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Seelenschwimmen

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10.09.2004
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Seelenschwimmen

Sie saßen sich gegenüber.
Der Raum war erfüllt von Geheimnissen, die sie vorsichtig nach und nach gelüftet hatten, von Schmerz, riesenhaft, von Vertrauen, das noch auf zittrigen Beinen stand. Eigentlich genug für einen Abend.
Doch sie wollte es ihm jetzt sagen.- Vielleicht aus der verqueren Hoffnung heraus, er würde nicht weggehen, wenn er noch mehr wüsste, aber auch, weil es ihr gefiel, wie sie sein Innerstes mit ihrer eigenen Geschichte erreichte. Sie konnte ihn berühren wie nie zuvor, sie hatte die Macht, ihn zum Weinen zu bringen. Mehr wollte sie davon, mehr von seinen Tränen, die er über ihr Leben weinte, über ihr Schicksal.
Es tat gut, so gut, sein Mitgefühl zu haben, auch wenn er sehr nah gekommen war und sie spürte, wie er alle schützenden Mauern um sie herum nach und nach einfach einriss. Sie ließ es zu, weil sie ihn mochte, und noch mehr brauchte sie ihn. Und sie wusste, dass sie Menschen nur dauerhaft halten konnte, wenn sie etwas von sich preisgab. Erst dann wurde sie interessant.

Wenn etwas ausgesprochen ist, sitzt es nicht mehr wie ein lauernder Dämon hinter der Stirn, dauernd eingreifend und mitbestimmend, weil es heraus möchte.
Erstaunlich, dass etwas so Unvollkommenes wie Worte derart befreien können.

Jetzt durchfuhr sie jedoch die Panik und verschnürte ihr die Kehle.
,Schneller reden als denken!', befahl sie sich.
"Hast du eigentlich schon meine Beine gesehen?", fragte sie ihn, mit einem bescheuerten, hilflosen Grinsen. Er verstand nicht- wie sollte er auch?
Trotzdem: "Ich geh jetzt kurz auf die Toilette, und wenn ich wiederkomme, zeigst du mir mal, was so Besonderes an deinen Beinen sein soll, einverstanden?" "In Ordnung."
Wieder dieses Grinsen, diesmal aber vermischt mit ein bisschen Stolz, weil sie den Anfang geschafft hatte, der Anfang war jedes Mal das Schwierigste. Außerdem war sie neugierig auf ihn, auf seine Reaktion, auf das, was sie in ihm auslösen konnte.
Als er zurückkam, zeigte sie ihm ihr linkes Bein. In dem dunklen, grünlichen Licht, das von seiner selbstgebauten Lampe ausging, sah man nur die frischen Narben; die breiten, roten Linien, die von den klaffenden Schnittwunden stammten, und die roten Punkte- verbranntes Fleisch.
Er war verunsichert.
"Das sind jetzt noch meine letzten, dunklen Geheimnisse", sagte sie, ihre Stimme gehorchte gut, und so versuchte sie ein Lachen. "Sollen wir es dabei belassen für heute?", er flehte fast darum.
Doch dann fragte er. Und sie erzählte von ihrem inneren Schmerz, der größer war als jeder, den sie sich je durch Selbstverletzung zufügen konnte.
"Achtung, ich fass dich jetzt an", warnte er, denn er wusste, dass sie Berührungen manchmal nicht mochte.
Er packte ihre Knie. Es machte ihr jetzt Angst, dass es ihn so mitnahm. Seine Unterlippe zitterte. Er war jetzt wie ein kleines Kind, das lieber in einer heilen Traumwelt geblieben wäre, als die Wahrheit zu erfahren, das schreckliche, nackte Angst hatte vor dem Unbekannten und zurückschreckte vor ihrem Elend.
"Ich möchte, dass du mir versprichst, das nie wieder zu machen", sagte er, weinend, die Hände auf ihren Knien.
Sie hätte fast gelacht. Es war schön und schrecklich zugleich. Sie fühlte sich so stark und doch so schwach, sie zitterte.
In diesem Moment liebte sie ihn ein bisschen und verachtete ihn zugleich. Seine Bitte war einfach zu kindisch, zu typisch, sie hatte zu oft in Berichten von anderen Frauen gelesen, dass Männer so reagierten.
"Es geht nicht," sie erklärte es ihm: "Es ist eine Sucht. Aber ich kämpfe, jeden Tag."
Sie redeten lange. Später sagte er, er hätte lieber nicht den Grund für ihre Narben erfahren. Sie merkte, wie sie schnell ihr Inneres wegzog, weg von ihm. Bloß keine Verletzung. Die Distanz tat aber genauso weh.
"Das ist feige von dir", sagte sie ruhig und schaute ihn fest an, "aber... ich hätte es dir natürlich lieber erspart." Das stimmte irgendwie.
Er schaltete jedoch schnell um und sagte ab jetzt nur noch Vernünftiges. Er gab zu, überfordert zu sein.
Der Raum war jetzt so voller Emotionen, dass sie beide fast darin ertranken. Da kehrte ihr Inneres in ihrer beide Mitte zurück und badete sich nackt in diesem Moment.
Als sie schlafen gingen, umarmte er sie das erste Mal, und sie wusste, dass er zu ihr zurückkehren würde, immer wieder.

 

Hi!

Cool geschrieben. Feine Andeutungen, eine wie ich finde sehr passende Erzählperspektive. Mir gefällt es, wie Du es schaffst, Emotionen aus der erzählerischen Distanz zu beschreiben mit kaum oder nur feinen Kommentaren.

Aber drei Probleme:

1) mit der Geschichte: Wenn es tatsächlich um Selbstverstümmelung geht, ist das für mein Empfinden ein zu exotisches Thema, um mit so wenigen Andeutungen auszukommen. Gerade die Parts nach der Erwähnung hätte ich mir etwas konkreter gewünscht. Du schreibst, dass die beiden sich noch lange unterhalten. Danach weiß der Typ mehr als der Leser. Du schreibst: Später sagte er, er hätte es lieber nicht erfahren. [...] "Das ist feige von dir",

Dadurch, dass der Leser weniger weiß, hat er gar keine Chance, nicht feige zu sein. Falls der Leser sich zutraut, als Typ stärker zu sein als der beschriebene, hat er das Problem, dass die Geschichte ihn nicht näher ran lässt. Das macht mich ein wenig ratlos... oder liegt's am fehlenden Morgenkaffee?

2) Du schreibst, dass die Typen so sind, wie sie es GELESEN hat. Das ist einer dieser ratlosen Punkte. Das Thema ist zu unbekannt, um dem Leser jetzt zu überlassen, das zu deuten. Ist das nun ihr erster Versuch mit Männern? Ist es normal, dass die Verstümmler sich vorher kundig machen, wie Beziehungen funktionieren? Wie alt ist sie?

3) Du schreibst, sie verachte und liebe ihn zugleich. Und dass sie Macht über ihn ausüben wolle. Und das Ende klingt so, als würde das immer so bleiben, das klingt ja wenig versöhnlich. Da würde mich auch interessieren, ob diese Gespaltenheit bleibt. Ists normal, dass diese Leute jemanden verachten, der sie versucht ernst zu nehmen? Und dass trotz dieser Verachtung für sich selbst und dann auch für den Anderen der Wille kommt, Macht auszuüben? Das ist ja mit einer der interessantesten Aspekte bei diesem Thema, finde ich. Aber hier erfahren wir relativ wenig, vor allem ist nicht immer klar, was "normal" ist und was jetzt ihre Persönlichkeit ausmacht und vielleicht ein Weg weg von dieser Sucht ist. Da weiß ich einfach zu wenig von diesem Thema um wirklich beurteilen zu können, wie gut die Geschichte ist ;-)

Andererseits passt die Erzählperspektive so gut, dass Du auch schlecht den Erzähler mehr erklären lassen kannst. Vielleicht fehlt einfach Platz, also vielleicht müsste die Geschichte einfach in dem gleichen Stil etwas ausführlicher sein.

Dream Theater...

 

Hallo Zilla,

und erstmal herzlich Willkommen hier :)
Deine Geschichte hat mir gefallen. In wenigen Worten verdeutlichst du sehr viel. Du machst deutlich, dass Offenheit auch überfordern kann, anstrengend ist und die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz schwierig ist, selbst für gesunde Menschen wäre sie das. Die Brutalität, die Gewalt, die dadurch entsteht, sich dem anderen zeigen zu wollen, ist gut rübergekommen. Wenn man sich jemandem offenbart, hat man Macht über ihn, weil er verpflichtet ist sich zu kümmern. Eine subtile aber sehr häufige Art, Menschen unter Druck zu setzen. Dies bringt mich zu meinem einzigen Kritikpunkt: genau wie Dream Theater finde ich das Problem deiner Prot fast zu speziell. Zum einen wissen wir Leser nicht viel über das Phänomen und du deutest es auch nur an, andererseits halte ich die Kommunikation und die Gewalt, die Nähe auch erzeugen kann, für ein alltägliches Problem, dass du auch mit einem weniger brisanteren Geheimnis hättest verdeutlichen können.
Sehe ich darüber hinweg, finde ich deine Geschichte keineswegs zu kurz, die Andeutungen der Emotionen haben für mich ausgereicht. Die Perspektive finde ich ebenfalls gelungen. Falls du noch ein wenig näher ran gehen willst, könntest du noch versuchen, die Geschichte im Präsens zu erzählen.
Eine Anmerkung noch:

Ich geh jetzt kurz pissen
Dieser Satz passt nicht zur Sensibilität deiner Geschichte und zu den Emotionen deiner Personen ;)

Liebe Grüße
Juschi

 

hi dream theater, hi juschi,
vielen dank für eure konstruktive kritik, da ich noch ein ziemlicher schreibanfänger bin, kann ich die sehr gut gebrauchen.
zu punkt eins von dream theater: mit "es" ist in dem fall das selbstverletzen gemeint, also etwas, das der leser auch weiß, aber man bekommt den bezug an dieser stelle wohl nicht mehr.
zu punkt zwei muss ich mir noch überlegen, wie ich das mehr verdeutlichen kann, ohne zuviele worte hinzuzufügen.
und genau das ist allgemein das problem: ich weiß nicht genau, wie ich mehr erklären kann, ohne den stil der geschichte zu zerstören. werde mich da wohl noch mal dransetzen, wobei ich einiges bewusst nicht zu genau erklären möchte (das gefällt mir schlicht besser), aber der leser soll natürlich nicht komplett verwirrt werden ;-).

und zu juschis kritik: ich finde, dass in diesem extremfall die emotionen, die wohl jeder "normale" mensch schon erlebt hat, eben durch das "unnormale" besonders verdeutlicht werden. leider fällt wohl so die identifikation schwerer, zu schwer (?), aber es gibt gleichzeitig einen interessanten verfremdungseffekt- werd darüber nachdenken.
den "pissen"-satz werde ich verändern, darüber hatte ich schon vorher nachgedacht *g*.

liebe grüße,
Zilla

 

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