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Sommerende
„Der Himmel weinte, als sie starb.“ Nein, niemand soll das von meinem Tod sagen können, denn ich hasse Melodramatik. Und so warte ich.
Der Sommer ist kalt und nass in diesem Jahr, der Regen spielt eine schier endlose Melodie: trippelnde Tropfen auf Laub so dicht, dass kaum ein Tropfen die Erde darunter erreicht; monotones Strömen, dessen Reibung an den Luftpartikeln kaum ein Geräusch macht; salvenartig prasselnde Wolkenbrüche. Die Tage werden schon wieder kürzer, als sich das Wetter endlich klärt.
Was ich brauche, habe ich vor langer Zeit versteckt.
„Sie müssen nicht sparsam damit sein. Sie soll nicht unnötig leiden. Mehr können wir nicht mehr tun“, sagte der Arzt leise und reichte mir ein neues Rezept. Die Apothekerin wusste schon Bescheid, wenn ich kam, und ging ungefragt nach hinten, wo die besonderen Medikamente aufbewahrt wurden.
Ich spürte selbst so etwas wie Frieden, wenn die Pflegerin das Schmerzmittel in den Tropf gemischt hatte und sich das eingestürzte Gesicht der alten Frau auf dem weißen Laken entspannte. Fast schien sie wieder die zu sein, die ich mein Leben lang gekannt, an der ich viele Kinderjahre lang ängstlich gehangen hatte. Die Krankheit hatte sie verbittert, hartherzig und fremd gemacht. Ich hatte mich schon vor langer Zeit von ihr verabschiedet.
Es ging schneller, als alle erwartet hatten. Die professionelle Anteilnahme der Schwester kreuzte Klingen mit ihrem vorwurfsvollen Tonfall.
„Ihre Mutter war wach in ihren letzten Minuten.“ Ich hatte geschlafen in meinem Bett viele Straßen entfernt, ohne dass mich eine innere Stimme weckte, als das Band riss.
Verständnislos waren auch die Blicke der Verwandten und Nachbarn, die ich in die verwaiste Wohnung lud. Sie sollten sich nehmen, was sie wollten und brauchten, ohne Ansehen von Wert und Geschichte. Ich wollte keine Erinnerungen an die Kindheit eines einsamen, verwirrten Kindes, das ich tief in mir eingekerkert hatte. Nur wenige Dinge nahm ich an mich. Das noch nicht angebrochene Fläschchen gehörte dazu.
Ich versteckte es da, wo niemand es finden würde, weil es zu offensichtlich war: in der Hausapotheke, zwischen Aspirin, Heftpflaster und Fieberthermometer. Viele Monate verbrachte es dort im Dunkel. Doch jetzt steht es neben mir, auf dem kleinen Tisch am Bett.
Die Strahlen der frühen Vormittagssonne stehlen sich durch die Wolkendecke, als könnten sie ihre Freiheit selbst kaum fassen. Noch ist der Himmel grau, doch der Tag verspricht trocken zu bleiben. Meine Vorbereitungen sind fast vollendet.
Ich werde Zeit haben – kein schneller Fick mit Freund Hein, sondern ein ausgedehntes Liebesspiel. Keiner von denen ist da, die meine Kraft und Liebe aussaugen von früh bis spät, ohne Rücksicht darauf, dass die ausgebeutete Ressource vor der Erschöpfung steht. Keiner von denen, die mich entkorken wie eine Flasche Wein zum verdienten Feierabend, meine Zuwendung konsumieren, wie es ihren Bedürfnissen entspricht und den schalen Rest unbeachtet stehen lassen; hoffend, dass er verdunstet und ihnen nicht die Mühe des Auskippens macht.
Lange habe ich versucht, das Gebäude meines Lebens zu renovieren. Doch jeder scheinbar zugeputzte Mauerspalt riss einen anderen auf, der noch tiefer reichte. Es sind die Fundamente, die brüchig sind und die zunehmende Last der Erfahrungen nicht mehr tragen. Sie waren immer schwach, denn sie wurden nach den Plänen anderer gebaut. Ich habe mich eingewöhnt, doch ich war immer nur Gast in einem Leben, dessen Riten und Gebräuche mir nie richtig vertraut wurden.
Ich werde das Gebäude abreißen. Trauer und Wut darüber habe ich ertragen bis zur Abstumpfung, die Tränen geweint, mehr als genug. Ich bin leer und müde, nur noch eine Ruine, bewohnt von nebelgrauen Spukgestalten. Es bleibt mir nichts mehr, als das Trümmerfeld so tröstlich wie möglich zu gestalten.
Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte meinen nackten Körper. Ich habe ihn immer geliebt und ich liebe ihn noch, denn er war mir immer ein zuverlässiger Gefährte: die fast knabenhaften Hüften, die schmale Mitte, die kleinen Brüste, die Haut noch straff und eben. Der hilflose Verfall in quälender Allmählichkeit wird ihm erspart bleiben. Prüfend gleitet meine Hand über meine Schenkel, die Achseln und Scham. Alles ist glatt und weich. Auch wenn die Haare nach dem Tod noch weiterwachsen, wird höchstens ein dunkler Schimmer die Lilienbleiche stören.
Es ist dämmrig im Zimmer, ich habe keine Lampe eingeschaltet. Die weit offenen Pupillen lassen meine Augen dunkel wirken. Ernst und ruhig wirkt die Frau, die mir aus dem Spiegel entgegenblickt. Wir betrachten uns einen Moment, als suchten wir eine Lücke in der Deckung der anderen, dann setze ich die Tuschebürste an meine Wimpern. Zum drittenmal. Sie werden anmutige Schatten auf mein Gesicht werfen, wenn die Mittagssonne das Fenster an meinem Lager erreicht haben wird. Keine schwarze Schminkspur wird den Blick meiner Augen am nächsten Morgen trüben, denn ich werde sie nicht wieder aufschlagen. Ich wickele den taubenblauen Kimono eng um mich und verknote den Gürtel sorgfältig. Mein Leben folgte der Regel, mir keine Blöße zu geben. Dabei soll es bleiben. Auch im Ende.
Ich war nie geduldig, doch jetzt lerne ich es. Die Tropfen, die mit gleichmütiger Langsamkeit die Pipette passieren und in das Wasserglas fallen, erfüllen mich mit meditativer Ruhe. Fast schrecke ich auf, als das monotone Pling-Pling verstummt. Die Flasche ist leer.
Mein Herz klopft schnell, während der erste Schluck durch meine Kehle rinnt. Ich trinke langsam, gleichmäßig, meine Augen auf die Rauputz-Hieroglyphen der Wand gerichtet. Meine Finger zittern, als ich das leere Glas zurückstelle. Ich atme tief durch, um den Würgereiz zu unterdrücken, und schiebe mir den ersten Champagnertrüffel zwischen die Lippen. Langsam lasse ich mich auf das Bett sinken und falte die Hände unter dem Kopf. Ich schmecke nur noch schmelzende Süße, ich spüre keine Bitterkeit mehr – nicht in meinem Mund und nicht in meinem Gemüt.
Die Stille kommt unmerklich. Kälte kriecht um mich hoch, ohne dass ich friere. Zögernd hebe ich eine Hand und fahre mit den Fingernägeln über meinen Hals. Ich fühle keinen Schmerz. Eine Bahn von Sonnenlicht kreuzt meinen Körper und doch ist es dunkler geworden. Ich brauche viel Kraft, um meine Rippen zum Atmen zu dehnen. Das monotone Rauschen des Verkehrs draußen vor dem weit offenen Fenster ist erloschen. Mein Herz flattert wie ein kleiner Vogel in den Fängen einer Katze. Meine Lider werden zu schwach, um der Schwerkraft zu trotzen. Ein Lichtstrahl erreicht mein Gesicht. Die tröstliche Wärme ist die letzte Wahrnehmung, dann verstummen die Sinne. Der Vogel regt sich nicht mehr.
Niemand kann sich an einen verregneteren Sommer erinnern. Nicht nur der Himmel wird weinen, wenn man mich findet. Doch auf meinem Gesicht liegt das Echo eines Lächelns.