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Schwarzer See

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21.04.2015
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Schwarzer See

„Wollen wir weiter? Noch ein kleiner Anstieg, dann sind wir da.“ Unter Carstens Füßen knackte ein Ast. Hanna zuckte zusammen und sah benommen zu ihm auf. Sie nickte und erhob sich von der Bank, die sich an den Berghang schmiegte. Die Stille des Waldes hatte sich wie Nebel um ihren Kopf gelegt. Sie sah auf die dicht aneinander gedrängten Tannen, das tiefe Grün des Schwarzwalds, und spürte es. Unbehagen. Der Wind strich über die Baumspitzen, glitt an den Stämmen vorbei, streifte durch Hannas Haare. Fremder Atem, der nach Rinde und feuchter Erde roch. Die feinen, braunen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Sie schauderte.
„Hanna? Alles in Ordnung?“ Carstens blaue Augen wirkten trüb, dunkler als sonst. Er stand zwischen den Bäumen und trat mit seinem Fuß immer wieder gegen eine Wurzel, die sich aus der Erde gekämpft hatte. Der schmale Wanderweg war durchfressen von ihnen, schon drei Mal war Hanna gestolpert. Ihre Augen huschten im Zwielicht des Waldes aufmerksam hin und her. „Ja, alles gut, ich komme schon.“ Carsten sah ihr verkrampftes Lächeln nicht. Er stapfte mit festem Schritt vor ihr her und folgte dem Weg, der sich zwischen den dunklen Stämmen den Berg hinaufschlängelte.

Die Bäume ächzten, ihre Äste hingen tief. Hanna spürte Schatten im Nacken, ein dunkles Rumoren unter ihren Füßen. Als sie vor drei Stunden losgelaufen waren, schien die Sonne. Schäfchenwolken am Himmel. Frühlingsluft. Jetzt wurde der Wald zum Fremden. Über ihren Köpfen breitete sich eine graue Decke aus, das Licht kämpfte sich mühsam durch das Dickicht der großen Nadelbäume. Selbst die Vögel schwiegen. Nur ihre Schritte durchbrachen die Stille.
Carsten drehte sich zu Hanna um. Seine Wangen waren gerötet, Vorfreude zitterte in seiner Stimme: „Es wird dir dort gefallen, wirst schon sehen. Auf den Bildern sah es total idyllisch aus. Trotz der Geschichten, die sich die Leute erzählen.“ Er musterte sie. „Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, was los ist. Irgendwas ist komisch heute.“
„Dein berühmtes Bauchgefühl mal wieder?“ Carsten zwinkerte ihr zu. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blies sich eine Strähne aus der Stirn. Da stand er vor ihr mit seinen blonden, verstrubbelten Haaren, den frechen Augen und dem kleinen Grübchen in der linken Wange. Ihr Verlobter. Sie berührte ihren Ring, lächelte.
„Mach dich nur lustig über mich.“ Hanna streckte ihm die Zunge heraus. Er machte einen Satz nach vorne, umschlang sie mit seinen kräftigen Armen und hob sie hoch. Ein Lachen platzte aus ihr heraus. Der Himmel schien nicht mehr ganz so düster, der Wald nicht ganz so undurchdringlich. Ihre Gedanken über den See verloren sich in Carstens Umarmung. Für einen Moment.
Plötzlich erstarrte sie. „Hast du das gehört?“
„Hanna, wir sind mitten im Wald. Ich höre ständig irgendetwas knacken oder rascheln.“
„Nein, das klang wie ...“ Sie lauschte. Nichts. „Es klang wie eine Frau“, murmelte Hanna und ging ein paar Schritte.
„Wie eine Frau?“ Carsten legte seinen Arm um sie. „Vielleicht war es ja eine von den Frauen aus dem Mummelsee. Sie sucht nach dir. Will ein bisschen schwimmen gehen.“
Hanna stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Hüfte, schüttelte den Kopf und stapfte entschlossen den Waldweg entlang. Ein paar hundert Meter weiter wurde es lichter zwischen den Bäumen. Sie ging schneller. Konnte die Enge zwischen den Stämmen nur noch schwer ertragen. In ihrem Heimatort weiter südlich von hier war der Schwarzwald heller, freundlicher. Als Kind hatte sie es geliebt, in den kleinen Bächen zu spielen. Beschützt vom Schatten der Fichten. Doch jetzt bekam sie immer schwerer Luft, ihre Kehle war trocken, die Hände schweißnass. Die letzten Meter rannte sie fast, bevor sich endlich der Wald vor ihr öffnete und den Blick auf den See freigab. Dunkel glänzend lag er unter ihnen. Über der Wasseroberfläche schwebte milchiger Nebel. Hanna fröstelte. Sie wollte nicht dort hinunter. Ihr Magen zog sich zusammen, Übelkeit stieg in ihr auf. Sie schwankte. Das Rauschen der Bäume wurde lauter und lauter. Carsten fragte sie etwas. Sie wollte antworten, aber ihre Zunge fühlte sich schwer an. Taumelnd suchte sie nach Halt. Dann wurde alles schwarz.

Langsam kamen die Geräusche zurück. Hanna öffnete die Augen und blickte in Carstens bleiches Gesicht.
„Mann, was jagst du mir denn für einen Schreck ein?“
Sie richtete sich auf. „Was ist denn passiert?“ Benommen blickte sie auf den See hinunter.
„Du bist einfach umgekippt. Ich konnte dich gerade noch auffangen, sonst wärst du mir hier mit dem Kopf aufgeschlagen. Wie fühlst du dich?“ Er hielt ihr Gesicht fest in seinen Händen und sah ihr in die Augen.
Sie lächelte. „Besser. Keine Ahnung, was das war. Mein Kreislauf … Manchmal sackt der in den Keller. Hilfst du mir hoch?“
Er zog sie nach oben und drückte sie an sich. „Schaffst du es nach unten?“ Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Himmel. Am Horizont zog die Nacht heran.
„Klar, ich schaff das.“ Sie klopfte sich die Tannennadeln von der Hose und stieg mit wackligen Knien den Pfad hinunter.
Je näher sie dem Mummelsee kamen, umso stärker kam das dumpfe Gefühl zurück. Als liefe man auf offenem Feld geradewegs einem tobenden Gewitter entgegen.

Sie wusste, dass es nur Geschichten waren, die man sich über diesen Ort erzählte. Sagen, Märchen, wie auch immer man es nennen wollte. Vor Jahrhunderten stand hier angeblich ein Kloster, genau an der Stelle, wo sich nun der Mummelsee befand. Über Nacht versank es einfach im Erdboden, verschluckt von schwarzem Wasser und für immer begraben. Doch angeblich lebten die Seelen der Nonnen noch immer in der Tiefe, stiegen nachts aus dem Wasser empor und besuchten die nächsten Bauernhäuser im Tal. Die einen sagten, die Geister halfen den Menschen im Haus. Verrichteten nützliche Arbeiten und verschwanden im Morgengrauen wieder. Die anderen jedoch sprachen von finsteren Mächten. Verführerischen Frauen am Seeufer. Sehnsüchtig wandelten sie auf den Wegen im umliegenden Wald umher. Riefen nach Männern, zogen sie mit sich ins Wasser. Ließen ihre Seelen nicht mehr gehen. Auch von Selbstmorden hatte Hanna schon gehört. Menschen seien einfach in den See gestiegen und wurden nie wieder gesehen. Aber dafür gab es keine Belege, nur alte Überlieferungen.
Ihre Oma hatte sie vor diesem Ort gewarnt, als Hanna noch ein Kind war. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie den See auf einer Wanderkarte entdeckt und aufgeregt mit dem Finger auf das zerknitterte Papier getippt hatte. „Mummelsee? Omi, das ist aber ein lustiger Name. Zeigst du mir den mal?“ Ihre Großmutter hatte mit dem Kopf geschüttelt und sich hektisch die Oberarme gerieben, als wäre es in ihrem Wohnzimmer plötzlich zu kalt. Ihr Blick hatte streng auf Hannas Gesicht gelegen und doch für winzige Sekunden unruhig geflackert. „Geh da nicht hin, Kind“, sagte sie damals zu ihr, „solche Orte lässt man lieber in Frieden.“

Irgendwann hatte Hanna Carsten von diesem Gespräch erzählt. Er bekam sofort rote Flecken auf den Wangen, kreisrund und leuchtend. „Das muss ich sehen!“ Er war vernarrt in deutsche Sagen. Eine Kindheitserinnerung an seinen Vater, der ihn oft mitgenommen hatte auf seinen Touren quer durch Deutschland, auf den Spuren der alten Geschichten.
„Ist das weit weg von deinen Eltern?“
Hanna schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Aber hinfahren muss ich trotzdem nicht.“
„Ach komm schon, dein Ernst? Nur weil Omi davor gewarnt hat? Du willst mir doch nicht erzählen, dass dich ein paar leichtbekleidete Nymphen einschüchtern?“
Sie schwieg. Sah an ihm vorbei. Manchmal lag da etwas in seiner Stimme, das sie wütend machte. Schwer zu greifen, eine leichte Überheblichkeit, die Hanna das Gefühl gab, Carsten nehme sie nicht ernst. Dass er ihre Oma erwähnte, machte es nicht besser.
Er lehnte sie zurück, musterte sie. Atmete einmal tief durch und sah auf den Boden. „Entschuldige, ich bin manchmal echt ein Depp.“ Er strich sich durch die Haare, blickte auf. „Ich weiß doch, wie sehr sie dir fehlt. Tut mir leid!“

Zwischen den Tannen erkannte Hanna die Umrisse des Berggasthofs. Obwohl es fast dunkel war, brannte in keinem der Fenster Licht. Sie drehte sich zu Carsten um. „Die wissen aber schon, dass wir kommen, oder?“
Lachend winkte er ab. „Na klar, wissen die das. Ich habe gestern erst mit denen telefoniert.“ Er nahm Hanna bei der Hand und zog sie die letzten Meter hinter sich her.
Der einstige Schwarzwaldhof ragte mächtig und düster vor ihnen empor. Komplett aus Holz erbaut, schien das breite Haus mit der Nacht zu verschmelzen. Das Giebeldach reichte bis zum Erdgeschoss hinunter und gab dem Hof trotz seiner Größe ein gedrungenes, verschlossenes Aussehen. Zu ihrer Rechten lag der See, ein schwarzer Fleck, aus dem feiner Dampf aufstieg. Der Wind hatte zugenommen, vertrieb die Wolken. Trüb schien der Mond auf die Landschaft. Sein Licht entzog dem Wald seine Farben, über alles legte sich ein grauer Schleier. Zwischen den Tannen sammelten sich Nebelschwaden, nur die Baumspitzen waren in dem milchigen Dunst zu erkennen.
„Das ist ein Ausblick, oder?“ Carsten klang anders als sonst. Rau, atemlos. Schweigend sah Hanna zu ihm auf. Versunken in dieses Schauspiel aus Licht und Schatten, glich sein Gesicht dem eines staunenden Kindes. Sie nahm seine Hand, doch er erwiderte den Druck nicht. Stand reglos da und starrte auf den See. Seine Züge wirkten entrückt, fast flehend. Hanna spürte ein Ziehen im Bauch. Da war sie, ganz plötzlich. Die Angst, sie könne ihn verlieren, wenn sie jetzt seine Hand losließe.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke noch ein Stück höher und räusperte sich. „Komm, lass uns reingehen, mir ist kalt.“ Carsten drehte ihr ruckartig den Kopf zu und blinzelte. Wie schlaftrunken rieb er sich die Augen und nickte. Sie gingen an der Längsseite des Hofs entlang, bogen nach links um die Ecke und standen vor dem Eingang. Über der massiven Tür waren sorgfältig geschnitzte Holzlettern angebracht: „Berggasthof zur Mummel“.
Carsten schmunzelte. „Klingt niedlich. Mummel.“
„Stimmt“, murmelte Hanna, die hinter dem linken Fenster flackerndes Kerzenlicht wahrnahm. „Seerose. So nennt man die hier. Mummel.“ Sie klopfte an die Tür.

„Frau Kühnle?“ Carsten streckte der kleinen, robusten Frau seine Hand entgegen. Sie kniff die Augen zusammen, ließ ihren Blick über die beiden Gäste streifen und wich einen Schritt zurück. Langsam schüttelte sie den Kopf und griff nach der Türklinke.
Betreten schaute Carsten sie an. „Frau Kühnle? Ich habe doch gestern mit Ihrem Mann telefoniert. Ich bin Carsten Meißner. Wir haben für eine Nacht reserviert. Ist Ihr Mann denn zu Hause?“
Sie schüttelte den Kopf immer heftiger hin und her. „Haut ab“, flüsterte sie. Bevor sie jedoch die schwere Eingangstür zuschieben konnte, ertönte über ihr lautes Poltern. Sie fuhr zusammen. Sah Hanna und Carsten mit schreckgeweiteten Augen an. Hanna fröstelte und starrte auf die Treppe, die hinter der Frau in den ersten Stock führte. Schwere Stiefel stapften die ächzenden Stufen hinunter. Schritt für Schritt wurde ein großer Mann sichtbar. Breite Schultern, dunkles Haar, rote Wangen. Er stellte sich neben seine Frau, legte den Arm um sie und presste sie fest an sich. Brutal. Er lächelte. „Bisch wieder e bissel arg vorsichtig, Regina. Des sin die zwei Gäscht, sell han i dir doch geschtern erscht verzellt.“ Kopfschüttelnd nahm er Carstens Hand und schüttelte sie grinsend. „Kumme nur eini, drusse ischs kalt!“
Sie folgten dem Wirtspaar ins Haus. Es roch nach feuchtem Holz und kaltem Zigarettenrauch. Keine Wärme kam aus seinem Innern. Ein enger Flur führte in die Gaststube, wo ein kleines Feuer im Kamin brannte. „Es duuret no e bissel, bis es warm isch. So e Kälte mitte im Mai, sag e mol, domit rechnet doch keiner. Regina, hohlsch du dene beide was zum esse?“ Die Wirtin verschwand in der Küche. Carsten und Hanna setzten sich nah ans Feuer.
„Die ist unheimlich“, flüsterte Hanna, während sie der Frau nachsah. Der Wirt stand hinter der Bar und zapfte pfeifend zwei Bier. „Warum sagt die denn nichts? Schaut uns an wie zwei Gespenster. Als wollten wir ihr was antun.“
„Pssst. Nicht so laut. Er scheint doch aber ganz nett zu sein. Wir essen schnell eine Kleinigkeit und dann verziehen wir uns auf unser Zimmer, okay?“
Die Tür zur Küche flog auf und die Wirtin kam mit einem Tablett auf sie zu. Mit ernstem Gesicht stellte sie zwei Portionen Käsespätzle vor ihnen auf den Tisch. Sie wandte sich ab, stockte jedoch einen Augenblick. Drehte sich erneut zu ihnen um und beugte sich zu Hanna hinunter. „Mache, dass ihr von do wegkumme, am Seebach lang, nunder ins Tal. Schnell, bevor sie euch hole!“ Dann huschte sie zurück in die Küche.
„Hast du das gehört?“
Carsten blickte auf, Käsefäden hingen von seinem Kinn. „Was denn?“
Hanna sah zu dem Wirt hinüber, der sich mit den vollen Gläsern ihrem Tisch näherte. Hörte Äste im Feuer knacken. Langsam kroch die Wärme in ihren Körper zurück und in ihrem Kopf kehrte Ruhe ein. Sie hatte sich bestimmt verhört. Und selbst wenn … Vielleicht mochte die Frau einfach keine Leute aus der Stadt.

Das Zimmer war schlicht, aber gemütlich. An der linken Zimmerwand stand ein breites Bett, bezogen mit strahlend weißer Wäsche. Gegenüber ein schwerer Schrank. An der Stirnseite des Raumes konnte man durch ein kleines Fenster auf den See schauen. Hanna zog die Vorhänge zu und schlüpfte unter die Bettdecke.
„Du fühlst dich unwohl, oder?“ Carsten kroch zu ihr und nahm sie in die Arme.
„Blöd von mir, ich weiß. Ich werde bestimmt eine nervige Omi. Sehe überall Gespenster. Willst du dich darauf echt einlassen?“ Sie kicherte und schmiegte sich an ihn.
„Klar will ich das“, nuschelte er und küsste sie auf die Stirn. Eine Minute später war er eingeschlafen.

Kehliges Stöhnen ließ Hanna in die Höhe fahren. Tastend huschten ihre Blicke umher. Silbernes Mondlicht fiel ins Zimmer. Sie hielt die Luft an.
Die Vorhänge! Sie waren aufgezogen!
Ihr Körper versteifte sich. Sie starrte auf das Fenster und krallte sich in der Matratze fest. Lauschte. Nur das Rauschen des Waldes und ihr pochendes Herz. Dabei war sie sich ganz sicher gewesen. Dieses Stöhnen. Sie hatte es ganz deutlich gehört. Tief unter ihr, verzweifelt und flehend. Hanna griff nach Carstens Hand, spürte jedoch nur kalte Laken unter ihrer Haut. Sie fuhr herum und sah die zurückgeschlagene Bettdecke. Carstens Seite war leer. Sie sprang aus dem Bett und huschte hinaus in den Flur.
„Carsten“, zischte Hanna in die Dunkelheit. „Carsten!“ Nichts. Das Haus schwieg, kein Laut war zu hören. Sie hastete zurück ins Schlafzimmer, griff nach ihrer Hose. Hektisch schlüpfte sie hinein und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen, glänzend und still lag der See im Mondlicht. Am Ufer versanken Büsche und Bäume in einem konturlosen Schwarz. Hanna kniff die Augen zusammen. Da bewegte sich etwas. Jemand. Löste sich aus dem Dunkel und ging langsam auf den See zu. Mit gesenktem Kopf lief die Gestalt hin und her. Die Wasseroberfläche fing an, sich zu kräuseln. Aus den Tiefen stieg ein dumpfes Gurgeln hinauf. Wurde immer lauter. Klarer. Gipfelte in einem Schrei, der gellend durch Hanna hindurchfuhr. Bebend erkannte sie, wer da unten umherirrte. Sein blondes Haar, den leicht zur Seite geneigten Kopf. Carsten!
Sie rannte in den Flur, die Treppe hinunter. Riss an der schweren Tür und stolperte ins Freie. Sie schrie seinen Namen, doch er reagierte nicht. Er lief nicht mehr umher, sondern schlug apathisch mit einem Ast auf das Wasser. Barfuß stand er mit den Füßen im See. Hanna fühlte die Panik in sich aufsteigen. Wie schwarzer, klebriger Teer, der sie langsam umschloss. Lähmte. Sie zwang sich, vorsichtig auf ihn zuzugehen, und legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Schatz?“, flüsterte sie und strich ihm sanft durch die Haare. Sie waren feucht. „Was machst du denn hier?“ Keine Antwort. Er schlug weiter mit dem Ast auf das Wasser und sah auf den See hinaus. Da lag etwas in seinem Blick, das Hanna zurückweichen ließ. Sehnsucht.
Sie versuchte, ihn langsam mit sich zu ziehen, doch er schüttelte sie ab. Öffnete die Lippen. Bewegte sie.
„Was sagst du? Rede doch mit mir, mein Schatz!“ Verzweifelt zerrte sie an seinem T-Shirt. Sie schluchzte auf. „Komm schon, lass uns bitte wieder hineingehen.“
„Sie rufen nach uns.“ Er hauchte die Worte in die kalte Nacht. Der See fing erneut an zu brodeln. Heftiger. Wasser spritze in Hannas Gesicht.
„Was redest du denn da? Wer ruft uns?“
„Die Frauen“, sagte Carsten lächelnd. „Sie sind so allein da unten.“ Er machte einen Schritt nach vorn. Hanna schlang ihre Arme um seinen Bauch und versuchte ihn zurückzuziehen. Doch er ging weiter, ganz langsam und bedächtig, als sei sie gar nicht da. Der Boden vibrierte, lautes Grummeln kam aus dem See. Plötzlich tat sich vor ihnen das schwarze Wasser auf. Eine steinerne, von Moos überzogene Treppe führte hinab in die Tiefe. Jetzt hörte Hanna sie auch. Stimmen. Glasklar, herzzerreißend schön. Manche von ihnen sangen. Andere riefen inständig: „Näher. Noch näher. Wir sind so allein. Helft uns …“
Hanna klammerte sich an Carsten, wischte sich zitternd die nassen Haare aus dem Gesicht. Was passierte hier bloß? Sie schaute über die Schulter, sah entsetzt, wie sich das Ufer immer weiter entfernte. Sie konnte ihn nicht loslassen. Konnte nicht zurückrennen und ihn verlieren. Hanna holte tief Luft. Schrie so laut sie konnte nach Hilfe, bis ihre Lungen schmerzten. Carsten nahm die nächste Stufe. Atemlos suchte Hanna in der Dunkelheit nach den Umrissen des Hofs. Was sie dann sah, nahm ihr jegliche Hoffnung. Im Haus brannte Licht. Wie glühende Augen schienen die hell erleuchteten Fenster das Geschehen ohne Mitgefühl zu beobachten. Die Eingangstür stand offen. Auf der Schwelle zeichneten sich zwei Silhouetten ab. Eine war groß mit breiten Schultern, die andere klein und untersetzt. Sie bewegten sich nicht. Starrten einfach nur hinaus auf den See.
Hanna fühlte, wie die Kraft ihren Körper verließ. Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter. Warnend hallte sie in ihren Ohren. „Geh da nicht hin, Kind!“ Zu spät. Tränen vermischten sich mit dem kalten Seewasser auf ihrer Haut. Sie legte ihren Kopf an Carstens Schulter, schloss die Augen und spürte, wie das schwere Nass über ihnen zusammenbrach.

 

Hallo Chutney,

das sind viele interessante Gedanken, die du äußerst. Vielen Dank erst einmal, dass du dir die Zeit genommen hast!

Wie sie einander immer fremder werden. Wie er, eigentlich schon besessen von dieser Geschichte, die Gefahr nicht spürt und verharmlost.
Ja genau, schön, dass du das an dieser Stelle spürst. Denn genau so habe ich diese kleine Szene gemeint. Er eilt schon wieder weiter, will unbedingt zum See. Obwohl er zu sehen scheint, dass mit ihr etwas nicht stimmt, schiebt er es weg. Oder es ist ihm sogar egal.

Wie sie ihn naiv idealisiert und ihr Gefühl wegdrängt.
Ich sehe Hanna als eine Frau, die Nähe braucht, die durch Berührungen viele unguten Gedanken verdrängt. Daher gebe ich dir recht, auch hier ist das so.

Das finde ich einen spannenden Gedanken und du hast das auch gut angedeutet, dass da was nicht stimmt. Er nimmt sie nicht ernst, er überschätzt sich, er übergeht ihre Trauer. So wie du ihn charakterisierst war ich am Ende um ihn nicht so wirklich traurig, um sie ein bisschen mehr, aber eigentlich dachte ich auch. "Wie kann man nur so dämlich sein?"
Es ist toll zu lesen, dass deine Gedanken meinen so ähnlich sind! Ja, es ist ganz komisch, anfangs wollte ich die beiden als "perfektes Paar" zeichnen, im Sinne von richtig krass verliebt und einander vertrauend. Auch um am Ende mehr um sie trauern zu können, wenn sie verschluckt werden. Aber irgendwie hat sich das dann verselbstständigt. Carsten wurde mir immer unsympathischer, weil ich ihn plötzlich als ziemlich egoistischen, ja fast plumpen Kerl vor Augen hatte. Und Hanna rutschte plötzlich in eine Richtung, die ein wenig devot und anhänglich war. Verrückt, wie das manchmal beim Schreiben läuft. Klar, am Schluss verstehe ich voll, dass man sich denkt "wie kann man nur so dämlich sein?". Ich hatte so ein Bild vor mir, wie sie sich verzweifelt an ihn klammert, komme was wolle. Da gab es irgendwie keine Alternative.

Also ich habe deine Geschichte wie gesagt, gerne gelesen, aber dennoch fehlte auch mir noch irgendein Überraschungsmoment.
Das kann ich nachvollziehen. Vielleicht gelingt mir irgendwann so eine Geschichte, die atmosphärisch passt UND einen Überraschungsmoment hat. Ich lese Grusel und Psycho sehr sehr gerne, vielleicht fällt es mir aber deswegen so schwer, selbst sowas richtig Gutes in diesem Genre zu schreiben. Man hat das Gefühl, jede Wendung, jeden Gedanken, jede Auflösung gab es schon mal. Aber ich denke positiv und bleibe dran =)

Vielleicht habe ich sie deshalb fast wie einen Vorspann empfunden, vor einer Geschichte in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, ohne Magie, aber mit einem Paar, dass mit irgendeiner zerstörerischen Sucht kämpft.
Das hat mich geflasht, ist ein interessanter Gedanke. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Was ich da wohl wieder verarbeitet habe?

Chutney, das waren tolle Anmerkungen, vielen Dank!
Liebe Grüße
RinaWu

Hallo Ronnie,

Der badische Dialekt ist leider nicht getroffen, das klingt teilweise eher nach schwäbischem.
Du hast die Kommentare wahrscheinlich nicht gelesen, daher kurz zusammengefasst: Bei dem Dialekt, der zuerst noch viel harmloser dastand, hat mir wieselmaus geholfen. Sie wohnt im Schwarzwald und ich persönlich finde, es hört sich sehr authentisch an und bin zufrieden damit. Klar könnte man jetzt diskutieren, dass es vielleicht zu sehr in irgendeine Richtung schlägt, die doch nicht ganz passt. Aber da es im Schwarzwald sowieso dermaßen viele unterschriedliche Dialekte gibt (ich bin dort aufgewachsen), denke ich, ist das an dieser Stelle zu verkraften. Wenn du Verbesserungsvorschläge für den Dialog hast, gerne her damit.

Und dass am Mummelsee ein riesiges Hotel steht, drum herum Souvenir und Ausstattungsläden, ein riesiger Parkplatz für die Busse, Bootsverleih etc., weißt du vielleicht.
Auch das wurde unten schon besprochen. wieselmaus hat mir erzählt, dass der Mummelsee eher ein Rummelsee geworden ist =) Ich selbst wusste das nicht, nein. Ist aber vielleicht auch ganz gut so, somit konnte ich mir besser eine bestimmte Stimmung ausdenken. Und ich muss an dieser Stelle anmerken: Ich erwähne ja mit keinem Wort, in welcher Zeit meine Geschichte spielt. Es wäre also durchaus drin, sie fünf oder zehn oder gar zwanzig Jahre in die Vergangenheit zu legen und sie würde immer noch funktionieren. Nur so als Gedanke.

Den Grindegeischt kenne ich gar nicht ... Oh man, das scheint aber ein wirkliches Touristenloch geworden zu sein, wenn da jemand auf und ab läuft, der so verkleidet ist :sconf:

Danke dir für deinen Kommentar!
Viele Grüße
RinaWu

 
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Hallo RinaWu,

ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen, vor allem, weil ich eine Kindheitserinnerung an den Mummelsee habe, die Du wieder hervorgerufen hast. Die Stimmung, die Bilder und das Erlebnis der beiden Protagonisten faszinierten mich, auch die Sprache. Eigentlich hat mir fast alles gefallen. Nur würde ich dem Carsten ein Ziel geben, warum er unbedingt an den Mummelsee gehen will, und nicht einfach nur, seinen Heldenmut gegenüber seiner Freundin beweisen zu wollen. Er könnte zum Beispiel nach einer sonst ausgestorbenen Art von Molchen oder Salamandern am Seeufer suchen wollen. Oder er sucht nach einem alten Goldschatz, der in einer der Geschichten auftaucht, und er abtauchen möchte, ihn zu suchen.

Den richtigen Dialekt zu finden, halte ich fast für unmöglich. Die Schwierigkeit hast Du schon erwähnt. Den ursprünglichen Mummeldialekt wird es gar nicht mehr geben, weil er sich mit anderem Deutsch vermischt hat und weiter vermischt. Zudem kommen Deine Protagonisten ja aus anderen Gegenden, so dass es auf jeden Fall passt.

Ich war vor über vierzig Jahren mit meinen Eltern als kleiner Bub am Mummelsee, das einzige mal bisher. Meine Erinnerungen an den See sind beinahe genauso wie Du ihn beschreiben hast: steile Hänge, Nadelwälder, Finsternis, dunkles Wasser, Stolperwege, Rauschen, Kälte. Meine Mutter erzählte Geschichten über allerlei Gestalten, Gute und Böse, die man im See gesehen haben will, und an die ich genauso glaubte wie an den Osterhasen. Ich erinnere mich dann noch an ein altes Schwarzwaldhaus mit dem typischen Hängedach am Ufer, das wir nicht besucht haben. Wir kamen früh an den See und waren fast die einzigen dort. Das Wasser erschien aus der Ferne schwarz und unbeweglich. Das Unheimliche, das Mummelige und das Gefühl einer seltsamen, aber nicht unangenehmen Einsamkeit verschwanden aber sofort, als ich in den See blickte. Da bewegte es sich etwas unter dem Wasser. Meine Mutter erschrak, mein jüngerer Bruder und ich wurden neugierig und gingen sofort hin, ans Ufer des Mummelsees hinunter. Mein Vater zeigte keine Reaktion. Wir erkannten Tiere, es wimmelte von Molchen, sie glänzten, schwammen und tauchten sehr wendig und zeigten ein bisschen Angst vor uns. Es waren Bergmolche, die ich bis dahin nur aus Büchern gekannt hatte. Die Männchen haben blaue Rücken während der Paarungszeit, die im Wasser stattfindet. Die Molche zogen mich so an, dass ich unbedingt welche haben wollte, für unser Terrarium. Meine Eltern erlaubten mir schließlich, zwei Paare mitzunehmen. Da die Tiere in Schwärmen schwammen, waren sie leicht zu fangen. (Ich kann mir aber vorstellen, dass es heute nur noch wenige von ihnen gibt.)
Nach ein paar Tagen im Terrarium schwamm einer der Molche mit dickem Bauch an der Wasseroberfläche. Tauchen konnte er nicht mehr. Im Inneren des bedauernswerten Molches musste Luft gewesen sein und ich machte mir schwere Vorwürfe, das Tier aus dem Mummelsee geholt zu haben. So sammelte ich alle möglichen Insekten, Würme und Spinnen, weil ich vermutete, dass mit der Nahrung etwas nicht stimmen würde. Ich habe aber nicht gesehen, dass die Molche gefressen hätten. Am nächsten Tag schwamm der zweite Molch mit einem geblähten Bauch auf dem Wasser. Ich bat meinen Vater, mit mir an den Mummelsee zu fahren, um die Tiere zurückzubringen. Es war aber zu weit und mein Vater war beruflich beschäftigt. So setzte ich die vier Bergmolche in einem Tümpel in unserer Nähe aus, denn ich war überzeugt, dass ihnen etwas aus der Natur fehlte, was ich nicht finden würde. Die Molche verschwanden gleich in Uferpflanzen. Für eine kurze Zeit bekam ich ein einigermaßen gutes Gewissen. Trotzdem hatte ich etwas Böses getan. Am folgenden Tag suchte ich mit meinem Bruder nach den Molchen, weil ich sie mit meinem Vater an den Nonnenmattweiher bringen wollte. Dieser See wäre ähnlich mummelig wie die ursprüngliche Heimat der Tiere, und nicht so weit für uns. Aber wir fanden die Molche nicht mehr. Nie mehr.
Vielen Dank für Deine Geschichte.
Herzliche Grüße
Fugu

 
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Hallo Fugusan,

wow, jetzt habe ich ganz gebannt deine Geschichte vom Mummelsee gelesen. Das ist so schön hier im Forum und generell am Schreiben, dass Geschichten bei jedem andere Assoziationen und Erinnerungen wecken. Dass den Mummelsee so viele hier kennen, hätte ich gar nicht gedacht.

Eigentlich hat mir fast alles gefallen. Nur würde ich dem Carsten ein Ziel geben, warum er unbedingt an den Mummelsee gehen will, und nicht einfach nur, seinen Heldenmut gegenüber seiner Freundin beweisen zu wollen.
Interessant, dass du Carsten so siehst. In meinem Kopf will er nämlich keinen Heldenmut beweisen. Mystische Geschichten erinnern ihn an seine Kindheit und seinen Vater – deshalb will er ungedingt zum Mummelsee. Das sollte in dem Rückblick deutlich werden, als erzählt wird, wie Carsten überhaupt von dem See erfährt. Darum geht es ihm. Nicht darum, seinem Mädchen etwas zu beweisen. Ich sehe mir mal an, ob ich das noch besser herausarbeiten kann.

Gespannt habe ich deine darauffolgenden Worte gelesen. Es ist schon abgefahren, dass du sagst, deine Erinnerungen an den See seien sehr ähnlich wie die Beschreibungen in meiner Geschichte. Da ich noch nie an diesem See war, habe ich mir diese Beschreibungen und Stimmungen durch Bild- und Kartenrecherche zusammengebastelt. Richtig froh bin ich, dass das funktioniert hat, weil natürlich die leise Befürchtung schon da war, irgendein wichtigtes Detail über den See übersehen zu haben.

Trotzdem hatte ich etwas Böses getan.
So drastisch würde ich das nicht ausdrücken. Du wolltest sie ja nicht quälen. Sondern warst neugierig und wolltest ihnen ein anderes Heim bieten. Ich bin mir sicher, die zwei, die du eigenständig ausgesetzt hast, haben überlebt!

Vielen Dank für diesen schönen Kommentar!
RinaWu


Hallo JoGy,

und wieder ärgere ich mich, dass diese Geschichte nicht von mir ist!
Das ist lieb von dir, danke! Freut mich total, dass du meinen Text als besonders und spürbar empfunden hast. Vor allem das Spürbare ist mir total wichtig.

Sehr gerne gelesen. Diese Geschichte schreit förmlich nach einer Veröffentlichung außerhalb dieses Forums.
Ich habe diese Geschichte vor einem Monat für einen Wettbewerb eingeschickt. Also bevor ich sie hier eingestellt habe mit einem etwas anderen Ende. Bisher habe ich noch keine Rückmeldung, mal sehen ;)

Danke dir für deine aufbauenden Worte!
RinaWu

 

Hallo Ronnie,

das sind wirklich nur minimale Änderungen. Nachdem du geschrieben hattest "Der badische Dialekt ist leider nicht getroffen" habe ich da mit mehr gerechnet ;) Das "bissel" habe ich geändert, das könnte wirklich eher zum Schwäbischen tendieren. Und das "sag e mol" fand ich auch charmant. Alles andere habe ich so gelassen, wie von wieselmaus vorgeschlagen, denn "sell" kenne ich selbst als Wort in dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Genauso wie "duuret" oder "eini".

Danke dir und viele Grüße
RinaWu


Hallo JoGy,

ja, ich denke so ähnlich, dieses Ende hier gefällt mir mittlerweile auch viel besser. Aber was soll man machen, vor einem Monat war das noch anders und da habe ich sie schon verschickt. Sehen wir mal, was daraus wird.

Gibt es eigentlich keine Möglichkeit, eine Wortkrieger-Anthologie rauszubringen?
Die gibt es sicher. Es muss halt nur jemand machen. Und da das viel Arbeit ist und alle hier auch in dem lästigen Ding namens Alltag gefangen sind, ist der Zeitaufwand wahrscheinlich zu groß. Denk ich mir mal so.

Liebe Grüße
RinaWu

 

Einen Verlag bräuchte man nicht mal unbedingt, wenn man sich entschließt, das Ganze im Eigenverlag über Amazon oder ähnliche Anbieter zu veröffentlichen. Aber auch da steckt dann sehr viel Arbeit dahinter ...

Klar, die Idee ist nicht schlecht :thumbsup:

Einen schönen Tag dir noch
RinaWu

 

Hey RinaWu

Ich mag schaurige Geschichten - deshalb gefiel mir deine Story von Anfang an. Du erzeugst eine düstere und gleichzeitig wahnsinnig ruhige Stimmung, in welcher sich die Angst der Protagonistin voll entfalten kann. Im ersten Drittel der Geschichte dachte ich erst, dass Carsten womöglich vor hat, seine Verlobte umzubringen (hab wohl zu viele Horrorfilme gesehen), v.a. wegen diesem Satz

Carstens blaue Augen wirkten trüb, dunkler als sonst.

Da dachte ich, dass womöglich mit Carsten etwas nicht so ganz stimmt.

Der Spannungsaufbau funktioniert ziemlich gut, jedoch geht er für mich nicht bis zum Äussersten. Das Ende der Geschichte ist denn auch vorhersehbar, da es mehr oder weniger der Erzählung der Grossmutter entspricht. Trotzdem finde ich, dass du es sehr gut hinbekommen hast, eine düstere Atmosphäre zu schaffen - deine Sprachbilder gefallen mir. Du erzählst detailliert, ohne ausschweifend zu werden.

Gern gelesen!

Herzlich, nevermind

 

Hey nevermind,

vielen Dank für deine Worte! Es ist toll zu hören, dass das Schaurige bei dieser Geschichte rüberkam, vor allem bei Menschen – zu denen auch du zu gehören scheinst –, die gerne Gruselgeschichten lesen, bzw. Horrorfilme schauen, weil da (wie ich aus eigener Erfahrung weiß) ja oft schon eine gewisse Routine da ist. Also man weiß, was kommt, man kennt die typischen Erzählmuster, usw.

Ja, der liebe Carsten, der ist mir irgendwie auch nicht so geheuer. Den Satz, den du zitiert hast, kann man durchaus als Zeichen unlauterer Absichten deuten. Ich dachte dabei eher an eine Art Vorzeichen. Der Wald wirkt fremd, Carstens Augen trüb und dunkel. So wie später auch in seinem Blick abzulesen ist, dass er irgendwohin abdriftet, wo ihn Hanna nicht mehr erreicht.

Der Spannungsaufbau funktioniert ziemlich gut, jedoch geht er für mich nicht bis zum Äussersten. Das Ende der Geschichte ist denn auch vorhersehbar, da es mehr oder weniger der Erzählung der Grossmutter entspricht.
Ja, das stimmt. Ich denke viel über diese Geschichte nach und warte auf Inspiration ... Vielleicht finde ich irgendwann ein anderes Ende, eines, das nicht so vorhersehbar ist. Dann melde ich mich auf jeden Fall.

Danke dir & liebe Grüße
RinaWu

 

Lieber JoGy,

wenn, dann würde ich die Geschichte komplett überarbeiten, also versuchen eine ähnliche Stimmung zu erzeugen, aber eben mit Elementen, die vielleicht origineller sind. Oder aber eine bekannte Kulisse und eine Wendung, die überraschender kommt. Bei dieser Geschichte einfach nur das Ende zu ändern, das mache ich nicht, keine Sorge.

Ich gebe dir recht, vorhersehbar ist nicht gleich schlecht. Das stimmt. Dennoch muss ich vielen hier recht geben, dass es durchaus drin sein könnte, da etwas Originelleres zu erzählen. Das meine ich mit "ich warte auf Inspiration". Und sollte mir eine Idee kommen, setze ich mich komplett von vorne an die Geschichte und sehe mal, was daraus wird.

Aber danke dir für deine Worte, schön zu hören!
RinaWu

 

Hey RinaWu

Ich nochmals:) Wollte nach dem Kommentar von JoGy nur noch klarstellen: Ich wollte nicht sagen, dass vorhersehbar automatisch schlecht ist, das ist es ganz und gar nicht, nein, gewisse Geschichten leben sogar gerade davon. Ich glaube aber, dass Vorhersehbarkeit in einer Horrorstory, welche Spannung erzeugen soll, eher hinderlich ist. Wenn ich mir z.B. einen Horrorstreifen ansehe und schon nach 10 Minuten das Gefühl habe zu wissen, wie er ausgeht, dann bin ich am Schluss im Regelfall weniger begeistert, als wenn ich überrascht werde... Aber das ist nur meine Meinung:)

Trotzdem, wie gesagt, eine gelungene Geschichte. Auch das Ende gefällt mir, nur eben, eine Überraschung zum Schluss würde dem Ganzen vielleicht noch mehr Würze verleihen.

Herzlich, nevermind

 

JoGy,

also: Vielleicht habe ich einfach zu viele Horrorfilme, Psychothriller, Real-Crime-Stories, usw. gesehen, als dass mich noch irgendwas schocken könnte. Aber wenn die Oma sagt, geh da nicht hin, solche Orte lässt man lieber in Frieden - ist dann nicht klar, was dort passiert? Vorher ist ja schon die Rede davon, dass Menschen wie in Trance in den See gegangen sind, dass Menschen verschwunden sind. Klar, man weiss nicht wie genau die Menschen verschwinden, aber wenn man ein bisschen Horror-Erfahrung und eine entsprechende Phantasie hat, dann ist einem auch das mehr oder weniger klar, so viele Möglichkeiten gibts denn auch nicht...

Ob du meinen Standpunkt verstehen magst oder nicht - ich habe eigentlich geantwortet, weil ich RinaWu erklären wollte, dass eine Horrorstory möglicherweise besser wird, wenns am Ende noch eine Überraschung gibt. Ob dies notwendig ist oder nicht, das überlasse ich ihr:)

Lg, nevermind

 

Liebe nevermind,
lieber JoGy,

ui, jetzt sehe ich gerade diesen kleinen Dialog zwischen euch und möchte dazu auch noch kurz etwas sagen: nevermind ist nicht die einzige, die die Vorhersehbarkeit der Geschichte erwähnt hat, und damit haben die Kritiker auch recht. Ich war trotz dieses Kritikpunktes aber froh, dass zumindest die Atmosphäre und der Spannungsaufbau gepasst hat. Das ist mir schon viel wert. Am Ende geht auf jeden Fall noch mehr, nur bin ich dazu leider gerade nicht in der Lage, weil mir schlichtweg die Idee fehlt. Auch ich habe schon viele Gruselfilme gesehen und Horrorgeschichten gelesen und komme da einfach nicht über den Punkt hinaus "das gab es doch alles schon". Sollte da irgendwann eine Eingebung kommen, setze ich mich auf jeden Fall nochmal an so eine Geschichte, denn eine Herausforderung war es und Spaß gemacht hat es auch.

JoGy, das alles widerspricht aber nicht dem, was du schreibst. Für dich liegt die Überraschung darin, dass beide wirklich untergehen. Kein letzter Hoffnungsschimmer, kein letzter Überlebender. Und es freut mich sehr, dass dieses Ende bei dir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

So oder so, beide Gesichtspunkte sind wichtig für mich.
Liebe Grüße an euch!
RinaWu

 

Liebe RinaWu

Ende April: ich erwarte sonnigere Tage, Blüten, eine liebliche Stuimmung und was passiert: ich fahre durch Mainz, an den alten Stadtmnauern entlang, an den Überresten aus der Römerzeit. Der Himmel ist grau und aus diesem Himmel, völlig unvermittelt, prasseln kleine Eisbröckchen, ein Hauch von Schnee. Was ist das?

So machst du es mit deioer Geschichte. Aus dem Nichts einer romantischen Urlaubsstimmung kommt das Grauen, nach und nach, Stephen-King-mäßig, mystisch, organisch. Ist ein gut gemachter Text mit der richtigen Dosierung. Behäbig Exposition, kitschig-verliebtes Paar, das undurchsichtige Wirtspaar, die Warnungen, die in den Wind geschrieben werden, eine alte Sage, die sich erfüllt, der Untergang, der wie eine Hochzeit im See daherkommt (die stärkste Passage, da schaffst du es zu zeigen, was Liebe, soweit man daran derart romantisch glaubt, vermag).

Viel für einen vergleichsweise kurzen Text. Klasse!

Ich schau mal in den Text:

gegen eine Wurzel, die sich aus der Erde gekämpft hatte. Der schmale Wanderweg war durchfressen von ihnen, schon drei Mal war Hanna gestolpert.
super, hier deutest du das Ungewöhnliche bereits an

Jetzt wurde der Wald zum Fremden.
klingt merkwürdig, vielleicht: Der Wald änderte sich, war fremd...

Selbst die Vögel schwiegen. Nur ihre Schritte durchbrachen die Stille.
dieses Stille, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen

„Mach dich nur lustig über mich.“ Hanna streckte ihm die Zunge heraus.
Zunge rausstrecken, macht man das? :)

„Hanna, wir sind mitten im Wald. Ich höre ständig irgendetwas knacken oder rascheln.“
erst ist es still, dann hört er doch wieder rascheln und knacken ?

Irgendwann hatte Hanna Carsten von diesem Gespräch erzählt. Er bekam sofort rote Flecken auf den Wangen, kreisrund und leuchtend. „Das muss ich sehen!“ Er war vernarrt in deutsche Sagen. Eine Kindheitserinnerung an seinen Vater, der ihn oft mitgenommen hatte auf seinen Touren quer durch Deutschland, auf den Spuren der alten Geschichten.
brauchst du wirklich die Erklärung, warum Carsten begeistert ist? und rote Wangen?

dass dich ein paar Meerjungfrauen einschüchtern?“
meerjungfrauen? das ist doch ein See...

„Klar will ich das“, nuschelte er und küsste sie auf die Stirn. Eine Minute später war er eingeschlafen.
so eine Liebesszene wäre irgendwie besser.. jetzt schläft er einfach ein...

Ja: und wie gesagt: der Schluss hat einen Sog, ich sehe die Treppen vor mir und würde auch mitgehen. :Pfeif:

viele Grüße
Isegrims

 

Hallo Isegrims,

schön, von dir zu lesen, und danke, dass du meine Geschichte kommentiert hast. Ja, frag mal, das Wetter ist zum Gruseln. Denn hier in München ist es tatsächlich so, erst Sonnenschein, fünf Minuten später Schneesturm, dann Platzregen und wieder Schnee. Nee nee, schön ist anders!

Aus dem Nichts einer romantischen Urlaubsstimmung kommt das Grauen, nach und nach, Stephen-King-mäßig, mystisch, organisch.
Wow, danke. Da zauberst du mir, als altem Stephen-King-Fan, aber ein stolzes Lächeln auf’s Gesicht!

Und ja klar streckt man die Zunge heraus. Du etwa nicht? Ich mach das sehr gerne. Gehört auch zu den kleinen Dingen aus der Kindheit, die ich mir bewahre.

Die Stille und das Rascheln und Knacken müssen sich nicht unbedingt widersprechen finde ich. Denn die Stille wird von Hanna beschrieben, das Rascheln und Knacken wird von Carsten erwähnt. Also das eine ist Hannas Empfindung, das andere Carstens. Ich überlege mal, wie ich das noch besser machen kann.

Ja, ich denke, ich brauche die Erklärung, warum Carsten begeistert ist. Man erfährt sonst schon sehr wenig über ihn, da ist dieser eine Satz an Hintergrundinfo nicht verkehrt, glaube ich.

Gibt es nicht auf Meerjungfrauen im See? Die heißen doch dann nicht Seejungfrauen ... Oder irre ich mich da? Ich dachte immer, Meerjungfrauen kann es überall geben, wo es Wasser gibt.

Und eine Liebesszene, oha Isegrims, das lasse ich lieber. Das könnte ordentlich in die Hose gehen. Ist auch noch so eine Herausforderung, mal was schreiben, was knistert. Aber das übe ich erstmal heimlich im stillen Kämmerlein.

Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat!
Liebe Grüße
RinaWu

 

Hallo RinaWu,

ich verfolge gespannt, wie es mit deiner Geschichte weitergeht. Also beklagen kannst du dich nicht über die Resonanz :thumbsup:.
Eine Anmerkung noch: Der Ausdruck "Meerjungfrau" hat mich auch etwas gestört, zumal ich dachte, dass Carsten auf Grund seines Interesses an Sagen wissen könnte, dass es keine Meerjungfrauen in Seen gibt. Versuchs mal mit "Nymphen". So werden, glaube ich, auch bestimmte Libellenarten genannt, und die passen bestimmt zu verwunschenen Seen. Da hättest du auch nochmals einen Hinweis, warum Sagen entstehen.

Grüße vom Zweitälerland, wo wir auch gerade mit em Aprilwetter kämpfen.
wieselmaus

 

Liebe wieselmaus,

die Resonanz ist toll, ich freue mich auch sehr darüber!

Danke für die Idee, "Nymphe" klingt gut. Hat auch gleich so etwas Mystisches und sogar ein bisschen Verruchtes =) Das nehme ich. Danke dir!

Liebe Grüße aus München, wo nun nach einem Schneesturm der Himmel plötzlich wieder strahlend blau ist!
RinaWu

 

Hallo RinaWu,
es haben ja schon sehr viele Leute viel zu deiner Geschichte gesagt, deshalb werde ich nicht ausschweifen.

Die vielen Kommentare haben mich zum Lesen veranlasst, denn meist die Geschichte dann sehr gut, sehr schlecht oder skandalös. Ja, ich schwimme mit dem Strom. :)

Allerdings trifft in meinen Augen keins von den dreien zu.
Aber der Reihe nach.

Du schreibst sehr gut. Äußerst sicher, meist schön schnörkellos (bestimmte Adjektive hätte ich gestrichen, aber meine Meinung ist nicht unbedingt die Wichtigste). Insgesamt gefällt mir dein Stil sehr. Es wirkt, als hättest du schon einiges geschrieben und als wolltest du eine Geschichte erzählen, nicht mit dem Stil prahlen.

Dann: Ein Wald (ich war allerdings selbst noch nie im Schwarzwald) ist ein hervorragendes Setting, denn wer gruselt sich nachts in einem Wald nicht? Und ein See? In vielen Horror-Streifen ein beliebtes Plätzchen, weil er nachts so schön dunkel und undurchsichtig ist und man nicht weiß, was alles in ihm haust.
Das ist aber auch mein Problem mit der Geschichte: Sie erzählt nicht viel Neues, denn leider kennt man so einiges schon davon. Klar, das muss nicht schlecht sein und dadurch, dass du gut erzählst, liest man die Geschichte gern zu Ende. Aber man weiß eben schon, wie es ausgeht.
Dass Carsten letztendlich dem Ruf dieser Frauen, Nonnen, Sirenen, Meerjungfrauen, etc. folgt ist eigentlich schon klar, als sie das erste Mal erwähnt werden. Klar, du musst eine Spur legen (er ist der von Sagen bzw. Übernatürlichem begeisterte), aber dadurch ist es nur logisch, dass er in den See geht.
Mit anderen Worten: Man weiß als Leser, was passiert, nur habe ich keine Idee, wie man das ändern könnte.
Super hilfreich, ich weiß. :)

Trotzdem habe ich die Geschichte gern gelesen. Sie baut Atmosphäre auf, was unter Berücksichtigung der Kürze schon sehr gut ist, und man will sie zu Ende lesen.

LG
Tamira

P.S.: Zu erwähnen wäre vielleicht, dass ich extrem viel Horror lese, gucke, etc. und daher natürlich schon alles mögliche zigmal gesehen oder gelesen habe. Daher ist deine Geschichte nur ein Snack für zwischendurch.

P.P.S.: Sollte ich Wirrwarr geschrieben haben, mache ich die Uhrzeit dafür verantwortlich. :)

 

Hallo Tamira,

vielen Dank erst einmal für dein Lob, es freut mich sehr, dass dir mein Stil gefällt. Du hast recht, ich wollte hier einfach eine Geschichte erzählen. Ausgangspunkt war ja ein Schreibwettbewerb, bei dem ich die Geschichte eingereicht habe (natürlich bevor ich sie hier eingestellt habe!). Das Thema war mysteriöser Schwarzwald. Daher war mir eben besonders wichtig, eine Geschichte zu erzählen und vor allem eine Stimmung zu erzeugen, die speziell an den Schwarzwald gebunden ist.

Mit deiner Kritik, dass hier nichts Neues erzählt wird, stehst du nicht alleine da. Das haben schon mehrere vor dir bemängelt und das haben wir bereits eingehend besprochen, deshalb will ich jetzt nicht alles wiederholen ;) Nur so viel: Ich verstehe, was du meinst. Nur ging es mir eben genau darum, mich mal an einer klassischen Gruselgeschichte zu versuchen. Ob ich überhaupt so eine Stimmung hinkriege. Dass ich dabei das Rad nicht neu erfinde, war mir klar. Das ist im Genre Grusel aber auch sehr sehr schwer, wie du selbst schon gesagt hast. Ich selbst schaue und lese viel davon und es gibt gefühlt nichts, was es noch nicht gab ...

Dennoch vielen Dank für deine Worte, ich bin froh, dass zumindest die Atmosphäre bei dir funktioniert hat, das ist doch schon mal etwas :shy:

Viele Grüße
RinaWu

 

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