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Skrull
In wilder Hast stürzte sich Skrull durch das Gestrüpp. Wie immer, wenn er in Panik war, fielen dicke Schleimtropfen aus seinem Maul. Doch das Wesen musste nicht befürchten, dass seine Häscher den glitschigen Spuren folgen würden. Schon einmal hatten sie ihn bis zum Waldrand gejagt, sich aber nicht getraut dem vermeintlichen Untier in das dunkle Gestrüpp zu folgen.
Eigentlich war Skrull kein bösartiges Wesen. Um seinen Hunger zu stillen, machte er sich aber immer wieder über die Schafherden der Menschen her. Die erste Zeit war er nie beim seinem Treiben erwischt worden. Doch irgendwann waren den Menschen die Verluste in den Herden zu groß geworden. Sie stellten Wachen auf und schafften es schließlich Skrull auf frischer Tat zu ertappen. Es hatte lange gedauert, bis die Menschen die Angst vor dem grau behaarten Wesen überwunden hatten und Jagd auf Skrull machten, der fast doppelt so groß war wie sie selbst.
Heute hatte es Skrull gerade noch einmal geschafft, seinen Peinigern zu entkommen. Es war jetzt nur noch ein kurzes Stück bis zur steilen Felswand, an der er dank seiner spitzen und starken Krallen mühelos hochklettern konnte.
Es wäre sicherer für ihn in den Bergen zu bleiben, doch die lieferten Skrull schon lange nicht mehr genug Nahrung. Er war gezwungen, immer wieder in die Nähe der Menschen zu kommen, wenn er im Gebirge nicht verhungern wollte.
Noch immer vor Aufregung zitternd erreichte er schließlich die kleine Höhle in den Felsen, die in den letzten Monaten zu seiner Heimat geworden war, und ihn vor Wind und Regen schützte.
Währendessen gingen die Menschen den langen Weg zurück in ihr Dorf. Am nächsten Abend sollte eine Versammlung stattfinden, bei der endlich eine Möglichkeit gefunden werden sollte, wie man dem Treiben des Untiers ein Ende bereiten konnte. Lange hatte Arndt den Bürgermeister um diese Versammlung bitten müssen, bis dieser endlich den ernst der Bedrohung erkannt hatte. Erst vor drei Jahren hatte er das Amt des Jägers in dem kleinen Bergdorf übernommen.
„Wir können es nicht mehr länger hinnehmen, dass dieses Biest unsere Schafe zerfleischt“, schrie der Bürgermeister in die Menge.
Laute Jubelrufe schallten ihm aus dem voll besetzten Gemeindesaal entgegen. Alle wollten endlich Ergebnisse sehen. Sie würden erst ruhen, wenn sie vor dem Kadaver des Schafräubers stünden.
„Ich kann mich aber nicht jede Nacht auf die Lauer legen“, warf der Bäcker ein. „Ihr wollt morgens frische Brötchen, also muss ich bei Zeiten in der Backstube stehen.“
„Wir werden alle etwas zur Vernichtung dieses Viehs beitragen müssen“, entgegnete der Bürgermeister.
„Wir könnten einige Vorposten einrichten, an denen in jeder Nacht jeweils zwei von uns Wache halten“, versuchte Arndt zu schlichten. „Wenn es dann kommt, schießen wir das Biest einfach ab. Bisher haben wir den Fehler gemacht, nur die Herden zu bewachen. Da wir aber nicht auf alle Tiere gleichzeitig aufpassen können, sind wir immer zu spät auf die Angriffe aufmerksam geworden. Wir wissen doch jetzt, welchen Weg es nimmt. Wenn wir an drei oder vier Stellen den Hang bewachen, wird es ihm nicht gelingen ungesehen an uns vorbei zu kommen.“
Aufmerksam hatten die Dorfbewohner den Worten des Jägers zugehört. Nach heftigen Diskussionen stimmten sie ihm endlich zu. Schließlich war er es, der am meisten von der Jagd verstand.
„Ich werde morgen einen Plan erstellen, wer wann Wache zu halten hat. Am Mittag wird er am Informationskasten des Rathauses aushängen. Wer seiner Pflicht, sich an der Jagd zu beteiligen, nicht nachkommt, hat mit einer hohen Geldstrafe zu rechnen.“
Mit diesen Worten beendete der Bürgermeister die Versammlung, bevor Dirk weiter protestieren konnte.
In den nächsten Nächten setzten die Dorfbewohner den Plan des Jägers in die Tat um. Die anfängliche Euphorie wurde jedoch schnell gebremst, als in der vierten Nacht noch immer nichts geschehen war. Einzig Erich hoffte darauf, dass es noch lange dauern möge, bis das Biest erledigt sei. War er es doch, der Rekordumsätze erzielte, weil die Männer, die nicht Wache schieben mussten, bei ihm auf die Nachricht vom Sieg über das Untier warteten. Es war ihm gelungen, Arndt von der Notwendigkeit eines Stützpunktes in seiner Kneipe zu überzeugen, weil er wusste, dass der Jäger seid längerem ein Auge auf seine Tochter geworfen hatte.
Skrull kauerte sich tief in den hintersten Winkel seines kleinen Reiches. Der Hunger wurde immer stärker, doch er hatte Angst, bei seiner nächsten Jagd doch noch erwischt zu werden. Wie sehr wünschte er sich in seine eigene Welt zurück, wo er nicht als Untier angesehen wurde und friedlich mit Seinesgleichen leben konnte. Durch magische Versuche seines Herrn hatten sich die Dimensionen verschoben und Skrull in die Welt der Menschen geschleudert, die so fremd für ihn war. Zunächst hatte er ja noch die Hoffnung, von Finus, dem mächtigsten Magier in seiner Welt, zurückgeholt zu werden, diese dann aber sehr schnell aufgegeben. Seit mehreren Monaten führte er jetzt schon seinen einsamen Kampf ums Überleben. Die gefährliche Bedrohung, die die Menschen für ihn darstellten, würde ihm irgendwann den Tod bringen. Mit Tränen in den Augen dachte er an seine Familie, die ihn sicher genauso vermissen würde wie er sie. Er träumte von den großen Seen und den tiefen Wäldern im seiner Heimat. Dachte an die reichlichen Wildbestände, die seinem Volk das Überleben sicherten.
„Wie viele Nächte sollen wir uns denn jetzt noch um die Ohren schlagen?“, maulte Dirk. Schon seit Stunden saß der Bäcker jetzt mit Arndt auf dem Hochsitz und wartete. „Ich verstehe nicht, dass ihr mich auch noch ständig zur Nachtschicht einteilen musstet. Auf den dicken Erich habt ihr ja auch Rücksicht genommen.“
„Wenn in dieser Nacht wieder nichts passiert, lassen wir uns etwas anderes einfallen. Und jetzt hör endlich auf zu meckern. Nur, weil du keine eigenen Schafe hast, heißt das noch lange nicht, dass dich die Probleme, die uns dieses Biest bereitet, nichts angehen.“ Arndt hatte nun langsam genug vom ständigen Maulen seines Begleiters. Mit zornigem Blick schaute er Dirk zu, wie dieser wieder einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann nahm.
Er selber war der einzige, der sich jede Nacht an den Wachen beteiligt hatte und war mittlerweile selbst nicht mehr davon überzeugt, dass sie so einen Erfolg erzielen würden.
Plötzlich sah er eine Bewegung am Waldrand. Hastig stieß er seinen Begleiter an der Schulter an und bedeutete ihm, sich ruhig zu verhalten. So leise er konnte, nahm er sein Gewehr in die Hand und legt auf die Stelle an, wo er die Bewegung gesehen hatte. Und tatsächlich verließ das grauhaarige Wesen den Wald und duckte sich, so tief es konnte, auf den Boden. Der Jäger zögerte nun nicht mehr und der Schuss donnerte laut über den Hang. Beide sahen, wie das Biest zusammenzuckte, als es von der Kugel in den Brustkorb getroffen wurde.
Es hatte einige Tage gedauert, bis sich Skrull wieder aus seiner Höhle wagte. Der immer unerträglicher werdende Hunger hatte schließlich die Angst vor den Menschen besiegt. Nachdem er zwei Tage auf der Suche nach Nahrung durch das Gebirge gestreift war und nicht einmal eine Maus erbeutet hatte, sah er den Weg ins Tal als letzte Möglichkeit an.
Lieber ließ er sich bei einem seiner Streifzüge erwischen, als einsam und alleine auf dem Berg zu verhungern. Endgültig hatte sich Skrull nun damit abgefunden, dass er seine Heimat nie wieder sehen würde.
„Schieß noch einmal“, schrie Dirk mitten in das Krachen des zweiten Schusses hinein und lies dabei vor Aufregung seinen Flachmann fallen. Auch die zweite Kugel traf. Das fremde Wesen, das so ganz anders aussah, als alle anderen Tiere, die Arndt bis dahin gesehen hatte, schwankte noch einen Moment und fiel dann zu Boden. Hastig lud er sein Gewehr nach und stieg die Leiter des Hochsitzes hinunter. Vorsichtig näherte er sich dem ruhig daliegenden Körper und sah mit schussbereiter Waffe auf ihn nieder. Täuschte er sich, oder konnte er tatsächlich Tränen in den Augen des Wesens erkennen? Jetzt bekommst du deinen Gnadenschuss, dachte er, als er den Finger um den Abzug legte.
Ein flackerndes Licht hielt den Jäger von seinem Vorhaben ab. Er ging einen Schritt zurück und richtete die Waffe jetzt entsetzt auf eine durchscheinende Gestalt, die den Wald verließ.
„Hab keine Angst, Skrull“, hörten die beiden so unterschiedlichen Männer eine fremde Stimme. „Wir sind jetzt gleich zu Hause. Wir werden dich schon wieder hin bekommen und du wirst gesund in den Kreis deiner Lieben zurückkehren.“
Sie sahen völlig verblüfft zu, wie sich die beiden Gestalten langsam auflösten. In seiner Verwunderung hatte Arndt ganz vergessen, den Abzug seines Gewehres durchzuziehen. Zurück blieben nur ein paar Blutflecken, die sich dunkel auf der Wiese abzeichneten.
„Was war denn das“, fragte Dirk, der sich als erster wieder gefangen hatte.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Und was willst du jetzt machen.“
„Ich gehe in die Kneipe und trinke ein paar Bier.“
„Und was erzählen wir den Anderen?“
„Nichts.“
„Wie, nichts?“ Dirk konnte die Reaktion seines Partners nicht verstehen. Schließlich hatten sie das Monstrum besiegt. Ihnen gebührte der Lohn für die geleistete Arbeit.
„Die Wahrheit wird uns kein Mensch glauben. Es ist vorbei. Lassen wir die Sache auf sich beruhen. Was auch immer das war, es wird nie zurückkehren.“