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Schon okay, bleib ruhig sitzen.
„Schon wieder?“
„Ja.“
Ich richtete mich auf, meine Schwester saß auf der Bettkante und sah mich besorgt an, während ich mir blinzelnd meine verschwitzten Handflächen am Bettlaken rieb und versuchte, meinen Puls zu beruhigen.
„Wann hört das endlich auf?“
„Ich hoffe bald.“
Sie stand auf und verließ das Zimmer.
„Wir gehen heute zum See. Kommst du mit?“, fragte sie, und packte dabei hastig einige Flaschen Bier in ihren Korb und fing an Sandwiches vorzubereiten. Ich starrte auf meinen noch fast vollen Teller.
Der Sommer meinte es dieses Jahr gut mit uns. Seit einigen Tagen war am Himmel keine einzige Wolke mehr zu sehen und der Wind nahm der drückenden Hitze von Zeit zu Zeit etwas von ihrer Unbarmherzigkeit.
„Wer alles?“, fragte ich.
Sie nannte einige Namen; manche kannte ich mehrere nicht.
„Ich muss noch was machen. Meine Masterarbeit schreibt sich nicht von alleine. Nächstes Mal vielleicht.“
Sie legte die fertigen Sandwiches in den Korb neben das Bier und griff in ihre Handtasche, die auf dem Küchentresen stand, zog ein kleines, durchsichtiges Tütchen heraus, dessen Inhalt aussah wie Koriander und fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum.
Ich schüttelte den Kopf, sie lächelte mich an und strich mir beim Vorbeigehen durchs Haar. Ich hasste es, wenn sie das tat.
„In einer halben Stunde!“, rief sie mir aus ihrem Zimmer zu und im Stillen dankte ich ihr dafür.
Von meinem Zimmerfenster aus beobachtete ich wie vier Freunde meiner Schwester vor unserer Haustür hielten. Sie schmiss den Korb auf den Rücksitz des Geländewagens, zog sich am Überrollbügel hoch und schwang sich auf die Rückbank. Irgendeine ihrer Freundinnen jubelte, oder mehrere gleichzeitig, und während sie alle ihre Arme in die Luft rissen, heulte der Motor des Jeeps auf und verschwand in einer Rauchwolke.
Am Bildschirmrand meines Laptops poppte ein Fenster auf.
„Tammy hat sich nach dir erkundigt“, schrieb Marco.
„Scheiß auf Tammy“, antwortete ich.
In dem Chatfenster erschienen ein weißes Quadrat und ein Ladebalken.
Marco war ein Kommilitone und aus den sozialen Netzwerken bellten mich seit fünf Tagen Fotos an, auf denen er Jägermeister aus einer riesigen Eisskulptur in Form eines weiblichen Geschlechtsteils schlürfte, sich Silvesterraketen aus dem Arsch starten ließ und mit Zigarre, Scotch und Ray-Ban-Sonnenbrille auf einem aufblasbaren Sessel über den See trieb.
Auf dem Bild, das Marco mir schickte, sah ich Tammy und alles, was ihr die Natur geschenkt hatte. Ihr Oberkörper war gehoben, ihre Augen weit aufgerissen und eine Handvoll Eiswürfel lag auf ihrem Rücken.
„Das könnte heute Nacht alles dir gehören.“
„Danke, aber ich verzichte lieber.“
„Heul nicht rum! Glaube deine Schwester ist auch hier…“
Natürlich war meine Schwester auch dort.
„…und ich glaube, dass ihr Bikini eingegangen ist. Was dagegen, wenn ich mal mein Glück versuche?“
„Viel Glück.“
„Brauche ich nicht. Kennst mich doch.“
Und dann wurde mir mitgeteilt, dass Marco Manner nun offline sei.
Ich sah ein Gesicht über mir mit einem markanten Kieferknochen, große, blaue Augen, die mich ansahen, und einen trainierten Arm, der mir entgegengestreckt wurde. Ich packte ihn, versuchte mich hochzuziehen und er versuchte mich hochzuziehen. Aus dem Arm quollen Adern hervor und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
Plötzlich wurden seine Augen glasig, er presste die Lippen zusammen und zog seine Augenbrauen nach oben. Ich versuchte ein weiteres Mal, mich hochzuzerren, doch er ließ meine Hand los, drehte sich um und ging fort.
„Hilf mir hoch!“, schrie ich ihm hinterher.
„Sorry, Kleiner“, hallte es aus allen Richtungen.
Ich schreckte auf und als ich die Augen öffnete, sah ich keinen markanten Kieferknochen über mir, keine großen, blauen Augen, die mich ansahen und keinen Arm, der mir entgegengestreckt wurde; ich atmete einige Male tief durch.
Draußen dämmerte es bereits und auf der Straße öffneten sich die Pforten der Nacht und die Rufe und Gesänge derer, die beabsichtigten, ihr zu frönen, wurden lauter. Aus meiner Schreibtischschublade holte ich meine Masterarbeit und strich mit der Handfläche über den Klarsichteinband.
‚Modernes Design vs. Menschliche Psychologie von Kai Marr‘. Ich schlug die Arbeit in der Mitte auf und las drei Sätze. Ich kannte jedes Wort auswendig, wusste, wie ein Satz begann und wie er aufhörte; jeden Buchstaben, jedes Satzzeichen und mit bloßem Auge hätte ich den Seitenabstand auf den Millimeter genau von fünf anderen unterscheiden können.
Ich warf einen Blick auf den Kalender, der über meinem Schreibtisch hing. Es war der 20. Juli. Das fette, rote Kreuz zierte den 1. September. Ich blätterte weiter und obwohl mir die siebzig Seiten so bekannt waren, wie meine eigenen vier Wände, fragte ich mich, wie ich in der Lage war, eine so gute und überzeugende Arbeit zu schreiben. Dann klappte ich sie zu und legte sie behutsam zurück in die Schreibtischschublade.
Vor dem Badezimmerspiegel drückte ich an einem schwarzen Punkt auf meiner Nase herum und meine Fingernägel hinterließen Spuren von größerer Hässlichkeit. Ich fuhr mir mit den Händen von unten nach oben über die Wangen, um zu sehen, wie weit mein glatter Dreiundzwanzigtagebart abstehen konnte. Ich öffnete den Spiegelschrank und während mir aus der Seite meiner Schwester fünf Cremes oder Lotions oder Salben gleichzeitig entgegen zu fallen drohten, trauerte auf meiner Seite ein einzelner, zweiköpfiger Zahnputzbecher. Ich nahm ihn aus dem Schrank und ließ ihn fallen, weil ich mich immer noch damit beschäftigte, die Seite meiner Schwester in Zaum zu halten, und der Inhalt des Bechers verteilte sich mit einem lauten Knall im Waschbecken: Eine Tube Zahncreme ohne Deckel, zwei Zahnbürsten, eine blaue und eine grüne, und eine dünne, schwarze Haarklammer. Ich hob sie auf, vorsichtig, damit sie nicht in den Abfluss rutschte, und sah ein rötlich-schimmerndes Haar daran hängen. Ich entfernte es von der Klammer, hielt es vor die Lampe und roch daran. Es roch nach nichts.
Nach dem Duschen legte ich die Haarklammer zu den anderen in einen Schuhkarton, holte mir eine Flasche Wein und ließ mich aufs Sofa fallen, um bei einem Michael Bay Film irgendwann einzuschlafen.
Eine schiefe, verzerrte Melodie erklang. Immer und immer wieder dieselbe; genauso grässlich wie allgegenwärtig und sie schmerzte meinen Ohren; mit jeder Wiederholung mehr. Ich versuchte, vor ihr wegzurennen. Irgendwohin. Egal. Hauptsache weg.
Ich riss die Augen auf, sah zum Fernseher, von dem mir das DVD-Menü irgendeines Chick-flicks entgegensäuselte und Blumensträuße und Sonnenuntergänge durchs Bild flogen.
Meine Schwester kauerte in der anderen Ecke des Sofas und schlief mit offenem Mund. Ihr Kopf war nach vorne gesackt, vor ihr auf dem Tisch stand ein halbleerer Teller Mikrowellenspaghetti; sie roch nach Feuer und von dem Wein, den ich letzten Abend angefangen hatte, klebten nur noch Reste an der Innenseite der Glasflasche. Ich schaltete den Fernseher ab und beugte mich zu ihr und berührte sie an der Schulter.
„Hey Schlafmütze.“
Sie reagierte, indem sie einige unverständliche Dinge murmelte.
„Schwesterherz. Hey!“
Diesmal wurde sie wach, doch ihr Blick war taub. Die Lichter waren an, aber niemand zuhause. Sie rieb sich ihre Augen und es kostete sie sichtbare Mühe und häufiges Blinzeln, bis sie vollends ansprechbar wirkte.
„Alles klar?“, fragte ich sie.
Erst nickte sie, dann schüttelte sie hastig den Kopf.
„Schädel“, war alles, was sie sagte und deutete mit beiden Zeigefingern auf ihren Kopf.
„Dann ab ins Bett mit dir. Da lässt es sich bequemer sterben.“
„Nein. Schon okay. Ich bin wach. Wie spät ist es?“
Sie streckte beide Arme weit zur Seite, machte ein Hohlkreuz und gähnte mit weit aufgerissenem Mund.
„Halb zwölf“, sagte ich.
„Verdammt! Muss bald wieder los.“
„Hattest du Spaß?“
„Natürlich hatte ich Spaß. Ich werde aber noch mehr Spaß haben, wenn ich aus diesen Sachen draußen bin.“
„War der Mitternachtssnack noch nötig?“
Ich lächelte sie an, sie sah vor sich auf den Tisch und lächelte zurück.
„Na aber hallo“, antwortete sie, während sie langsam und vorsichtig aufstand.
„Du musst übrigens deine Köter enger an der Leine halten, Kleiner.“
„Marco?“
Sie nickte.
„Ach…“, ich winkte ab, „… ignorier den. Kennst doch die jungen Zuchtbullen.“
„Ich kannte sie, ja.“ Sie zwinkerte mir zu und verließ das Wohnzimmer, ging in ihr Zimmer und kam ohne Pullover und Schuhe, aber dafür mit einer neuen Schachtel Zigaretten zurück, die sie vor mich auf den Glastisch warf. Ich schüttelte den Kopf, als sie mir eine anbot und während sie sich einen provisorischen Zopf band, sagte sie:
„Mein Freund aber nicht. Beziehungsweise, natürlich kennt er sie, aber welcher Freund will die schon um seine Freundin haben?“
„Du hast einen Freund?!“
„Ja. Seit ungefähr einem Monat. Heißt David. Du wirst ihn mögen. Er sieht auch aus wie so ein Beatnik-Typ und steht auch auf den ganzen Scheiß.“
„Freut mich für dich; freut mich. Was mich aber viel brennender interessiert ist, wieso ich ihn erst mögen werde und ihn noch nicht mag.“
„Weil er noch nie hier war.“
„Wieso nicht?“
„Weil‘s bei ihm cooler ist. Er wohnt fast direkt am See, mit Freunden, in dem hellblauen Jugendstilhaus mit der hohen Hecke um den Garten.“
„Kenn ich. Marco hat mir mal erzählt, dass er sich da vor ein paar Wochen mit Freunden auf eine Feier schleusen wollte.“
„Dann weißt du auch, wieso wir lieber Zeit bei ihm verbringen.“
Ich nickte.
„Ich mach mich mal wieder auf den Weg. Wenn Mama anruft, sag ihr, dass ich alles für sie erledigt habe, okay?“
„Okay.“
Ich zeigte auf die roten Chucks, die meine Schwester in ihrer linken Hand hielt, sie nickte und warf die Flipflops in ihrer rechten Hand in die Ecke.
„Was musstest du für Mum machen?“, fragte ich sie, während sie sich hastig vor dem Spiegel ihr Gesicht vollpinselte.“
„Nichts Aufregendes. Paar Sachen vorbeibringen. Sie bekommt es immer noch nicht hin, ins Auto zu steigen, geschweige denn Dads Kram da rauszupacken.“
„Schon wieder was vorbeibringen? Das hätte ich doch auch mal machen können.“
Meine Schwester drehte sich um, ich nickte ihr zu, als Bestätigung dafür, dass sie gut aussah. Sie ging an mir vorbei, strich mir durchs Haar und war schon beinahe aus der Tür verschwunden.
„Bei deinem Gejammer, wie viel du immer zutun hast?! Mama will dich nur nicht mit solchen Belanglosigkeiten ablenken.“
Es tat einen lauten Knall und sie war wieder weg.
Ich ging in mein Zimmer und warf mich aufs Bett und da ich keine Lust hatte zu masturbieren, drehte ich Musik auf, Billy Joels Piano Man, und starrte an die Decke und dachte darüber nach, was Marco mir vor einigen Wochen erzählt hatte, nachdem er in der Nacht zuvor, im Schlaf, seine komplette Boxershort und das halbe Laken „vollgedonnert“ hatte:
„Im Traum sieht man nur Gesichter, die man kennt.“ Dann erklärte er mir noch, wie die Frau, die „mit seiner Feder Geschichte geschrieben hat“, aussah und dass er sie noch nie vorher gesehen hatte und dass er das komisch fand, aber da hörte ich schon nicht weiter zu.
Ich war mir sicher, den Mann, der mir in letzter Zeit so häufig erschien, nicht zu kennen und ich war mir sicher, ihn auch noch nie zuvor gesehen zu haben und doch kannte ich jedes Detail seines Gesichts; seine kurzen, dunklen Haare, seine blauen Augen und seine markanten Kiefer- und Wangenknochen; sogar dass er in seinem rechten Ohr früher einen Ohrring getragen haben musste. Ich kannte ihn nicht und ich hatte ihn auch noch nie gesehen. Da war ich mir sicher.
„Wann warst du das letzte Mal beim Arzt?“, fragte mich Marco durchs Telefon.
„Keine Ahnung. Schon eine ganze Weile her. Bin selten krank. Wieso?“
„Weils zum Teufel nochmal nicht gesund sein kann, die ganze Zeit daheim zu hocken! Was ist falsch mit dir?!“
„Habe zu tun.“
„Schwachsinn! Du weißt so gut wie ich, dass du mit Allem fertig bist und es ist Sommer und du hast die letzten Wochen schon alle Ausreden verbraucht. Gibt keine mehr! Wenn du später nicht an den See kommst, schick ich dir nen Schlägertrupp vorbei!“
„Mit schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen?“
„Ja. Und so nem Telefonkabel im Ohr.“
Wir lachten beide.
„Nein, ernsthaft. Komm mal wieder raus. Ich vermisse meinen Schabernackkumpanen und es wird sich lohnen. Die Jungs sind alle da und außerdem kann ich Tammy nicht mehr hinhalten. Seit sie weiß, dass du zu haben bist, lässt sie mich nicht mehr in Ruhe. Das nervt langsam und sie glaubt, dass du keinen Bock auf sie hast und ich kann sie bald nicht mehr davon überzeugen, dass du nur einen auf ich-mach-mich-rar-um-geheimnisvoll-zu-wirken machst.“
„Tu ich nicht.“
„Ich weiß, aber das hört sich besser an, als zu sagen, dass du nur daheim hockst, fernsiehst und dir die Palme wedelst.“
„Stimmt wohl. Sag ihr doch einfach, dass ich beschäftigt bin.“
„Selbst wenn du’s wärst, wüsste jeder, dass du dir für einen Tag nicht zu schade wärst.“
Für einige Sekunden sagte keiner von uns etwas.
„Pass auf, ich melde mich später nochmal bei dir, okay?“, sagte ich.
„Am Arsch ist das okay! Du klingelst später bei mir, und holst mich ab!“
„Alles klar. Ich mache das aber nur, damit du mir nicht mehr länger auf die Nerven gehst.“
Kurz bevor er auflegte, hörte ich ihn aus der Ferne noch „Ja-woll!“ sagen.
Ich ließ mein Telefon auf den Tisch und mich zurück aufs Sofa fallen und atmete tief durch.
„Für dich würde ich sogar einen beschissenen, roten Teppich ausrollen!“, antwortete meine Schwester auf die Frage, ob Marco und ich im Laufe des Abends bei David vorbeischauen durften, um das eine oder andere Bier zu trinken.
Das Geräusch meines elektrischen Rasierers kam mir fremd vor. Wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen und es machte mich traurig zu sehen, wie immer wieder braune Haare büschelweise ins Waschbecken fielen, da ich mich an das warme und wollige Gefühl in meinem Gesicht gewöhnt hatte. Mehr und mehr bekam mein Gesicht wieder die Form, die von meinen Schädelknochen ursprünglich dafür vorgesehen war und obwohl ich meinen Bart nie vollkommen abrasierte, überraschte es mich, wie schmal mein Gesicht eigentlich war.
Auf meinem Bett lagen ein weißes T-Shirt, eine blaue Jeans, ein schwarzer Hut mit schmaler Krempe und eine Sonnenbrille. Ich betrachtete alles. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, nahm ich das T-Shirt, schmiss es in die Ecke und holte ein weißes, kurzes Hemd mit schwarzen Knöpfen aus meinem Schrank und legte es zu den restlichen Sachen und musterte alles erneut.
„Badehose?“, schrieb ich Marco.
„BADEHOSE!!!“, schrieb er zurück.
Ich holte das weiße T-Shirt aus der Ecke, schüttelte es zwei Mal und zog es zusammen mit den restlichen Klamotten an. Zusammen mit einem Sixpack Bier und einer Schachtel Zigaretten packte ich meine Badehose in einen Rucksack, schwang ihn mir über die Schulter und ließ die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen.
Mit jedem Schritt nahm ich zwei Stufen gleichzeitig, während ich mich das Treppenhaus hinunter schwang. Die letzten drei Stufen sprang ich hinunter.
Draußen stach mir die Sonne in die Augen, ich kniff sie zu und schob mir meine Sonnenbrille auf die Nase. Walking on Sunshine von Ghoti Hook hämmerte mir durch die Kopfhörer ins Hirn, während ich mein Skateboard kurz den Berg einige Meter hinunterrollen ließ, dann Anlauf nahm und mich draufschwang, als ich es eingeholt hatte. Zu Marcos Wohnung waren es knapp drei Kilometer durch die Stadt und diese Strecke zu laufen hätte ich als Zeitverschwendung empfunden.
Mir blies der Wind um die Ohren und ich flog im Slalom den heißen Asphalt entlang; beflügelt von Frauen, deren Oberkörper nur mit Bikinioberteilen bekleidet waren, Menschengruppen, die auf jeder auffindbaren Grünfläche saßen, grillten und Bier tranken, und Leuten jeden Alters, die vor Kaffees saßen, sich unterhielten oder mit geschlossenen Augen den Kopf im Nacken liegen hatten; all das verlieh mir Rückenwind und ließ mich wie von selbst durch die Straßen rollen. Ich saugte jeden Eindruck auf und wie einem Junkie, dessen letzter Schuss schon einige Tage her war, pulsierte mein Blut wieder; es raste mir durch meine Adern, durch mein Hirn und durch mein Herz, das mir aus dem Brustkorb zu springen drohte.
Ich schoss durch die Stadt, sah eine Mutter, die versuchte, ein kleines Mädchen zu beruhigen, das vor einer heruntergefallenen Eiswaffel stand und weinte; ich sah einen jungen Mann, der einer jungen Frau, deren weißes Oberteil vor Feuchtigkeit beinahe durchsichtig war, mit einem Eimer Wasser hinterherrannte und ich sah einen betagteren Herren mit Pinsel und Leinwand vor einem Rosenstrauch stehen. Eines der wenigen Dinge, die ich nicht sah, war ein Stadtbus mit der Aufschrift Zum Sonnenplätzchen.
Als ich die Augen öffnete, war ich von einem Licht geblendet, das schmerzte und nicht warm war. Ich blinzelte, kniff beide Augen fest zusammen, blinzelte erneut, bis ich etwas sehen konnte und was ich sah, erkannte ich auf den ersten Blick: ein markantes Gesicht, große, blaue Augen und dunkles Haar.
Ich lächelte und streckte ihm meine Hand entgegen.
„Hilf mir hoch“, sagte ich mit ruhiger Stimme.
Ich lächelte ihn an und hoffte endlich zu erfahren, wer er war. Ich sah ihm tief in die Augen, doch er presste nur seine Lippen zusammen und klopfte mir sanft auf die Schulter.
„Tut mir Leid, Junge.“
Mehr sagte er nicht, dann stand er auf und sein weißer Kittel erhob sich hinter ihm, als er mit raschem Gang das Zimmer verließ.
Ich stützte mich auf meine Ellenbogen und sah mich um. Links von mir stand meine Schwester und schluchzte; Marco hielt sie im Arm und als ich an mir hinab sah, erkannte ich, dass sich die Decke, mit der man mich zugedeckt hatte, ab der Hälfte meiner Oberschenkel nicht mehr wölbte.