Schraffuren
Dickes Zeichenpapier, einen weichen Bleistift und eine feste Unterlage - mehr brauche ich nicht.
Ich zeichne die vorbeilaufenden Gesichter. Mehr Flächen als Linien, die schraffuren sind der Trick. Was das Auge sieht umsetzen. Vom Groben ins Detail. Nur mit System funktioniert das.
"Wieviel kostet es?"
"Fünfzig Euro."
"Dann nehme ich beide."
"Oh, vielen Dank, der Herr!"
Er reicht mir den zerknitterten Schein, seine Hand kommt näher-
"HALT", gellt aus der Ferne ein Schrei. "STEHEN BLEIBEN!".
Blitzschnell schnappe ich nach dem Schein, fasse mein Skateboard, die Unterlagen und Materialien und brause davon. Ich bin daran gewöhnt.
Die Männer in Blau geben bald auf und nur wenige Minuten später komme ich am Ziel an. Das Wohnheim.
Die Gänge sind staubig. Ein Kater nähert sich und blickt zu mir auf. "Na, Schröder?" Ich kraule seinen Hals, während er freundlich schnurrt und dann seiner Wege geht.
Ich klopfe am Rahmen, bevor ich das Zimmer 303 öffne. Überall stehen und liegen Teller, Gläser, DVD-Hüllen und -Schachteln. Inmitten des Raumes steht ein aufgeregter Frank, der Schachteln in einen Rucksack stopft. Auf seiner Stirn steht der Schweiß. Aufgeregt schiebt er den Vorhang zurück, blickt aus dem Fenster und bemerkt ... mich.
"Steffen!", schreit er beinahe in verrücktem Ton.
"Was ist denn los?"
"Ich muss weg."
"Warum, was ist passiert?"
"Ich hab's gerade erfahren. Nur fünf Häuser weiter wurde einer hochgenommen. Kuck dich doch um!"
Die Aktenschränke, in die zuvor immer fein säuberlich Filme und Musik nach Buchstaben und Zahlen eingeordnet waren, hatte er herausgerissen und durcheinander gebracht.
"Aber du hast doch nie was weitergegeben!"
"Glaubst du das interessiert wen?" Er sieht mich verzweifelt an und fährt sich durch die verschwitzten Haare.
Auf dem Tisch entdecke ich die Tageszeitung. Neuste Meldungen: Druck gegen Reformpolitik unzulässig: Bund zensiert Bild; Einführung des virtuellen Prangers ...
"Ich gehe in die Schweiz", flüstert er und stopft weiter seinen Rucksack voll.
"Was willst du in der Schweiz?"
"Dort wird man nicht so behandelt!" Er weist auf die Zeitung.
"Als illegaler Einwanderer wird man nicht gerade besser behandelt, und so -" ich zeige auf den Rucksack "lässt man dich nicht über die Grenze."
Es klopft an der Tür. Frank fängt an zu zittern.
"Wer ist da?"
"Polizei. Machen sie die Tür auf."
Niemand rührt sich. Die Luft ist zum Zerreißen angespannt.
"Ich sagte: Machen sie die Tür auf."
Gefolgt von einem heftigen Knall zersplittert der Rahmen und die dicke Wohnungstür fliegt mir in den Rücken. Vor meinen Augen verschwimmt die Umgebung. Das Einzige, was ich noch mitbekomme ist die rauhe Stimme des Polizisten. "Drecksau. Der Verbrecher hat's nicht anders verdient."