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Sommererich

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26.07.2004
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Sommererich

Erich lebte in den Tag hinein. Er stand morgens auf, und die Welt war für ihn in Ordnung.
Es hatte nichts mit dem Phänomen eines Frühaufstehers oder damit zu tun, ob er morgenmufflig war oder nicht,
denn es kam schon vor, dass er den Wecker oder das ihn weckende Wesen anpflaumte, sich umdrehte und weiterschlief.

Erich hatte den meisten Menschen seines Umfeldes etwas viel entscheideneres voraus: Er war mit sich und seiner Welt zufrieden.
Man mag vermuten, dass er kleine Brötchen gebacken hat und einfach keine Größeren hätte backen wollen, aber auch dies traf auf Erich nicht zu.
Er steckte sich hier und da seine Zielchen für Privates, Berufliches und Geldangelegenheiten und in diesem Sommer waren alle seine Ziele erfüllt.
Es war sein Sommer. Abgesehen davon, dass es der erste Sommer seit Jahren ohne sommerliches Wetter war war alles perfekt.

Am meisten hat zu diesem Zustand der Zufriedenheit wohl beigetragen,
dass seine Eltern eine dreiwöchige Campingtour um die großen nordamerikanischen Seen machten und
er leider auf die Tiere und Pflanzen aufpassen "musste".
Es war die Zeit im Leben der meisten Jugendlichen, wo man einfach nicht mit den Eltern wegfahren möchte, was nicht daran liegt, dass sie einem peinlich wären,
Erichs Eltern waren auch bei seinen Freunden recht beliebt, nein, vielmehr greift diese allgemeine Angst ein, etwas verpassen zu können.
Wenn man Erich nun gefragt hätte, was er genau nicht verpassen möchte, so hätte man hier eine typische Antwort bekommen, denn er wusste es nicht.

Zugehörigkeit, ja gar Gruppenzwang?
War es Zufall, dass die meisten von Erichs Freunden ebenso zu Hause blieben?
Es war jedenfalls kein Zufall, dass Erich blieb,
denn seine Freundin blieb auch,
und was wollen zwei junge verliebte Menschen mehr als das Doktor-Sommer-Team und drei Wochen strumfrei!?
Ja es stimmt, sie gehörten nicht zu den Menschen, die üblicherweise die Bravo lasen,
aber in der Konsequenz von drei Wochen Non-Stop-Intimität kann es schonmal passieren, dass das Doktor-Sommer-Team hilft.

So plätscherten die Ferien vor sich hin, es gab keine besonderen Hoch- oder Tiefpunkte, ein allgegenwärtiger Ferienbrei wäre wohl bezeichnender.
Ab und zu ging es in Verschiedene Clubs, auf kleine Partys von Anderen, die ebenso sturmfrei hatten.
Gras und Alkohol wurden passagenweise zu teuflischen Begleitern, aber auch da muss jeder Jugendliche wohl durch, wenn er zu einem bewussten Konsum gelangen möchte, denn probieren geht aus dem Volksmund ja über studieren.
Eine Party ist hier aus dem Brei hervorzuheben, denn die Macher hatten sich zum Ziel gesetzt, das Inventar aus Otto's Lied "Wir haben Grund zum Feiern" einmal komplett durchzutrinken - und danach noch gemeinsam das Lied zu singen.
2:0 für Otto, die Party war zwar im wahrsten Sinne des Wortes auf Hochtouren, aber an Otto Waalkes oder ein Lied von ihm dachte irgendwann keiner mehr.

Was war nun los an dem Tag, an dem Erich sich nicht mehr wohl fühlte?
Angst hüllte Erich ein. Angst, er könnte seiner Freundin nicht mehr genügen. Angst davor betrogen zu werden war es nicht, dazu vertrauten sie sich viel zu sehr.
Eine schöne, junge, von Vertrauen und Leidenschaft geprägte Beziehung.
Es war das Gefühl, das er hatte, wenn er in der Umgebung von seiner Freundin war.

Das Gefühl hatte sich geändert.​

Er hatte das Gefühl, abgestoßen zu werden, unerwünscht zu sein, zu nerven, zu stinken oder sich blöd zu bewegen, sodass man ihn hätte ausstoßen dürfen.

Erich fragte seine Freundin, was denn los sei, aber sie erklärte, dass nichts sei und er sich keine Gedanken machen bräuchte.
So konnte es mit seinem Zustand ja nichts werden, und als er noch alleine nach Hause fuhr war alles vorbei. Seine Gedanken kreisten, was war bloß passiert fragte er sich immer wieder.
Als er ankam war alles viel dunkler als sonst und er ekelte sich vor sich selbst.
Dann hat Erich sich mehrfach geduscht, gebadet, rasiert, Zahn- und Fuß-, Ohren- und Intimpflege betrieben und fand sich dennoch schmutzig.
Er kam in sein dunkles Zimmer zurück und nun war es auch noch viel kälter als zuvor.
Wie üblich lief Musik aus seinem Archiv, und es versetzte ihn in noch tiefere Identitätskrisen, als er "Something about us" von Daft Punk hörte...

"It might not be the right time
I might not be the right one
But there's something about us I want to say
Cause there's something between us anyway"

...schallte es sanft durch den Raum, der nun nicht nur kalt und dunkel, sondern auch leer war.
Alles war leer - in, um und an Erich.
In dieser Leere stand ein Bett, auf das er sich fallen ließ.
Danach lag er einfach da, unfähig etwas zu tun oder allein daran zu denken etwas zu tun.
In all diesem Wirrwarr aus Gefühlen, Angst und unendlich vielen Fragen entdeckte er die Pillenschachtel seiner Freundin. Sie war - wie passend - leer.
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, es war als würde die Sonne für ihn aufgehen - nein, das war doch nur der schwenkende Scheinwerfer des Baggers vor seinem Balkon, neuerdings bauten sie auch nachts.
Trotzdem, er hatte es immer gewusst, für alles gibt es schließlich heutzutage eine Erklärung.
Er fasste erneuten Glauben in die Wissenschaft, verbannte das Schicksal aus seinem Wortschatz und brachte seiner Freundin am nächsten Tag Rosen in gemischten Farben mit.

Erich sprach mit seiner Freundin genausowenig wie mit anderen Bekannten darüber. Für ihn war es mehr ein Ausflug in eine andere psychische Welt oder Einbildung ist auch eine Bildung,
der Sommer war schließlich bereits als perfekt abgestempelt und dieser Tag sollte dem keinen Abriss tun.

Erich zeigt letztlich, dass das Hinterfragen von Dingen, Wirkungen oder Prozessen hilft, den Alltag besser zu verstehen, man jedoch nie zu Überinterpretationen neigen sollte.
Erichs ganz persönliches Fazit dieses Tages fällt anders aus.
Selbstgefällig dachte er, die Frauen besser verstehen zu können als vorher und lebte seinen perfekten Sommer zu Ende.

 

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