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Sie
Blitze, aus Licht. Sie ziehen vorbei wie Wasser in einen sich schnell bewegenden Fluss. Der Mond spiegelt sich in tausenden Fenstern wieder. In jedem steht ein Gesicht und schaut. Alle sehen auf SIE… rennt um ihr Leben.
Ihre Lungen keuchen vor Erschöpfung, sie können den Sauerstoffandrang nicht verarbeiten. Alles Überschüssige setzt sich mit seiner Eiseskälte in ihrem Körper ab.
Die Gesichter sind anklagend, verwundert und verärgert. Sie verstehen nicht, wieso SIE läuft, wieso SIE weint und nicht einfach stehen bleibt. Der Verfolger, er ist schon ganz nahe. Ein langer schwarzer Umhang und eine grausame Maske verhüllen ihn. Das Messer, einen halben Meter lang, zittert in seiner Hand. Es weint vor Verlangen, es weint Blut. Das Monster ruft ihr hinterher: Bleib stehen!
SIE will aber nicht. Immer noch mobilisiert ihr Körper Energie. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man, wie ihre Haare von diesem Energieaufwand langsam weiß werden. Ihre Pupillen zucken wild umher; sie suchen etwas, Hilfe. Alle Bewohner haben ihre Türen verschlossen, und keiner, nicht einmal die herzensguten unter ihnen, machen ihr das eigene Haus zum Versteck. Keiner, hörte SIE sich sagen, keiner von euch hilft mir. Es ist aus!
Bleib stehen, hört SIE das Monster erneut, dieses Mal viel näher. SIE spürt den Tod mit langen Fingern nach ihr greifen.
Ein schrilles Orchester wird laut. Tausende Vögel zwitschern, kalte Luft umweht ihr Gesicht. Der Boden ist hart, mit tausenden kleinen Holzsplittern übersät, die sich tief in ihre Rippen bohren. Sie versucht aufzustehen, greift in die Luft, sucht einen Halt, und fällt wieder zu Boden. Unerträgliche Schmerzen überfluten ihr Gehirn. Alles fängt an zu pulsieren, rote Blitze durchzucken ihre Augen.
Sie sieht sich um, so gut es geht. Der ganze Wald, in dem sie liegt, ist voll von Bäumen, die sie nie zuvor gesehen hat. Es sind hohe, gerade Bäume, aus denen Stacheldraht wächst.
Plötzlich hört sie eine Stimme. Sie versucht zu schreien, aber ihr Hals ist wie zugeschnürt. Jeder Ton schmerzt, und zerbricht gleich an der eiskalten Luft zu Millionen Splittern. Bald ist der Platz um sie herum voll von glitzernder Verzweiflung.
Eine Hand legt sich um ihre Schulter. Diese Hand zieht sie hoch. Ihre Beine wollen sie nicht tragen, sie wird gestützt. Es sind zwei Gestalten, klein, mit hohen Stimmen.
„Wer seid ihr?“, fragt sie zitternd.
„Freunde“, sagen sie.
„Wohin bringt ihr mich?“
„Auf eine Lichtung. Dort versammeln wir uns.“
Durch die vielen Baumreihen hindurch kann sie die Lichtung sehen. Sie ist riesig. Das Blitzen in ihren Augen lässt nach.
Als sie auf die Lichtung kommt, reißt sie sich von ihren Begleitern los und schleppt sich vorwärts, bis zu einem hohen Pfahl. Sie betrachtet das Holz, tastet mit ihrer Hand an ihm entlang. Dann blickt sie nach oben. Dort hängt ein Mann. Seine Leiche weht langsam im Wind. Er trägt eine Maske, ein riesiges Messer wurde in seinen Brustkorb gesteckt. Aus der Maske tropft Blut; auf dem Boden hat sich ein Rinnsal gebildet. Ein Lächeln tritt auf ihr Gesicht, genauso kalt wie die Luft um sie herum. Die beiden Gestalten kommen zu ihr und bleiben neben ihr stehen.
„Ihr habt ihn getötet?“, fragt sie ungläubig, erleichtert.
„Ja.“
„Wie habt ihr das geschafft?“
„Der Tod ist nicht leicht zu bezwingen“, sagt einer der beiden. „Er windet sich und schlägt um sich wenn er erwischt wird, aber wir haben eine Möglichkeit gefunden. Jetzt sind sie alle tot.“
„Was meinst du mit ‚alle’?“
„Dreh dich um!“
Sie dreht sich von dem hängenden Mann weg. Plötzlich schnürt sich ihr Magen zusammen, aus ihrem Mund dringt ein hoher, ungläubiger Ton. Sie sieht Pfähle, so wie ihren eigenen, in den Boden gerammt. Millionen von ihnen erstrecken sich bis zum Horizont. An jedem, sie ist sich sicher, hängt jemand. Die Maske des Toten hinter ihr fällt mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Sie sieht nach hinten. Ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, hängt an dem Pfahl, seine Leiche weht leicht im Wind. Aus seinem Mund und seinen Augen tropft Blut langsam auf den Boden.
„Es ist ein Mensch“, sagt sie überrascht.
„Das waren sie alle“, erwidern ihre Begleiter. „Bis sie diese Masken aufgesetzt haben. Sie haben das bekommen, was sie verdient haben!“
Gesänge werden laut. Geigen werden gespielt. Auf der riesigen Lichtung versammeln sich alle, die noch am Leben sind. Sie kommen aus dem Wald und fangen an zu tanzen und zu singen.
Die beiden Kleinen stehen noch immer neben ihr. Einer von ihnen geht auf den Pfahl zu. Er sieht mit einem stummen Lachen auf die Leiche. Dann nimmt er die Maske in die Hand und setzt sie auf. Wie ein Affe klettert er an der Leiche hoch und zieht das Messer aus dem Brustkorb. Eine Fontäne aus Blut übersät ihn. Als er wieder auf dem Boden ist, fließt es an ihm herab wie dickflüssiger Schleim.
Er sieht sie an, bemerkt ihr Zittern, ihre Schwachheit, und sagt:
„Gehen wir tanzen!“