut. Einen Moment lang starrt er gebannt auf das Rot auf seiner Hand, dann grinst er mich an und meint mit ungewollt zittriger Stimme: „Sieh mal, wie schön, der rote Bluttropfen auf dem weißen Schnee, fast wie bei dem Märchen, welches du mir einst erzählt hast“. Er lacht.
Auch ich muss lächeln und habe schon fast vergessen, das mein lieber Bruder Blut spuckte...
Ich schmiege mich an ihn und genieße es seine warme Wange an der meinen zu spüren.
Nun bin ich es, der man gut zuredet. Mit seiner rauen Stimme flüstert Franz mir ins Ohr:
„Du weißt, dass ich immer für dich da sein werde?! Du bist meine Schwester und meine Liebe. Ich liebe dich über alles mein kleines Schwesterlein“. Behutsam küsst er mich auf Stirn und Wange. Er streicht über mein Gesicht und mein Haar und erzählt mir, wie es später sein wird. „Wir werden ein eigenes kleines Haus haben, wenn ich erst genug Geld habe um meine Lehre zu bezahlen und wir werden Brot mit Butter essen und...“, mein Kopf sinkt auf seine Schultern und ich schlafe ein.
Die Sonne ist kaum aufgegangen, da stupst er mich sanft an. Ich öffne verschlafen die Augen und über mir steht Franz mit einem kleinen Stückchen Kuchen. Ungläubig starre ich ihn an.
„Sogar besser als ein Butterbrot“, freut er sich.
Er bricht das Stück in Zwei und reicht mir die größere Hälfte. Gierig knabbere ich an dem harten Brocken. Ich schmecke den süßen Zucker und die guten Butter, die Hefe und das klein wenig Honig, das auf den Kuchen gestrichen wurde.
Als ich geendet habe, lecke ich mir genüsslich über die Lippen.
Gesättigt und gestärkt für den bevorstehenden Tag, greife ich in meine Tasche und ziehe meine kleinen Kamm heraus. Wie jeden Morgen striegle ich mein schwarzes Haar sorgfältig und winke dann Franz zu mir herüber. Es ist ein vertrautes Ritual: Ich kämme ihm sein wunderschönes goldenes Haar. Ich lasse es durch meine Finger gleiten, küsse ihn auf die Stirn.
Dann trennen sich unsere Wege.
Jeder Abschied ist so schmerzlich.
Ich gehe an meinen Bettelplatz, den ich mir so hart erkämpft habe, und sehe, ob schon Leute unterwegs sind.
Falls die Straßen leer sind, wandere ich durch di Stadt, durch kleine Arbeiten, die mir ein, zwei Pfennige einbringen. Manchmal laufe ich zu den Dirnen und leichten Mädchen und helfe ihnen, ihre Gemächer für die kommenden Besucher herzurichten. Schon oft haben mich die Männer angesprochen du mir viel Geld geboten, doch lieber stürbe ich, als mich von einem dieser Männer berühren zu lassen.
Niemand darf mich berühren und niemand darf mich unbekleidet sehen. Nie wieder soll ein Mann mich anfassen, nie wieder...
Nur mein lieber, lieber Franz darf mich streicheln und mich berühren. Ihm kann ich vertrauen, er kennt mein Geschichte, weiß um meine Angst.
Heute ist viel los auf dem Marktplatz. Ich knie mich nieder, streiche mein Haar aus dem Gesicht, reibe mir die Wangen mit etwas Spucke sauber, zupfe meinen zerfetzen Mantel zurecht und warte.
Sie gehen an mir vorüber. Die fetten reiche Frauen, in Pelz du Zobel, tun ,als ekelten sie sich vor mir, doch eigentlich stören sie sich an den Blicken ihrer fetten, reichen Männer, die an mir hängen bleiben.
Die Kirchenglocke läutete gerade zum Mittag, da sehe ich ihn auf mich zukommen. Er lächelt mich an, er strahlt, seine Augen glänzen. Er hat seinen Hände hinter dem Rücken. Dann fällt er vor mir auf die Knie und ich sehe ihn erwartungsvoll an.
Und was zaubert er da hinter dem Rücken hervor? Eine kleine violette Blume. So zart, so zerbrechlich, dass ich kaum wage sie zu berühren. Er hält sie mir entgegen. Ich kann es kaum fassen. Er lächelt. Dann schnappt er nach Luft, er verschluckt sich und bekommt einen seiner schrecklichen Anfälle. Er jappst und ich nehme ihn an der Hand. Streichle seinen Rücken. Nun kann er wieder atmen, ich sehe die Freude in seinen Augen und küsse ihn. Meine Lippen berühren die seinen, die alte Angst will wieder entflammen, doch ich halte ihr stand. Plötzlich schmecke ich Blut, ich erschrecke, will mich losreißen, doch ich bin stark. Ich löse meine Lippen von seinen und spüre die Tränen in meinen Augen. Freudentränen. Und auch er hat glasige Augen und sieht mich verträumt an. „Du weißt, dass ich dich liebe“.
Ich nicke und widme mich nun völlig meinem wunderbaren Geschenk. Ich rieche an ihm, will seinen Duft in mir aufnehmen. Schließe die Augen und es gibt nur noch mich und den Duft.
Und wieder trennen sich unsere Wege, er geht arbeiten, ich betteln.
„Hab keine Angst, bald wird alles gut“, raunt er mir zum Abschied zu.
Er ist nicht heimgekommen. Ich war alleine. Die ganze Nacht. Ich habe geweint, ich habe Angst gehabt- um ihn.
Er würde mich nie alleine lassen, nicht ohne Grund.
Ich renne, renne durch die engen Gassen und rufe ihn. Doch er antwortet nicht.
Da sehe ich dort vorne an einer Mauer eine Gestalt sitzen. Das blonde Haar glänzt im Licht der Sonne wie pures Gold, als leuchteten Sonne und Haar um die Wette.
Ich nähere mich dem Körper und in meinem Innersten breche ich schon zusammen.
Ich schaffe es noch bis zum ihm, sinke neben seinem Körper zu Boden, streiche über seine kalten Wangen. Sein weiches Harr. Festgetrocknetes Blut klebt an seinem Mundwinkel.
Aus meiner Manteltasche ziehe ich das kleine verwelkte Veilchen, als trauere es mit mir, lässt es den Kopf hängen. Ich rieche daran, mich an den Duft erinnernd. Und ich weine. Um meinen Bruder, der immer für mich da war, der mich liebte und den ich liebte und den ich brauchte und der mich brauchte.
Ich ziehe meinen Kamm aus der Manteltasche. Unser liebgewonnenes Ritual. Noch einmal kämme ich ihn, und küsse ihn auf die Stirn. D
ann muss ich husten. Der Anfall schüttelt meinen Körper, ich schnappe nach Luft, ich habe niemanden, der mir den Kopf halten kann. Ich beuge mich vorn über und pruste. Endlich kann ich wieder ruhiger atmen. Ich blicke zu Boden. Und da ist ein winziger roter Blutstropfen auf dem weißen Schnee und neben ihm brennt sich meine heiße Träne in den Schnee.
Wir werden uns bald wiedersehen, mein lieber, lieber Franz.