Was ist neu

Sie werden hängen

Mitglied
Beitritt
13.11.2002
Beiträge
666

Sie werden hängen

»Verdammt. Leer.«
Krokuschinski knüllte die Packung zusammen und warf sie einfach auf den Boden.
»Wir müssen einen kühlen Kopf behalten. Alles andere bringt uns nicht weiter.«
Pohlschröder lockerte seine Krawatte, während er dies sagte; sein Gesicht war schweißnass, sein Kopf alles andere als kühl - aber er hatte sich in dieser kleinen, eingekesselten Gruppe als Anführer herauskristallisiert, und so entwichen ihm alle paar Minuten Durchhalteparolen, ohne das er dies noch bemerkte.
»Ja, Ja. Kühler Kopf, hm? Wenn sie erst mal hier... eingedrungen sind, ist alles vorbei! «
Die Stimme von Frau Schell, eigentlich beherrscht, seitdem sie hier festsaßen, begann zu zerbröckeln: in ihrer Eigenschaft als Personalchefin war sie rethorisch geschult - jede verbale Entgleisung war ihr fremd, aber nun hatte die Zersetzung begonnen, und unter ihrem antrainierten Ton der Vernunft wurde eine kreischende Furie hörbar.
Sie waren seit neun Stunden hier, und die Bestien lauerten draußen.
Es waren hunderte.

Frau Schell begann leise zu weinen.
»Ich muss pinkeln«, schluchzte sie.
Pohlschröder, der sich vor einer halben Stunde in eine Blumenvase erleichtert hatte, zog die Augenbrauen hoch.
»Es ist für uns alle nicht leicht«, sagte er und schielte zum Fenster.
Kein Lkw in Sicht.
»Wenn der Laster kommt, schaffen wir es vielleicht über den Nebeneingang«, flüsterte Krokuschinski, während seine Finger wie zufällig und zum x-ten Mal sein Jackett nach Zigaretten abklopften.
»Sie«, kreischte die Schell, »haben uns in diesen Dreck doch hineingeritten, sie Idiot!
Sie haben es gutgeheißen! Jetzt bezahlen wir alle!«
Pohlschröder blickte erneut durch den Spion in der Bürotür. Seitdem sie sich verschanzt hatten, tat er das alle paar Minuten.
»Sie sind noch immer da.« Er schluckte. Die Glastür, der kurze Korridor - und wenn sie es schafften, ins Büro einzudringen, war alles zuende.
»Natürlich sind sie das. Wir müssen Ruhe bewahren!« Krokuschinski brachte es fertig, feierlich drein zu schauen. Hätte man die Augen geschlossen, wäre seine Demonstration von Entschlossenheit und Ruhe überzeugend gewesen; dummerweise starrten ihn alle an, und er gab in seinem durchgeschwitzten Einreiher und mit seiner klebrigen Nasskämmerfrisur keine gute Figur ab. Er war definitiv nicht Steve McQueen, er war nur ein Lamm - dummerweise kein schweigendes, was die Situation vielleicht verbessert hätte.
»Es sind noch mehr geworden«, sagte Pohlschröder. »Viel mehr.«
Der Blick durch den Spion gab ein verzerrtes Bild, aber er konnte trotzdem erkennen, dass es mindestens sechshundert waren.
Aufgesperrte Münder, rollende Augen, fahle Gesichter, Nägel, die über Sicherheitsglas kratzten.
Die Gier in den Gesichtern war das schlimmste, fand er.
»Der Wagen wird kommen und uns hier rausholen. Ganz sicher.«
Auch dieser Versuch misslang Krokuschinski.

»Der Laster sollte schon vor Stunden hier sein. Sie haben ihn erwischt! Erwischt und lahmgelegt! Niemand holt uns!«
Krokuschinski machte einen schnellen Schritt auf die Schell zu und versetzte ihr eine Ohrfeige; ihr teigiges Makeup verhinderte ein lautes Klatschen - stattdessen klang es, als schlüge man auf feuchten Apfelstrudel.
»Du hysterische Sau! Halt jetzt die Fresse, oder ich mach dich kalt! Der Lkw wird kommen!«
Pohlschröder konnte sich kaum noch an sein Leben draußen erinnern - erstaunlich, wenn man bedachte, dass es gerade mal einen Tag her war, seit sich sein Leben verändert hatte.
Zuerst konnte er der Nachricht im Radio keinen Glauben schenken.
Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen und den ersten Kaffee des Tages getrunken, als die Nachricht kam.
Der Sprecher hatte verlesen, dass mindestens fünfhundert dieser Kreaturen durch die Straßen zogen, eine gigantische, taumelnde Prozession, ein Mob auf der Jagd.
Ein einziges, kollektives, stumpfes Begehren.
Die Polizei war angerückt, beim Anblick der furchterregenden Massen allerdings auf Distanz geblieben, wie Pohlschröder mit tauben Lippen hörte.
Ausschnitte aus dem Polizeifunk waren zu hören, verstümmelt und rauschend zwar, aber trotzdem furchterregend:
»Es sind viele...mein Gott...so grell! Sie...sie kreischen... Schröder ist umgerissen worden...Grundgütiger, sie trampeln über ihn hinweg! Wasserwerfer? Negativ! Negativ!«
Dann erklang nur noch Rauschen.
Aber schon wenige Minuten später konnte Pohlschröder die Massen ohne Hilfsmittel hören.
Er betete still, dass seine Sünden ihm vergeben wurden; Gott hüllte sich allerdings in Schweigen, und Pohlschröder war sicher, er würde als ersten Vers »selbst schuld, Blödmann« lesen, wenn er die Bibel aufschlug, die in seiner Schublade gammelte - wenn sie nicht gerade als mobiles Schlachthaus für konzentrationsmindernde Fliegen herhalten musste.

»Sie brechen durch!« Krokuschinskis Stimme überschlug sich, und als sie ihren Purzelbaum beendet hatte, war der Abteilungsleiter in ihm verschwunden, um dem Bettnässer Platz zu machen, der er einst gewesen war.
Das Klirren von Glas war zu hören, dann das Stampfen vieler Füße.
Frau Schell kauerte neben dem Abfalleimer und wippte besorgniserregend vor und zurück; Pohlschröder beneidete sie insgeheim dafür.
Er, der Verursacher gegenwärtiger und kommender Leiden, würde sehenden Auges der Masse gegenübertreten müssen.
Der Lkw – das einzige Mittel, seinem Schicksal zu entfliehen – kam nicht; er glaubte nicht einfach nicht mehr daran. Es war lächerlich, überhaupt jemals daran geglaubt zu haben.
Plötzlich fühlte Pohlschröder eine tiefe Ruhe; sie war eine Welle warmer Dankbarkeit: er musste nicht mehr lange wie Vieh eingepfercht sein. Bald war es vorbei.
Er hatte den Bogen überspannt, und nun würde er zahlen.
Seine Rechnung war so simpel gewesen, die Formel hatte alle überzeugt – schneller Profit, und kein Gedanke daran, dass ihr Plan wider die Natur war.
Sie konnten nicht einfach der Evolution trotzen, sie verhöhnen; so etwas rächte sich immer.
Die Romane von Michael Crichton und das Leben lehrten dies.
Zu spät.

Die Bürotür splitterte, Krokuschinski wurde mehrere Meter weit in den Raum zurück katapultiert – und dann waren sie drin.
Die erste Welle greller Gestalten füllte das Zimmer aus, drängte Pohlschröder zurück hinter seinen Schreibtisch (wie passend, dachte er, der Kapitän geht nicht von Bord)- und dann setzte das Kreischen ein.
Pohlschröder schüttelte den Kopf, ohne es zu merken, während er flüsterte.
»Der Lkw«, wimmerte er, »der Lkw ist nicht gekommen. Es tut mir so leid.«
Eine der Gestalten trat auf ihn zu; sie knurrte, und ihre zu Krallen geformten Hände droschen auf den Schreibtisch und hinterließen ein Blatt Papier, Din A 5, vierfarbig bedruckt. Die Titelzeile war tiefschwarz.


»Unser Angebot: Push-Up Bh, alle Größen, nur 79 Cent!«

 

:rotfl:

Wie machst Du das nur immer? Kann nichts kritisieren. Aber irgendwie ein bißchen frauenfeindlich ist das schon ;) . Schade, daß ich nie einen Schlußverkauf mitgemacht habe, dann würde ich Dir vielleicht besser beipflichten können.

 
Zuletzt bearbeitet:

Tach, Vio.


Ich weiss meine Bürozeit eben auszunutzen...har har.
Danke!

Mit Push-up Bhs und Frauenfeindlichkeit ist es wie mit Ponchers Werwölfen in <Mondlicht>:
Wir schreiben mitunter darüber, wollen aber nix damit zu tun haben.

J.

 

Die Gefahren des Schlussverkaufs, wenn Frauen zu reissenden Bestien werden...ich hab mich vom Sessel gelacht (wörtlich zu verstehen)!:D
Am Anfang war ich verwundert, da die Geschichte ja unter "Humor" steht,für mich aber eher nach "Horror" aussah- nein, nicht aussah, das ist wirklich Horror. :rotfl:
Wunderbare Geschichte, köstlich, gemein- perfekt!

 

Hallo Jack, moment mal

erst mal zu vio, das ist wirklich Tatsache, geh mal an einem Donnerstagmorgen zu Aldi und versuch vielleicht für deinen Sohn eine Schneehose, die es gerade ab heute im Angebot gibt, zu ergattern. Ich kann dir sagen, tu es nicht. Wilde Bestien reißen dir die Hose wieder aus deinen Händen, wenn du nicht furchteinflößend genug dreinschaust. Hab es selbst erlebt.

nun zu dir Jack

meine Brille laß ich ja schon zum lesen deiner Geschichte auf dem Tisch liegen(zwecks Entfernung diverser Lachtränenreste) doch muß ich nun auch das Trinken von Tee während des Lesens lassen. Hab viele Pfutzschpritzer nun auf meinem Bildschirm. Danke Jack für die witzige Geschichte.

Morpheus immernoch grins

 

Hi Morpheus,

ja, das habe ich mir schon gedacht, deswegen habe ich auch ein bisschen relativiert. Das ist eigentlich auch der Grund, warum ich nie zu solchen Ansammlungen gehe ...

 

URALTE STORY,DAS!
Komplett verdrängt:-)

Vielen Dank für die freundlichen Anmerkungen....obwohl ich nun nicht finde, dass hier zwischen den etablierten Schreibern große Klüfte klaffen.

Echt!
Danke!

 

Hi Jack!

Ja, ich muss den anderen zustimmen. Sehr lustig und völlig unvorhersehbar geschrieben. Ich dachte an einen Zombiefilm.
Nur: das Dumme ist, dass es in der Rubrik Humor steht und somit eigentlich klar ist, dass es witzig enden muss.
Die Überraschung wäre weit größer, wenn man das nicht wüsste.
Dafür kannst du aber nichts.
Eine gelungene Story, stilistisch herausragend.

In diesem Sinne
c

 

Hi Jack!

Aus den tiefsten Tiefen der Humor-Rubrik kommt diese Story wieder hoch. Toll! Leider ist die Geschichte nicht ganz so gelungen. Sie ist einfach zu sperrig, der Humor lässt sich Zeit, und nur die Schlusspointe bringt einen auch nicht vor Lachen vom Stuhl. Deine anderen Geschichten, die von Wortwitz und Zoten nur so strotzte sind tausendmal besser.
Also, kein "rofl" diesmal, aber hey, nimms nicht persönlich! Die Sprache ist wie immer ausgereift, stilistisch sauber gehalten und mit verändertem Ende könntest du dein Machwerk locker in "Horror/Grusel" posten.

Klingt sehr hart diesmal, hm?

Greetz,

Lestat

 

Hi!
Chazar:Hast recht, genau wie Lestat.

Ich versuche gelegentlich, zwei Humorvarianten zu bringen: klassische Erzählweise mit klarer Pointe (Poe z.b, oder diese hier) oder ich knall ne Story mit Absurditäten voll.

Letzteres macht mehr Spass beim Lesen, denke ich.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom