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Seelenschwimmen
Sie saßen sich gegenüber.
Der Raum war erfüllt von Geheimnissen, die sie vorsichtig nach und nach gelüftet hatten, von Schmerz, riesenhaft, von Vertrauen, das noch auf zittrigen Beinen stand. Eigentlich genug für einen Abend.
Doch sie wollte es ihm jetzt sagen.- Vielleicht aus der verqueren Hoffnung heraus, er würde nicht weggehen, wenn er noch mehr wüsste, aber auch, weil es ihr gefiel, wie sie sein Innerstes mit ihrer eigenen Geschichte erreichte. Sie konnte ihn berühren wie nie zuvor, sie hatte die Macht, ihn zum Weinen zu bringen. Mehr wollte sie davon, mehr von seinen Tränen, die er über ihr Leben weinte, über ihr Schicksal.
Es tat gut, so gut, sein Mitgefühl zu haben, auch wenn er sehr nah gekommen war und sie spürte, wie er alle schützenden Mauern um sie herum nach und nach einfach einriss. Sie ließ es zu, weil sie ihn mochte, und noch mehr brauchte sie ihn. Und sie wusste, dass sie Menschen nur dauerhaft halten konnte, wenn sie etwas von sich preisgab. Erst dann wurde sie interessant.
Wenn etwas ausgesprochen ist, sitzt es nicht mehr wie ein lauernder Dämon hinter der Stirn, dauernd eingreifend und mitbestimmend, weil es heraus möchte.
Erstaunlich, dass etwas so Unvollkommenes wie Worte derart befreien können.
Jetzt durchfuhr sie jedoch die Panik und verschnürte ihr die Kehle.
,Schneller reden als denken!', befahl sie sich.
"Hast du eigentlich schon meine Beine gesehen?", fragte sie ihn, mit einem bescheuerten, hilflosen Grinsen. Er verstand nicht- wie sollte er auch?
Trotzdem: "Ich geh jetzt kurz auf die Toilette, und wenn ich wiederkomme, zeigst du mir mal, was so Besonderes an deinen Beinen sein soll, einverstanden?" "In Ordnung."
Wieder dieses Grinsen, diesmal aber vermischt mit ein bisschen Stolz, weil sie den Anfang geschafft hatte, der Anfang war jedes Mal das Schwierigste. Außerdem war sie neugierig auf ihn, auf seine Reaktion, auf das, was sie in ihm auslösen konnte.
Als er zurückkam, zeigte sie ihm ihr linkes Bein. In dem dunklen, grünlichen Licht, das von seiner selbstgebauten Lampe ausging, sah man nur die frischen Narben; die breiten, roten Linien, die von den klaffenden Schnittwunden stammten, und die roten Punkte- verbranntes Fleisch.
Er war verunsichert.
"Das sind jetzt noch meine letzten, dunklen Geheimnisse", sagte sie, ihre Stimme gehorchte gut, und so versuchte sie ein Lachen. "Sollen wir es dabei belassen für heute?", er flehte fast darum.
Doch dann fragte er. Und sie erzählte von ihrem inneren Schmerz, der größer war als jeder, den sie sich je durch Selbstverletzung zufügen konnte.
"Achtung, ich fass dich jetzt an", warnte er, denn er wusste, dass sie Berührungen manchmal nicht mochte.
Er packte ihre Knie. Es machte ihr jetzt Angst, dass es ihn so mitnahm. Seine Unterlippe zitterte. Er war jetzt wie ein kleines Kind, das lieber in einer heilen Traumwelt geblieben wäre, als die Wahrheit zu erfahren, das schreckliche, nackte Angst hatte vor dem Unbekannten und zurückschreckte vor ihrem Elend.
"Ich möchte, dass du mir versprichst, das nie wieder zu machen", sagte er, weinend, die Hände auf ihren Knien.
Sie hätte fast gelacht. Es war schön und schrecklich zugleich. Sie fühlte sich so stark und doch so schwach, sie zitterte.
In diesem Moment liebte sie ihn ein bisschen und verachtete ihn zugleich. Seine Bitte war einfach zu kindisch, zu typisch, sie hatte zu oft in Berichten von anderen Frauen gelesen, dass Männer so reagierten.
"Es geht nicht," sie erklärte es ihm: "Es ist eine Sucht. Aber ich kämpfe, jeden Tag."
Sie redeten lange. Später sagte er, er hätte lieber nicht den Grund für ihre Narben erfahren. Sie merkte, wie sie schnell ihr Inneres wegzog, weg von ihm. Bloß keine Verletzung. Die Distanz tat aber genauso weh.
"Das ist feige von dir", sagte sie ruhig und schaute ihn fest an, "aber... ich hätte es dir natürlich lieber erspart." Das stimmte irgendwie.
Er schaltete jedoch schnell um und sagte ab jetzt nur noch Vernünftiges. Er gab zu, überfordert zu sein.
Der Raum war jetzt so voller Emotionen, dass sie beide fast darin ertranken. Da kehrte ihr Inneres in ihrer beide Mitte zurück und badete sich nackt in diesem Moment.
Als sie schlafen gingen, umarmte er sie das erste Mal, und sie wusste, dass er zu ihr zurückkehren würde, immer wieder.