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Spuren

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16.11.2003
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Spuren

Spuren. Für B.

1
In einem Garten, hinter einem übergroßen Gebäude, allein hinter vielen anderen Bäumen zu stehen, das war für den Baum gewöhnlich. Auch für die, welche ihn betrachteten, war es gewöhnlich.
Es war gewöhnlich, wenn er im Sommer ergrünte, alle in seinen Schatten wucherte, von Insekten und Tieren bewohnt wurde, im Wind sich lang ausstreckte, so als würde er die Welt erobern. Es war gewöhnlich, wenn er im Herbst die Blätter erstrahlen ließ, wenn er sie abwarf, wenn er sie nicht mehr brauchte, wenn die Insekten und Tiere sich eine andere Bleibe suchten, im starken Wind die Welt ein letztes Mal umarmte. Es war gewöhnlich, wenn er im Winter kahl wurde, wenn er ein Turm in der Öde wurde, wenn keinerlei Tiere und Insekten in ihm wohnten, er im fahlen Wind nur noch einen Hauch seiner Herrschaft zeigte. Es war gewöhnlich, wenn er dann im Frühling wieder seinen Platz als Herrscher einnahm.
Im Frühling begegneten sich dann Tier und Insekt wieder, machten seinen Hofstaat und pflegten ihn, aber auch das war gewöhnlich. Niemandem schien er besonders zu sein, wenn er dort hinten seine Äste über die Wiese streckte oder wenn seine Wurzeln gar das Wurzelwerk seines Volkes verdrängte.

2
Die Arbeiter aus den nahen Dörfern trugen ihre Lasten bereits fort, doch das Schwingen der Peitsche des Aufsehers hielt den Lauf zu den Herdfeuern der Frauen und Familien auf.
„Es ist noch nicht getan“, sagte er. Dann schnellte die Peitsche in den Himmel und fing alle Arbeiter ein. „Die Arbeit ist vorüber, wenn sie es tatsächlich ist !“ rief er.
Die Arbeiter klammerten sich an die Peitsche, denn der Aufseher hob sie alle in den dunklen Himmel. So sahen sie das, was von den vielen Bäumen noch war:
Der eine Baum stand noch. Sie hatten ihn nicht gefällt, weil sie ihn besonders liebten.
„Aber wir lieben diesen Baum mehr als das Herdfeuer !“ riefen sie.
Der Aufseher löste die Peitsche und warf sie auf einen der Wagen. Er trieb die Arbeiter mit wilden Armbewegungen in den Garten zurück. Gemeinsam betrachteten sie den Baum:
Der Schnee lag glatt an seinen Wurzeln. Um ihn herum waren alle anderen Bäume verschwunden. Allein stand er da. Sein Geäst trug den Schnee. Er hätte ihn mühelos abschütteln können in seiner Größe, aber das tat er nicht. In der Ödnis war er ein weißes Licht. Der Baum sah die Betrachter mit runzligen Verwachsungen an.
„Es ist der schönste aller Bäume. Um die anderen war es nicht schade, Herr. Aber ihn wollen wir behalten“, sagte einer der Arbeiter. Er hob beide Arme, als wolle er den Baum umarmen.
„Der Gutsherr wünscht einen Garten gänzlich ohne einen Baum. Was ist so ungewöhnlich daran ? Er ist ein gewöhnlicher Baum“, sprach der Aufseher. Beide Hände legte er an die Seiten seines mächtigen Körpers. Er schwoll immer mehr an und überragte die Arbeiter.
„Es sind unsere Erinnerungen. Wohl jeder hat eines Tages seinen Namen in die Rinde des Baumes geschrieben. Er berichtet von uns“, sagte ein anderer Arbeiter.
„Und Eure Familien, Eure Frauen ? Ist denn der Lohn des Gutsherren gar nichts gegen ein paar Namen in der Baumrinde ? Er bezahlt und will Erfolge sehen !“ schrie die tobende Stimme des Aufsehers.
Einer der Arbeiter sah auf zu seinem Herrn: „Dann nehmt meine Axt und streckt ihn doch selbst nieder !“ Er legte ihm die Axt in die großen Hände.
Der Baum sah in einer winzigen Bewegung die Menge an. Die Arbeiter legten die Hände vor ihre Gesichter. Dann warfen sie ihre Lasten ab und legten sich in den Schnee.
Der Aufseher griff fest die Axt und ging an den Stamm des Baumes: „Du bist ein gewöhnlicher Baum. Wir benötigen Nahrung, wir haben Hunger.“
Er holte aus und wollte in den alten Stamm schlagen. Die Axt glänzte im Licht, denn die Arbeiter hatten bereits am Abend ein Schwedenfeuer entzündet. Das Blatt funkelte in vielen Farben. Das Funkeln wurde wirrer als die Axt auf den Baum schlagen sollte.
Er zögerte.
Der Aufseher warf die Axt im letzten Augenblick zu Boden, ging an das Schwedenfeuer und wärmte sich. So erhoben sich auch die Arbeiter und bildeten einen Kreis. Spät in der Nacht gingen sie gemeinsam heim.
3
„Ich werde Euch nicht bezahlen“, sagte der Gutsherr.
Der Aufseher nickte: „Niemand erwartet das. Es war unmöglich, den letzten der Bäume zu fällen.“ Der Gutsherr warf den Aufseher und die Arbeiter hinaus.
„Wertloses Gekritzel ! Selbst die Geschichte dieses Baumes aufzuschreiben ist wertloses
Gekritzel, denn auch die Namen in den Bäumen sind nichts anderes !“ rief er ihnen nach.
4
Hin und wieder sah man im Frühling ein flüchtiges Paar, das in den Baum seine Erinnerungen legte. Nach und nach aber wurde der Baum vergessen. Der Baum stand noch für lange Zeit. Der Gutsherr und seine Erben waren schon lange fort, als auch der Baum verschwand.
Im Schnee fand man noch seine Spuren. Er ging fort, mit sich trug er die Erinnerungen und Namen der Arbeiter.
Auch den Namen des Aufsehers mag man wohl gelesen haben.

 

Hallo Kosh,

Ich schreib dir mal.

Ich finde, du hast eine äußerst schöne Geschichte erzählt. Einfühlsam und sensibel bist du mit dem Thema: "Der Mensch und seine ZUgehörigkeit zu der Natur" umgegangen.

Ich finds n bisschen schade, dass sie anscheinend so lange niemand beachtet hat.

Mir hat sie gut gefallen. :)

PS: Vielleicht solltest du mal überlegen, ob sie nicht bei Märchen besser aufgehoben ist, denn sie scheint mir viele Merkamle einer (Volks)Weise aufzuzeigen.

 

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