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Schnittstellen

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08.08.2002
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Schnittstellen

Draußen fährt die Straßenbahn vorbei. Dann wird es wieder still im Raum. Einzig das Pendel der Uhr ist in Bewegung. Die Wände starren sie an und schweigen. Sie stellt die Beine nebeneinander, streicht den grauen Rock glatt. In aufrechter, disziplinierter Körperhaltung sitzt sie am Esstisch im Wohnzimmer. Ab und zu seufzt sie und versteckt diesen kummervollen Laut tunlichst hinter einem gekünstelten Hüsteln, einem Räuspern wider die Schwäche. Sie legt die Hände in den Schoß, schaut zu wie sie sich berühren. Die Zeit tropft in die Einsamkeit, welche sie gern Unabhängigkeit nennt.

Sie steht auf, geht ans Fenster. Die Vorhänge sind vergilbt. Ihr einstiges Weiß ist längst von der Patina der Vergänglichkeit überzogen. Sie überprüft mit kontrollierendem Blick den Abstand der Falten. Ordnung ist ihr wichtig, gibt ihr Sicherheit. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spricht die Frau aus dem zweiten Stock mit einem Jungen. Warum sie bloß immerzu lächelt? Und der kleine bunte Hut den sie trägt, einfach grotesk. Frau Lampert schüttelt den Kopf und fischt einen verirrten Faden aus dem Vorhanggewebe. Sie selbst geht nicht gerne nach draußen, fühlt sich freier in der Enge des Raumes. Der Junge kommt nun, gefolgt von der lächelnden Frau, über die Straße. Seine braune Haut will irgendwie nicht zu dem nassen Novemberwetter passen. Er gehört wohl zu der schwangeren Flüchtlingsfrau welche letzten Monat die Mansardenwohnung bezogen hat. Einst lebten in diesem Haus nur Familien aus besseren Kreisen. Die Zeiten ändern sich.

Sie wendet sich vom Fenster ab und blickt sich um. Die Möbel sind aus dunklem Holz. Der wuchtige Sekretär ist blank poliert und nimmt einen Großteil des Zimmers ein. Eine graue Schreibunterlage aus Filz beherbergt der Größe nach sortiertes Schreibgerät. Ein dicker Teppich schluckt jeden Laut. Frau Lampert geht hinüber zum Kamin. Er ist kalt. Das auf dem Sims stehende Bild ihres verstorbenen Mannes erscheint ihr verschoben. Sie wischt mit einer hundertfach erprobten Handbewegung über den Bilderrahmen. Als könnte sie damit die Erinnerung an seine unzähligen Affären und sein ausschweifendes Leben, von dem sie stets ausgeschlossen war, wegwischen. Sie stellt das Bild zurück an seinen Platz, rechts an der Ecke, wo die Schatten am längsten sind. Er hatte es sich leicht gemacht, ist einfach eines Nachts an Herzversagen gestorben. Wie lange ist das nun her, 31 Jahre? Jung war sie damals und hatte gefroren in ihrem einzigen schwarzen Kleid und dem dünnen Jäckchen. Aber sie hatte es sich nicht anmerken lassen. Keiner sollte sehen, dass ihre Zähne aneinander schlugen vor Kälte, vor Angst. Sie verkaufte die Druckerei die er betrieben hatte, weit unter Wert, aber zusammen mit der Witwenpension fand sie ihr Auskommen und zog sich völlig zurück. Sie brauchte damals niemanden und so ist es geblieben.

Was für ein Radau dort draußen auf dem Gang. Sie besteht auf überschaubare Richtlinien. Eine davon besagt, dass sonntags Mittagsruhe zu herrschen hat. Wieder streicht sie den Rock glatt, setzt sich auf den Stuhl und konzentriert sich auf das Ticken der Uhr. Sie rückt ihre ohnedies korrekt sitzende schwarze Brille zurecht. Das Poltern und Klopfen an der Tür beunruhigt sie. Sie bekommt keinen Besuch, nie. Das Klopfen wird eindringlicher. Sie öffnet die Tür. Draußen steht eine schwarze, schwitzende Frau mit blassen Lippen. Ihre hochgewachsene Gestalt und ihr fülliger Leib ist in Unmengen orange und gelbfarbener Stoffbahnen gewickelt. Um ihre Oberschenkel ist der Stoff nass, klebt am Körper. „Baby“, flüstert sie mit rauer Stimme. „Baby“. Frau Lampert versteht nicht, will nicht verstehen. Sie ist angewidert von der Grelle der Farben und dem Schweiß. „Baby“ wiederholt die Frau. Hinter dem buntumhüllten Körper macht sich die Frau aus dem zweiten Stock bemerkbar. Resulut schiebt sie die junge Frau in die Wohnung. "Sie schafft es nicht mehr hinauf in die Mansarde", sagt sie zu Frau Lampert und führt die Schwangere durch die offenstehende Schlafzimmertür. Von der alten Dame gestützt legt sie sich auf das Bett und krümmt sich unter Schmerzen.

Jetzt hat Frau Lampert begriffen. Empört geht sie auf die bunte Frau zu und versucht sie aus dem Bett zu zerren. „Sind sie übergeschnappt? Verlassen sie sofort meine Wohnung! Am besten gleich das Land, den Kontinent, sie impertinente Person“. Ihre Lippen sind zusammengepresst und dünn wie ein Strich. Es scheint ihr unmöglich, was da passiert. „Mein Gott, sie wollen doch wohl nicht jetzt ein Kind bekommen – in meiner weißen Wäsche? Das geht nicht", gemahnt Frau Lampert mit schrillem Ton. Sie fühlt sich völlig überrumpelt und ihr Körper gibt erstmals seit Jahrzehnten eine Handbreit seiner starren Haltung auf. Beinahe hilflos blickt sie zu der Frau aus dem zweiten Stock. Doch diese nimmt ihre Einwände überhaupt nicht zur Kenntnis. „Haben sie Telefon?" , fragt sie stattdessen. Mit einer unwlligen Geste deutet Frau Lampert auf den Apparat. Nach einem kurzen Gespräch krempelt sich die Frau aus dem zweiten Stock die Ärmel hoch. „Holen sie Handtücher, heißes Wasser. Na los doch, stehen sie nicht wie angewurzelt da. Da hat es jemand schon sehr eilig.“ fordert sie Frau Lampert auf, die nun ihrem Blick folgt. Zwischen den muskulösen Beinen der jungen Frau ist ein dunkler Fleck sichtbar geworden, pelzig und verschmiert. Übelkeit steigt in Frau Lampert hoch. Sie verlässt das Zimmer.

„Jaja, ist ja alles gut.“ Mit dem Zipfel der Decke wischt die lächelnde Frau der Gebärenden den Schweiß von der Stirn und nimmt sie leise summend in den Arm. Die junge Frau schließt die Augen und gibt sich dem Singsang der alten Frau hin, lässt sich in die weiche Umarmung und auf die Erinnerungen ihrer Kindheit fallen. Sie sieht ihre Eltern wie sie das Land bestellen. Der Boden zu ihren Füßen trocknet aus. Risse durchziehen das Land. Eine Eidechse verschwindet in einem Spalt. Vater und Mutter zerfallen zu Staub. Ein Schmerz durchfährt sie. Sie blickt durch die brüchigen Reste ihrer Traumbilder hindurch. Vor ihr hantierten zwei betagte Frauen mit aufgelöstem Haar. Ein neuerlicher Schmerz nimmt ihr den Atem, etwas Glattes, Großes entgleitet ihrem Körper, hinterlässt ihren Geist in einer wunden, leeren Hülle.

„Da ist es. Mein Gott“, flüstert die Frau aus dem zweiten Stock. Ihr Lächeln ist einer angespannten Konzentration gewichen. Mit einem Aufbäumen ihres Körpers ermöglicht die schwarze Frau dem Kind die Enge des Leibes zu überwinden. Kraftvoll quillt es aus dem Schoß hervor, schreit anklagend gegen die schweigenden Wände. Frau Lampert beginnt zu zittern. Sie ist nicht gewappnet gegen dieses Ausmaß von Leben. Sie ringt um Luft, dann bricht völlig unvermittelt, mit einem lauten trockenen Schluchzer, ein jahrzehntelang aufgestauter Tränenstrom aus ihr hervor. Die Frau aus dem zweiten Stock kann sich nicht um sie kümmern. Schnell bindet sie die Nabelschnur ab, setzt einen mutigen Schnitt. Sie legt das kleine Mädchen seiner Mutter an die Brust. Dann sieht sie sich nach Frau Lampert um, die aufrecht und hölzern am Bettrand sitzt und mit zittrigen Händen ihren grauen Rock glattstreicht. Von der Straße her ist die Sirene eines Krankenwagens vernehmbar.

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Die Zeit tropft in die Einsamkeit, welche sie gern Unabhängigkeit nennt. Frau Lampert steht auf, geht ans Fenster. Die Vorhänge sind vergilbt. Ihr einstiges Weiß ist längst von der Patina der Vergänglichkeit überzogen. Sie überprüft mit kontrollierendem Blick den Abstand der Falten. Ordnung ist ihr wichtig, gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit.

Sie blickt durch den Raum, hinüber zu dem großen Schreibtisch. Sie geht hin und berührt wie abwesend die Stifte und Schreibfedern. Sie nimmt eine davon und rollt sie ein wenig von den anderen ab und wieder zurück. Dann dreht sie einen der Bleistifte quer zu den anderen und legt ihn wieder zurück. Sie öffnet langsam die große Lade unter der Schreibfläche. Mit einer langsamen, überlegten Bewegung streicht sie alle Schreibutensilien hinein. Dann nimmt sie ihren Mantel vom Haken und geht sich einen roten Hut kaufen.

 

Liebe Susi!

So, nachdem ich wunderbare Stunden in die Natur eingetaucht bin, habe ich energiegeladen (fast) alle deine Korrekturen berücksichtigt. Danke für die viele Mühe die du dir da gemacht hast, vor allem mit den Beistrichen.
Dass du die Geschichte gerne gelesen hast, freut mich sehr.

Lieben Gruß an dich, Eva


Lieber Ernst!

Danke fürs Lesen. Bei einem Punkt gebe ich dir recht - ich habe versucht unbeherrscht diszipliniert zu sitzen - was mit einem Gelächter endete, hab die Beherrschtheit etwas reduziert ;)

Die vergilbten Vorhänge sind für mich schon in Ordnung. Ein Stoff vergilbt ja nicht nur, wenn er nicht gewaschen wird, sondern einfach durch die lange Zeit die er den Umweltbelastungen ausgesetzt ist. Frau Lampert mag sehr sauber und penibel sein, für etwas Neues entscheidet sie sich nicht. Dass Mittagsruhe herrscht - dass Mittagsruhe herrschen soll - einigen wir uns bitte darauf, dass Mittagsruhe zu herrschen hat?

Danke, für deine interessanten Einwände, einen lieben Gruß an dich, Eva

 

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