Was ist neu

Spurensuche

Seniors
Beitritt
14.10.2003
Beiträge
1.787
Zuletzt bearbeitet:

Spurensuche

1

Robert Berger schüttelte den Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. So etwas hatte er in den 17 Jahren seines Streifendienstes in dieser Kleinstadt noch nicht erlebt. Sankt Augustin war ein verträumtes Städtchen mit rund achtundfünfzigtausend Einwohnern. Durch die unmittelbare Nähe zur ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn war sie vor dem Regierungsumzug nach Berlin der bevorzugte Wohnort vieler Spitzenpolitiker. Damals hatte die Polizei alle Hände voll zu tun. Vor allem der Personenschutz gehörte zu ihren vorrangigen Aufgaben. Doch seitdem nahezu alle, die Rang und Namen hatten, an der Spree residierten, war es sehr ruhig geworden. Kleinere Diebstähle und Trunkenheit am Steuer – vor allem von Jugendlichen an den Wochenenden – waren die üblichen Vorkommnisse, mit denen sich die Polizei hier befassen musste. In letzter Zeit jedoch stieg die Kriminalität spürbar an. Einbrüche, Raubüberfälle – die Polizeibeamten vermuteten, dass diese Straftaten in unmittelbarem Zusammenhang zum gestiegenen Drogenmissbrauch in der Region standen. Die Ermittlungsarbeit richtete sich weniger gegen die Konsumenten, als vielmehr gegen die Drahtzieher der Drogengeschäfte. Einige Male hatte die Polizei handfeste Tipps aus der Bevölkerung erhalten. Doch jedes Mal, wenn sie zuschlagen wollten, fand die Drogenübergabe nicht statt und die Dealer waren verschwunden. Der Gedanke daran ließ Robert trotz der Hitze leicht frösteln. Langsam wurde es regelrecht gespenstisch, mit welcher Sicherheit sich die Drogenbosse der drohenden Verhaftung entziehen konnten. Und nun dies: Er stand vor einem kleinen Hund, der augenscheinlich mit bloßen Händen erwürgt worden war.

„Warum tut jemand so etwas?“ Maximilian Koch, der 73-jährige Besitzer des Yorkshireterriers, stand fassungslos und mit Tränen in den Augen neben ihm. Robert konnte nur mit den Schultern zucken. Nichts in der Umgebung der kleinen Hundeleiche ließ auf den Täter schließen. Dennoch musste er versuchen, irgendwelche Spuren zu finden. Auf Unterstützung konnte er dabei nicht hoffen. Günther Fassler, sein Partner, lag mit einer Sommergrippe im Bett. Und jetzt, mitten in der Urlaubszeit, war die ohnehin stark reduzierte Mannschaft hoffnungslos unterbesetzt.
„Robert? Robert, melde dich bitte. Dringender Einsatz im Pleiser Park!“ Die Stimme aus seinem Funkgerät klang aufgeregt, beinahe hysterisch.
„Tina? Hier Robert. Was ist denn los? Ich habe hier noch zu tun.“
„Bin ich froh, dass ich dich erreiche. Wir haben eben einen Notruf erhalten. Wie es aussieht, wurde im Pleiser Park jemand getötet. ERMORDET, Robert“, schluchzte Tina plötzlich los.
Robert runzelte die Stirn. Warum benutzte Tina nicht den Code für das Verbrechen? Sie war zwar erst vor einem halben Jahr von der Dortmunder Polizei zu ihnen gekommen, doch mit ihren neunundzwanzig Jahren eigentlich erfahren genug. Und die Codes lernte jeder Polizist im ersten Ausbildungsjahr. Mit gutem Grund. Maximilian Koch starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
„Wenn hier ein Mörder frei herumläuft, gehe ich jetzt besser ins Haus und verriegele die Tür. Aber finden Sie das Schwein, das meinen Hund umgebracht hat!“ Der alte Mann drehte sich auf dem Absatz um und stürmte in sein Haus. Robert seufzte. Er konnte sich vorstellen, was nun passierte: Der verunsicherte Mann würde sofort zum Telefon greifen und die halbe Stadt in Angst und Schrecken versetzen. Aber er hatte keine Zeit, sich damit zu befassen. Mit drei großen Schritten war er an seinem Wagen und sauste los in Richtung Park. Während der Fahrt orderte er einen Notarzt an. So wie Tina geklungen hatte, verließ er sich lieber nicht darauf, dass sie daran gedacht hatte. Ansonsten eine ausgeglichene und fröhliche junge Frau, vergaß sie nun die einfachsten Regeln und schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. Robert nahm sich fest vor, später mit ihr darüber zu reden.

Das Opfer sah schlimm aus: Von dem Gesicht war kaum etwas zu erkennen. Anscheinend hatte jemand mit einem schweren Gegenstand wieder und wieder zugeschlagen. Tödlich waren jedoch mit Sicherheit die Verletzungen im Brust- und Bauchbereich. Mindestens einundzwanzig Messerstiche zählte Robert. Schnell fühlte er den Puls und prüfte, ob der Mann vielleicht noch atmete. Doch es bestand kein Zweifel: Er war tot. Was, zum Henker, passiert mit meiner Stadt, fragte sich Robert. Er fühlte sich plötzlich einsam und hilflos. Wenn doch wenigstens Günther mit seiner unerschütterlichen Gelassenheit hier wäre.

Nur vier Minuten nach Robert traf der Notarzt ein. Im Laufschritt eilte der Arzt zu dem Opfer und prüfte die Lebenszeichen. Nach kurzer Zeit sah er auf und schüttelte den Kopf.
"Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun", sagte er. "Grob geschätzt würde ich sagen, dass der Mann bereits seit zwei Stunden tot ist. Genaueres wird die Autopsie ergeben. Ich rufe gleich einen Gerichtsmediziner her."
Er stand auf, zog sein Handy aus seiner Tasche und begann zu telefonieren.

Inzwischen hatte sich eine beachtliche Schar von Schaulustigen am Tatort eingefunden. Sicherlich hatte auch Maximilian Koch dazu beigetragen. Robert riss sich zusammen und ging auf die Menge zu, die geschockt auf die Leiche starrte. Er wusste, dass seine Uniform den meisten Bürgern Respekt einflößte. Und tatsächlich zerstreute sich die Menge allmählich, als er sagte: „Gehen Sie bitte. Hier gibt es nichts zu sehen. Die Polizei wird sich darum kümmern. Bitte, machen Sie Platz.“
Wie in Trance sperrte er den Tatort mit den rot-weißen Bändern ab, die er im Kofferraum hatte. Anschließend rief er Tina in der Zentrale an.
„Tina, versuche bitte, irgendwoher Unterstützung zu bekommen. Und rufe die Spurensicherung bei den Bonner Kollegen an. Die sollen einen Trupp herschicken.“
Robert lehnte sich erschöpft an einen Baum. Schweißtropfen glänzten in seinen kurz geschnittenen, braunen Haaren. Seine Beine fühlten sich schwer und müde an. Bedingt durch die allgemeine Urlaubszeit hatte er in den letzten Tagen einige Doppelschichten geleistet. Ja, ja, mit fünfunddreißig zählt man halt nicht mehr zu den Jüngsten, dachte er und lächelte gequält.

Eine Viertelstunde später traf die Spurensicherung nahezu zeitgleich mit dem Gerichtsmediziner Axel Roth ein. Robert schilderte kurz das Wenige, das er über den Fall wusste, während Roth zu der Leiche ging. Nachdem sich der Pathologe von dem Tod des Mannes überzeugt hatte, notierte er einige Zeilen in ein schwarzes Buch und kam dann zu den anderen zurück.
„Der Mann ist erstochen worden. Sein Herz wurde mehrmals getroffen, sicher auch weitere innere Organe. Die Klinge muss sehr lang gewesen sein - mindestens zwölf Zentimeter, vielleicht auch fünfzehn. Außerdem wurde der Mann mit einem Gegenstand geschlagen. Es könnte ein Ast, ein Stock oder etwas Ähnliches gewesen sein. Das kann ich hier nicht feststellen. Ich werde eine Autopsie vornehmen. Vielleicht bringt das Aufschluss darüber, ob er zunächst bewusstlos geschlagen und dann getötet wurde, oder ob ihm die Schläge erst zugefügt wurden, als er schon tot war. Mit ihrer Erlaubnis nehme ich die Leiche gleich mit.“
Robert hatte keine Einwände. Auch die Männer von der Spurensicherung nickten. Nachdem der Leichnam abtransportiert war, begannen sie mit der systematischen Durchsuchung der näheren Umgebung, die sie schließlich auf den ganzen Park ausdehnten. Doch sie konnten weder eine Tatwaffe noch Kleidungsstücke finden. Alle Hoffnungen, Hinweise auf den Täter zu finden, ruhten nun auf dem Gerichtsmediziner und seinen Untersuchungen.


2

Völlig erschöpft kehrte Robert gegen neunzehn Uhr zurück zur Zentrale. Er hatte über Funk versucht, mit Tina zu sprechen, doch ohne Erfolg. Wahrscheinlich war sie schon nach Hause gegangen. Unter normalen Umständen hätte Robert es ihr nicht verdenken können. Auch sie hatte schließlich in der letzten Zeit eine Menge Überstunden leisten müssen. Doch bei einem Mord einfach die Zentrale zu verlassen, war unverzeihlich. Sie hätte sich wenigstens vorher bei ihm melden können. Er war jedoch nicht so zornig, wie er hätte sein sollen. Einen Teil trug seine Müdigkeit dazu bei. Einen weiteren Teil – den größeren, wie er sich eingestehen musste – seine Zuneigung zu der Kollegin. In den letzten Wochen waren sie einige Male miteinander ausgegangen. Robert hatte diese Treffen sehr genossen. Tina brachte ihn zum Lachen und schaffte es, dass er seine Arbeit für ein paar Stunden vergaß. Er rang nun schon seit einer Weile mit sich, sie zu einem Wochenende an der Nordsee einzuladen, hatte bisher jedoch nicht den Mut dazu aufbringen können. Sobald das hier überstanden und wieder Ruhe eingekehrt ist, werde ich sie fragen, dachte Robert und stieg die drei Stufen zum Eingang hoch.

Die Tür stand offen. Kein Wunder, bei der Hitze. Trotzdem fühlte Robert sich ziemlich flau, als er in den Flur trat. Das liegt sicherlich daran, dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe, redete er sich ein. Seine Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich nach dem grellen Sonnenlicht draußen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah er die Glastür, die die Telefonzentrale zum Flur abtrennte. Nur, dass sie diese Aufgabe nicht mehr erfüllte. Das Glas lag in tausenden Splittern über den Boden verteilt. Von Tina war keine Spur zu sehen.
Wie benommen starrte Robert einen Augenblick auf die Scherben. Dann verzog sich sein ebenmäßiges Gesicht zu einer verzerrten Fratze und mit einem wilden, animalischen Schrei stürzte er in den Raum. Das Headset hing an seinem Kabel vom Schreibtisch herunter. Er rannte um den Tisch und sah Tina in einer Blutlache auf dem Boden liegen. Sofort kniete er sich an ihre Seite und fühlte ihren Puls. Er war schwach, aber eindeutig vorhanden. Schnell stülpte Robert sich das Headset über und forderte einen Krankenwagen mit Notarzt an. Dann versuchte er, Tina in eine bequemere Lage zu drehen und streichelte ihr Gesicht.
„Tina, komm, lass mich jetzt nicht im Stich. Wir beide wären ein tolles Gespann, weißt du das nicht? Komm, kämpfe. Halt durch, hörst du?“
Immer weiter redete er mit ihr, ohne recht zu wissen, was er sagte. Nach einigen Minuten trafen die Rettungskräfte ein. Der Notarzt hörte den Herzschlag ab, setzte Tina eine Sauerstoffmaske auf und rief die Notaufnahme im Krankenhaus an, während er die Sanitäter beobachtete, die Tina sanft auf eine Trage legten.
„Ich denke, sie wird es schaffen“, sagte er schließlich zu Robert. „Allerdings hat sie eine Menge Blut verloren. Der Täter muss wissen, wie er ein Messer anzusetzen hat, damit er viel Schaden anrichtet. Ich bringe sie jetzt ins Bonner Johanniter-Krankenhaus. Möchten Sie mit uns fahren?“
Robert dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. Tina war bewusstlos. Im Moment konnte er nichts für sie tun. Stattdessen wollte er denjenigen finden, der hierfür verantwortlich war. Doch vorher musste er noch ein wichtiges Telefonat führen.

Stefan Seckel, der Landesinnenminister von Nordrhein-Westfalen, hatte genug gehört. „Herr Berger, ich verstehe ihre Situation. Doch sehen Sie: Momentan ist das Personal überall ziemlich knapp. Auch in anderen Städten sind die Polizeistationen zurzeit unterbesetzt. Ich kann nicht einfach irgendwo eine Hundertschaft abziehen und sie nach Sankt Augustin schicken. Versuchen Sie doch, einige Kollegen aus dem Urlaub zurückzurufen. Ich kann leider nichts für Sie tun.“
„Wir alle sind seit Tagen rund um die Uhr im Einsatz. Und heute geschieht erst ein Mord, dann der Angriff auf meine Kollegin. Ihre Verletzungen sind eventuell lebensbedrohlich. Und sie ist bestimmt nicht der Typ, der Feinde hat, das können sie mir glauben. Ich vermute, dass hier irgendwo ein Psychopath herumläuft. Ich bitte Sie doch nur um ein paar Mann.“
„Da ist leider nichts zu machen. Doch sollte die Situation außer Kontrolle geraten, halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.“
Damit legte Stefan Seckel auf. Robert schnaubte vor Wut. Ha, wenn die Situation außer Kontrolle gerät. Als ob sie das nicht längst schon wäre, dachte er. Doch er hatte keine andere Wahl, als wieder die Spurensicherung anzurufen und zu warten.


3

Nach vierstündigem, unruhigem Schlaf erwachte Robert am frühen Morgen. Er hatte sich noch bis spät in die Nacht den Kopf zerbrochen, wie er bei dem Mord im Park und bei dem Angriff auf Tina vorankommen konnte.
Die Spurensicherung hatte kaum etwas gefunden: Alle Fingerabdrücke stammten von Polizisten. Schließlich durfte auch sonst niemand hinter die Absperrung, die einmal die Glastür dargestellt hatte. Alles sah danach aus, als habe der Angreifer Handschuhe getragen. Die Tatwaffe war nicht aufzufinden. Doch noch gab es Hoffnung. Vielleicht hatte Tina den Angreifer gesehen und konnte ihn beschreiben. Vielleicht hatte sie sich auch gewehrt und es gab Hautpartikel oder Stofffasern unter ihren Fingernägeln, die zum Täter führen könnten. Aber die Ärzte hatten bisher keinen Besuch gestattet. Auch als Robert am späten Abend nach Tina sehen wollte, wurde er nicht zu ihr gelassen.
„Wir mussten eine Arterie in der Bauchhöhle klammern und ihr zwei Liter Blut transferieren“, berichtete der Oberarzt. „Ihr Kreislauf hat sich etwas stabilisiert. Aber sie ist immer noch bewusstlos. Sie hat zwar eine schwere Gehirnerschütterung, aber auch das dürfte eigentlich kein Grund für eine so lange Bewusstlosigkeit sein. Wir gehen deshalb von einem schweren Schock aus, der für ihren komaähnlichen Zustand verantwortlich ist.“
Niedergeschlagen war Robert nach Hause gefahren und hatte versucht, wenigstens etwas Schlaf zu finden.

Nach einer kalten Dusche und einem kargen, schnellen Frühstück fuhr er zunächst wieder nach Bonn ins Krankenhaus. Tinas Zustand war unverändert. Die Ärzte konnten zurzeit nicht mehr für sie tun. Robert hatte das Gefühl, die Welt würde über seinem Kopf zusammenstürzen. Er war fest davon ausgegangen, dass sich ihr Zustand über Nacht gebessert habe. Gestern war er zwar schon geschockt gewesen, aber irgendwie waren ihm die Vorfälle da noch unwirklich erschienen – als sei er in einem furchtbaren Alptraum gefangen, aus dem er gleich erwachen würde. Erst jetzt wurde ihm die ganze Tragweite der gestrigen Verbrechen bewusst. Ihm wurde schwindlig und er lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand des Krankenhausflures, um nicht zu stürzen.

Als er zu seinem Wagen zurückkehrte, griff er zunächst nach seinem Handy und rief Günther an. Er brauchte jetzt einfach einen Menschen, mit dem er reden konnte. Erst nach dem fünften Klingelzeichen meldete sich eine verschlafene Stimme.
„Günther Fassler, hallo.“
„Hallo Günther, Robert hier. Ich hoffe, ich habe deinen Schönheitsschlaf nicht gestört. Nein, im Ernst: Wie geht es dir? Kann ich vielleicht kurz vorbei kommen, um mit dir zu sprechen? Gestern war ein fürchterlicher Tag und weißt du ...“
„Hey Robert, nun beruhige dich erst mal“, unterbrauch Günther seinen Redeschwall. „Ich habe übrigens von den gestrigen Vorfällen gelesen. Die Jungs vom Bonner Generalanzeiger sind wirklich auf Draht. Wie geht es Tina? Du weißt, dass mir das wirklich verdammt leid tut.“ Günther war der Einzige, mit dem Robert über seine Gefühle gesprochen hatte.
„Ja, ich weiß. Danke der Nachfrage. Aber noch gibt es keine Entwarnung. Sie ist nach wie vor bewusstlos."
„Hast du schon gefrühstückt? Na los, komm rüber. Du hörst dich so an, als hättest du etwas Aufmunterung nötig.“
„Okay, bis gleich.“

Günther öffnete ihm mit Jogginghose und Sweatshirt bekleidet die Tür.
„Na los, Alter. Komm schon rein.“
Robert fühlte sich gleich etwas besser. Die etwas barsche, aber bestimmte und selbstsichere Art seines Freundes wirkte beruhigend. Den gleichen Effekt hatte die Wohnung seines Partners. Im Gegensatz zu seiner eigenen, oft chaotischen Junggesellenbude merkte man hier, dass eine Frau im Hause war. Günthers Frau Elvira war als Mitarbeiterin des Bundesministeriums für Gesundheit – eines der wenigen Bundesministerien, die ihren Hauptsitz in Bonn behalten hatten – zwar häufig in Berlin, aber bei der Einrichtung merkte man ganz deutlich das typisch weibliche Gespür für Ästhetik und Eleganz. Anscheinend war auch die Putzfrau gerade erst wieder hier gewesen. Alles war ordentlich aufgeräumt und die Wohnung blitzte nur so vor Sauberkeit.
Als sie gemütlich auf dem Sofa saßen, jeder eine Tasse Tee vor sich, berichtete Robert von den jüngsten Ereignissen.
„Weißt du, ich kann einfach nicht mehr“, schloss er seine Schilderung. „Die letzten Tage, eigentlich die letzten Wochen, waren schon hart. Nicht, dass etwas Besonderes vorgefallen wäre. Aber es sind einfach permanent Doppelschichten, die ich leisten muss. Und gestern das hat mir jetzt den Rest gegeben. Ich komme einfach nicht weiter. Weder bei dem Mord im Park, noch bei dem Angriff auf Tina. Ich kann aber kaum mehr klar denken, weil ich mir so fürchterliche Sorgen um sie mache. Ich merke erst jetzt, wie wichtig sie mir tatsächlich geworden ist.“ Damit vergrub er sein Gesicht in den Händen und konnte das erste Mal seit vielen Jahren wieder weinen. Als Günther schließlich zu ihm kam und tröstend den Arm um seine Schulter legte, lehnte er sich an seine Brust. Das Schluchzen ließ seinen gesamten Körper beben und er zitterte wie jemand, der vom Baden aus einem See kommt und merkt, dass draußen ein eisiger Wind pfeift.

Nach einer Weile hatte sich Robert wieder etwas beruhigt. Er richtete sich auf und sah Günther mit roten, verquollenen Augen an.
„Hey, Mann, ich benehme mich wie ein Kleinkind, nicht wahr?“ Er versuchte zu grinsen, brachte jedoch nur eine schiefe Grimasse zustande.
„Das ist absolut in Ordnung. Wenn ich nicht noch krank geschrieben wäre, würden wir beide den Täter in Nullkommanichts dingfest machen. Aber mein Arzt hat mir strikte Bettruhe verordnet. Er meint, mit Sommergrippe sei nicht zu spaßen. Wenn man nicht vorsichtig ist, kann schnell eine Lungenentzündung draus werden. Aber ich sage dir jetzt mal was: Du bist in meinen Augen der beste Polizist in der ganzen Region. Siehe dir einfach alles noch einmal genau an. Irgendwo muss es doch Spuren geben. Du hast sicherlich etwas übersehen, weil du emotional so aufgewühlt bist. Und wenn du dann noch nicht weiterkommst, fordere Unterstützung an. Du musst schließlich nicht alles alleine machen.“
„Nein, Unterstützung kann ich vergessen. Ich habe sogar schon mit dem Innenminister telefoniert. Aber du hast Recht. Hier zu sitzen und zu jammern bringt nichts. Danke für die Komplimente, mein Junge. Dann will ich mal wieder.“


4

Robert fuhr nach Bonn. Sein erster Weg führte ihn erneut zum Krankenhaus. Die Krankenschwestern berichteten ihm, dass Tina sich einige Male geregt habe, aber immer noch nicht wieder aufgewacht sei. Doch das sei sicherlich nur noch eine Frage der Zeit. Man habe den Leuten von der Spurensicherung erlaubt, Proben unter den Fingernägeln der Patientin zu nehmen. Robert bedankte sich und gab den Schwestern seine Handynummer.
„Bitte unterrichten Sie mich sofort, wenn sie wach wird“, trug er ihnen auf.
Etwas beruhigt und dadurch beschwingt ging er zu seinem Wagen und fuhr weiter zum pathologischen Institut.

„Das Opfer wurde offenkundig zunächst bewusstlos geschlagen und anschließend mit dem Messer umgebracht“, erklärte ihm Axel Roth nach der Begrüßung. „Keiner der Messerstiche wäre auf der Stelle tödlich gewesen. Wir können jedoch keine Spuren von einem Kampf bei dem Opfer feststellen. Somit spricht alles für einen schnellen Angriff, der den Mann sofort außer Gefecht setzte. Wir haben winzige Lackspuren in den Kopfwunden des Mannes gefunden. Bei der ersten Tatwaffe scheint es sich also um einen lackierten Stock oder Stab zu handeln. Es könnte beispielsweise ein Billardqueue gewesen sein. Wir prüfen das noch. Die Schläge müssen mit ungeheurer Wucht ausgeführt worden sein, damit der Lack absplittern konnte. Das und die Anzahl der Messerstiche lassen mich vermuten, dass es um eine sehr persönliche Angelegenheit ging oder der Täter ein Psychopath ist.“

Robert verließ nachdenklich das Institut. Auch ihm war die ungewöhnliche Brutalität des Verbrechens schon gestern aufgefallen. Die Anmerkungen des Pathologen erschienen ihm schlüssig. Doch noch immer war nicht klar, wer das Opfer war. Der Mann hatte keine Papiere und auch sonst keine Hinweise auf seine Person bei sich gehabt. Robert hatte ihn noch nie gesehen und kannte in seiner kleinen Stadt nahezu jeden – wenn auch nicht unbedingt mit Namen, so doch zumindest die Gesichter.
Laut Axel Roth handelte es sich um einen Mann Mitte fünfzig. Sein körperlicher Zustand war verheerend: Die Leber eines Alkoholikers, starke Mangelerscheinungen aufgrund falscher Ernährung und den Mund voller übel riechender, fauler Zähne. Bisher gab es noch keine Vermisstenmeldung, die auf diesen Mann passte. Alles schien auf einen Obdachlosen hinzudeuten. Das schloss einen Raubmord aus. Doch welcher Obdachlose schaffte sich solche Feinde, die ihn mit über zwanzig Messerstichen malträtierten? Zudem wiesen der Mord und der Angriff auf Tina einige Gemeinsamkeiten auf, die auf ein und denselben Täter schließen ließen. Aber wo bestand der Zusammenhang zwischen seiner jungen, hübschen Kollegin und einem alten, kranken Mann, der ohne Wohnung und Arbeit dahinvegetierte?
Robert schwirrte der Kopf. Es gab mehr Fragen als Antworten. Allerdings er hatte noch eine Station vor sich, von der er sich mehr Anhaltspunkte erhoffte.

„Wir haben einige interessante Entdeckungen gemacht“, empfing ihn der Leiter der Spurensicherung. „Der Mann ist anscheinend nicht an der Fundstelle ermordet worden. Durch die zahlreichen Messerstiche hat er sehr viel Blut verloren. Aber nicht im Pleiser Park. Wir haben einige Bodenproben entnommen, wo der Mann gefunden wurde. Es ist zwar Blut ins Erdreich gesickert, jedoch handelt es sich dabei um sehr geringe Mengen. Die Blutgerinnung muss schon zuvor eingesetzt haben.“
Robert bedankte sich und ging wieder hinaus. Er brauchte etwas frische Luft und Ruhe, um nachzudenken. Doch nach kurzer Zeit ging er wieder hinein. Er hatte eine plötzliche Eingebung. Nicht direkt eine Idee, eher ein Gefühl.
„Sie haben doch in der Polizeizentrale Fingerabdrücke genommen, nicht wahr?“
„Ja, natürlich. Aber sie wissen ja, dass alle von Polizisten stammten. Der Täter muss Handschuhe getragen haben.“
„Könnte ich bitte trotzdem eine Liste mit allen Personen bekommen, von denen Fingerabdrücke gefunden wurden?“
„Natürlich. Warten Sie bitte einen Augenblick.“
Der Leiter der Spurensicherung verschwand in einem Büro und kam kurz darauf mit der Liste in der Hand zurück.
„Danke vielmals.“

Robert überflog die Namen noch im Stehen, sobald er das Blatt Papier in der Hand hielt. Zuoberst tauchte sein Name auf, dann der von Tina gefolgt von Bert Rau und Holger Seege, die als Partner Dienst taten und sich momentan als einzige auf den Drogendealerring konzentrierten. Außerdem standen noch Anna Klein, die in der Telefonzentrale arbeitete und jetzt Tina vertrat, sowie Günther Fassler auf der Liste. Robert konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Er rieb sich die Stirn. Los, Robert. Irgendetwas übersiehst du. Es gibt immer einen Schlüssel zu einem ungelösten Fall, dachte er.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Der Leiter der Spurensicherung hatte sich kurz entfernt und kam nun mit zwei Tassen Kaffee zurück, von denen er eine Robert anbot.
„Doch, ich weiß im Moment nur nicht so recht weiter.“ Dankbar nahm Robert den Kaffee an.
„Wenn Sie möchten, können sie unseren Sitzungsraum benutzen. Dort sind Sie ungestört.“
„Nein, danke, ich fahre gleich wieder.“ Robert hatte es auf einmal sehr eilig. Diese Liste war das einzige Konkrete, was er zu seinen Fällen in den Händen hielt. Und auf einmal hatte er das Gefühl, dass der Schlüssel in der Zentrale zu finden war.


5

Anna sah erstaunt auf, als Robert im Laufschritt durch den Eingang kam und schnell mit seiner Codekarte die inzwischen ersetzte Glastür öffnete.
„Du hast es aber eilig. Gibt es was Neues?“ Die großen Augen hinter der rahmenlosen Brille sahen ihn neugierig an.
„Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.“
Robert ging hinüber zum Dienstplan und glich die Namen mit seiner Liste ab. Ferdinand Meyer, Susanne Jever und Klaus Wegen waren nicht auf seiner Liste vertreten. Alle drei hatten seit einer Woche Urlaub. In der Zwischenzeit war der Putzdienst hier gewesen und hatte seine Sache anscheinend gründlich gemacht. Doch noch jemand war ebenso lange nicht mehr zum Dienst gekommen. Günther war seit einer Woche krankgeschrieben. Dennoch waren seine Fingerabdrücke gefunden worden. Robert wurde übel und der Raum schien sich zu drehen. Der Verdacht, der sich ihm aufdrängte, war einfach überwältigend. Er stürzte nach hinten zu den Toiletten und übergab sich, bis nur noch Galle hervorkam. Er wusch sich das Gesicht und ging auf wackeligen Beinen zurück. Anna stand bestürzt in der Tür und sah ihn angsterfüllt an.
„Mein Gott, was ist denn nur los? Du siehst ja aus wie der leibhaftige Tod. Geht es dir nicht gut? Soll ich Bert und Holger anrufen, dass sie den Fall übernehmen?“
Robert schüttelte den Kopf. Langsam erholte er sich ein wenig. Es gibt noch eine andere Erklärung, dachte er sich. Vielleicht hat der Putztrupp eine Ecke übersehen. Vielleicht war es nur ein einziger Fingerabdruck von Günther an einer schwer erreichbaren Stelle, weswegen sein Name auch auf der Liste steht.
Er erzählte Anna von seiner Entdeckung, ließ dabei jedoch auch seine Zweifel nicht aus. Er konnte es einfach nicht glauben. Günther war sein Partner. Der Mensch, dem er nach dem Tod seiner Eltern am meisten vertraute. Seit fünf Jahren arbeiteten sie nun zusammen und er hatte geglaubt, Günther zu kennen wie niemanden sonst. Auch das erzählte er Anna.
„Okay, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Günther etwas damit zu tun hat“, sagte Anna. „Warum rufst du nicht die Spurensicherung an und fragst, wie viele Fingerabdrücke von ihm gefunden wurden und wo? Außerdem: Warst Du nicht heute Morgen bei ihm? Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht? War er nervös, aggressiv? Hast du irgendetwas Ungewöhnliches festgestellt?“
Robert schüttelte den Kopf. „Nein, er war wie immer. Ruhig, selbstsicher. Er hat mich sogar etwas aufgemuntert und mir ein paar Tipps gegeben.“
Anna strahlte. „Na also!“
Aber Roberts erleichterter Gesichtsausdruck wich plötzlich wieder einer tiefen Niedergeschlagenheit. Günther hatte gewirkt, wie immer, das stimmte. Aber er hatte nicht krank gewirkt. Nirgends lagen Taschentücher oder Medikamente herum. Kein Krankenlager auf der Wohnzimmercouch. Und Günther hatte von den Verbrechen gewusst, als er ihn anrief. Er hatte sich zwar auf die Zeitungsberichte berufen, aber es war deutlich, dass er gerade erst aufgewacht war. Wie sollte er da schon die Zeitung gelesen haben? Und da war noch etwas: Günther spielte leidenschaftlich gerne Billard und besaß einen eigenen Queue.
„Anna, ich glaube, er war es doch. Ich weiß nicht, warum er es getan hat, aber ich glaube, er war es. Ich fahre jetzt zu ihm.“ Roberts Stimme war ausdruckslos und monoton. Wie in Trance erhob er sich und wollte gehen. Anna sprang erschrocken auf und hielt ihn zurück.
„Mensch, Robert, weißt du, was du da sagst? Willst du nicht doch erst mit der Spurensicherung telefonieren? Warum bist du dir auf einmal so sicher? Er ist doch dein Partner, verdammt!“
„Ich weiß es einfach. Lass mich durch.“
„Nein. Denn wenn du Recht hast, könnte es sehr gefährlich sein, zu ihm zu fahren. Warte lieber. Ich rufe Bert und Holger, die sollen dich begleiten. Am besten holen wir uns noch Unterstützung aus Troisdorf und Bonn.“

Gardinen bewegten sich hinter geschlossenen Fenstern und einige Nachbarn kamen aus ihren Häusern, als sieben Einsatzwagen der Polizei vor Günthers Haus hielten. Doch die Angst siegte über die Neugier und sie zogen sich wieder in ihre sicheren Häuser zurück, als zwanzig Uniformierte mit gezogenen Pistolen das Gebäude umstellten und die Haustür eintraten. Robert rannte an der Spitze des Trupps in den Flur und weiter ins Wohnzimmer. Von Günther war nichts zu sehen. Andere Polizisten verteilten sich im Haus. Aus dem oberen Stockwerk rief ein Bonner Kollege herunter: „Hierher, ich habe ihn gefunden.“
Robert schob sich an zwei anderen Polizisten vorbei und ließ jede zweite Stufe aus, als er die Treppe hinaufstürmte. Auf dem gemachten Bett im Schlafzimmer lag Günther auf dem Rücken, ein Einschussloch in der Stirn und seine Dienstwaffe in der erschlafften rechten Hand. Neben ihm lag ein Blatt Papier. Robert erkannte sofort Günthers ebenmäßige Handschrift.

„Hallo Robert. Ich wusste, du würdest es herausfinden. Weißt du noch, ich habe dir gesagt, dass du in meinen Augen der beste Polizist weit und breit bist. Und wenn du der erste bist, der diese Zeilen liest, hatte ich Recht.
Tja, wie soll ich beginnen? Meine Ehe mit Elvira ist schon lange nicht mehr glücklich. Sie ist selten zu Hause und hat einen Liebhaber. Um mich ein wenig abzulenken, habe ich in den letzten Jahren mit dem Spielen angefangen. Erst in Spielhöllen, schließlich in den Hinterzimmern von Kneipen. Vor allem Poker und Black Jack. Am Anfang lief es ganz gut und ich habe kleine und mittlere Geldbeträge gewonnen. Dann stiegen die Einsätze. In den letzten zwei Jahren habe ich ein Vermögen verloren. Aber ich konnte nicht aufhören. Die Pechsträhne konnte ja nicht ewig anhalten. Schließlich musste ich eine Hypothek auf das Haus aufnehmen. Dann liehen mir meine Pokerfreunde immer mehr Geld, bis ich bis über beide Ohren bei ihnen verschuldet war. Da erzählten sie mir, dass sie diejenigen sind, die die Drogengeschäfte in Bonn und Umgebung – also auch hier – kontrollieren. Sie zwangen mich, ihnen rechtzeitig vor unseren Einsätzen gegen den Drogendealerring Tipps zu geben. Andernfalls würden sie Elvira und euch alles erzählen.
Tina bekam schließlich alles heraus. Eigentlich war es purer Zufall. Sie kam zurück ins Büro, um ihre Jacke zu holen, als ich mit meinem Handy mit einem der Dealer telefonierte und ihnen von unserem nächsten Einsatz berichtete. Sie war unglaublich geschockt. Und trotzdem war sie sehr nett und einfühlsam. Sie meinte, Kollegen müssten zusammenhalten. Selbstverständlich müsste ich für alles geradestehen, aber wenn ich mich stellen würde, würde es sicher nur halb so schlimm werden. Sie versprach, zunächst nichts zu erzählen, bis ich mir darüber klar geworden war, wie ich das anstellen wollte. So habe ich mich erstmal krank gemeldet, um in Ruhe nachdenken zu können. Doch als ich zwei Abende hintereinander nicht zu den Pokerabenden erschien, kamen die Dealer zu mir und drohten mir, ja nicht auszusteigen. Sie würden mich und Elvira umbringen, wenn ich es doch tun sollte. Ganz ehrlich: Um mich selbst machte ich mir keine Sorgen. Meine Selbstachtung war dahin. Aber ich liebe Elvira immer noch. Ich hatte immer die Hoffnung, dass wir wieder zueinander finden könnten. Um sie zu schützen gab es nur eine Möglichkeit: Tina – die einzige Mitwisserin – musste weg.
Der Hund und der Obdachlose waren nur Ablenkungsmanöver. Dadurch war ich mir sicher, dass du beschäftigt sein würdest, wenn ich zu Tina ging. Als ich kam, war sie gerade in der Teeküche. So konnte ich sie überraschen. Die Tür habe ich anschließend eingetreten, um den Verdacht von allen Mitarbeitern und damit auch von mir abzulenken. Vielleicht wäre es sogar gut gegangen. Aber ich kann nicht mehr. Ich ekele mich vor mir selbst.
Ich hoffe jetzt wirklich, dass Tina überlebt und wieder richtig gesund wird. Obwohl ich zuerst sehr geschockt war, dass sie nicht gestorben ist. Sie ist anscheinend verdammt zäh. Und ein unglaublich lieber und loyaler Mensch und eine tolle Kollegin. Bitte sei gut zu ihr. Ich wünsche euch von Herzen eine glückliche gemeinsame Zukunft. Dein Günther“

Robert sank mit dem Brief in der Hand zu Boden und weinte ebenso hemmungslos wie am Morgen. Die anderen Polizisten zogen sich diskret zurück und tuschelten leise auf dem Flur miteinander. Da klingelte Roberts Handy. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und meldete sich mit rauer Stimme.
„Schwester Gisela vom Johanniter-Krankenhaus. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Frau Tina Schmitz vor etwa zehn Minuten aufgewacht ist. Sie hat schon nach Ihnen gefragt.“
„Vielen Dank, ich bin gleich da.“
Robert schaltete das Handy aus und stand auf. Er ging zu Günther und umarmte seinen Partner ein letztes Mal. Dann trat er hinaus in den strahlenden Sonnenschein und fuhr zum Krankenhaus.

 

Hallo katzano!

Da Häferl den Text ausgegraben hat, will ich ihn ebenfalls kommentieren.

Ist ein langer Text, daher wird auch die Kritik entsprechend. Ist aber nicht so schlimm, wie es aussieht, denn ordentlich geschrieben ist die Geschichte auf jeden Fall.

Abschnitt 1:
Erstmal finde ich es merkwürdig, wenn du achtundfünfzigtausend ausschreibst, 17 aber nicht.

"Durch die unmittelbare Nähe zur ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn war sie vor dem Regierungsumzug nach Berlin der bevorzugte Wohnort vieler Spitzenpolitiker." => Gewesen, da vorzeitig.

"die Polizei handfeste Tipps aus der Bevölkerung erhalten. Doch jedes Mal, wenn sie zuschlagen wollten," => Wollte, da Einzahl.

"lernte jeder Polizist im ersten Ausbildungsjahr. Mit gutem Grund." => Aus gutem Grund.

"Während der Fahrt orderte er einen Notarzt an." => Anordern? Den Begriff kenne ich so nicht. Herbeordern oder anfordern. Allerdings sollte der Notarzt doch nicht erst über den Umweg über den ermittelnden Beamten verständigt werden. Auch wenn du es erklärst, erscheint es mir unlogisch. Berger hätte ja nachfragen können, ob schon ein Arzt vor Ort ist.

"Genaueres wird die Autopsie ergeben. Ich rufe gleich einen Gerichtsmediziner" => Das sagt der Notarzt zum Polizisten? Kümmert sich nicht die Polizei um den Gerichtsmediziner?

"Nachdem sich der Pathologe" => Gerichts- oder Rechtsmediziner. Pathologe ist dafür kein Synonym. Pathologen haben ein anderes Berufsbild.

"Sein Herz wurde mehrmals getroffen," => Das erkennt er, ohne die Leiche zu öffnen? Dazu müsste er hellsehen können oder Röntgenaugen haben. Lass es ihn besser vermuten.
"Die Klinge muss sehr lang gewesen sein - mindestens zwölf Zentimeter, vielleicht auch fünfzehn." => Dito.

"Ich werde eine Autopsie vornehmen." => Das ist klar, also sollte er das nicht genauso sagen.

"Mit ihrer Erlaubnis nehme ich die Leiche gleich mit." => Sorry, aber das klingt, als wollte er sie sich in die Tasche stecken. Und Ihrer groß.

"Durchsuchung der näheren Umgebung, die sie schließlich auf den ganzen Park ausdehnten." => Bezug. Hier dehnen sie die Umgebung aus, nicht die Durchsuchung.

"noch Kleidungsstücke finden. Alle Hoffnungen, Hinweise auf den Täter zu finden," => WW: finden. Und Kleidungsstücke? Ist die Leiche unbekleidet? Das hast du nirgends erwähnt.

Abschnitt 2:

"Telefonzentrale zum Flur abtrennte." => vom, denke ich

"Dann sah er die Glastür,"
"Das Glas lag in tausenden" => Wie kann er eine Tür sehen, die nicht mehr vorhanden ist?

"Der Täter muss wissen, wie er ein Messer anzusetzen hat, damit er viel Schaden anrichtet." => Diese Vermutung ist nicht ganz logisch. Einerseits könnte es auch ein "glücklicher" Zufallstreffer sein, andererseits ist es durchaus möglich, für jemanden, der sich auskennt, mit einem Stich eine Schlagader so zu treffen, dass das Opfer schnell verblutet, also stirbt.

Die Reaktion vom Innenminister ist mir auch nicht glaubwürdig genug. Da wird eine Polizeibeamtin womöglich tödlich verletzt und der sagt nur: "Sorry, ich kann Ihnen kein zusätzliches Personal schicken"? Er ist der Dienstherr. Er sollte sich doch ein wenig mehr um seine Leute sorgen. (Die Szene würde ich ganz streichen.)

Abschnitt 3:

"es gab Hautpartikel oder Stofffasern unter ihren Fingernägeln, die zum Täter führen könnten. Aber die Ärzte hatten bisher keinen Besuch gestattet." => Also, wenn sie schon stundenlang im Krankenhaus liegt, wird sich garantiert nichts Verwertbares mehr unter den Fingernägeln finden. Da muss die Spurensicherung sofort ran.

"ihr zwei Liter Blut transferieren" => Heißt das nicht transfundieren?

"beruhige dich erst mal", unterbrauch Günther seinen Redeschwall." => RS unterbrach

"Und gestern das hat mir jetzt den Rest gegeben." => Unschöner Satzbau. Ohnehin klingt mir Roberts Monolog ein wenig zu lektorierend. Zu wenig Emotionen.

"Das Schluchzen ließ seinen gesamten Körper beben und er zitterte wie jemand, der vom Baden aus einem See kommt und merkt," => Scheußlicher Vergleich, würde ich ganz streichen. Der Leser weiß schließlich, warum Robert zittert.

"Er richtete sich auf und sah Günther mit roten, verquollenen Augen an." => Die Beschreibung der roten Augen erscheint mir wie ein Perspektivwechsel.

"Siehe dir einfach alles noch einmal genau an." => Sieh dir

Abschnitt 4:

"Das und die Anzahl der Messerstiche lassen mich vermuten, dass es um eine sehr persönliche Angelegenheit ging oder der Täter ein Psychopath ist." => Was für eine Vermutung. Bei der Anzahl der Stiche und dem kaum noch vorhandenen Gesicht war dem Leser schon klar, dass das kein simpler Unfall oder Raubüberfall war. Im Übrigen ist so eine Vermutung doch eher Sache der Polizei, nicht des Mediziners.

"Robert hatte ihn noch nie gesehen und kannte in seiner kleinen Stadt nahezu jeden – wenn auch nicht unbedingt mit Namen, so doch zumindest die Gesichter." => Das Gesicht zu kennen, würde doch nichts helfen, denn in Abschnitt 1 stand ja: "Von dem Gesicht war kaum etwas zu erkennen."
(Und da ich mich gerade durch die Kommentare lese: Er kennt 58.000 Einwohner?)

"Zudem wiesen der Mord und der Angriff auf Tina einige Gemeinsamkeiten auf, die auf ein und denselben Täter schließen ließen." => Moment, welche? Dass eine Stichwaffe benutzt worden ist? Das ist bisher das einzige und lässt kaum auf ein und denselben Täter schließen.

"Mann, der ohne Wohnung und Arbeit dahinvegetierte?" => Reine Vermutung, sehr unprofessionell.

"Könnte ich bitte trotzdem eine Liste mit allen Personen bekommen, von denen Fingerabdrücke gefunden wurden?" => Das wird also die Auflösung, richtig? Der Täter ist ein Polizist.
"sowie Günther Fassler auf der Liste." => Aha, dieser.

"können sie unseren Sitzungsraum benutzen." => Hier hast du ein Anrede-Sie übersehen.

Abschnitt 5:

"Günther hatte gewirkt, wie immer" => Überflüssiges Komma.

"Günther spielte leidenschaftlich gerne Billard und besaß einen eigenen Queue." => Aber ein leidenschaftlicher Billardspieler würde sein Queue niemals als Mordwaffe benutzen. Das wird gehätschelt wie eine Geliebte, wie das einzige Kind ... (Selbst wenn ihm alles egal wäre, wie du in den Kommentaren schreibst, warum sollte er ausgerechnet sein Billardqueue benutzen? Warum nicht einen Stein, der effektiver wäre, oder ...? Übrigens, wo wurde der Mann eigentlich getötet? In Günthers Wohnung? So muss es ja sein, wenn er das Queue benutzt. Die Tat war auf jeden Fall geplant, und Günther hätte sich ganz bestimmt eine andere Mord-, bzw. Betäubungswaffe ausgesucht.)

"den Drogendealerring Tipps zu geben. Andernfalls würden sie Elvira und euch alles erzählen." => Äh, die Drogendealer, von denen die Polizei noch nicht mal weiß, wer sie sind, wollen zu ebendieser Polizei gehen, sich outen und sagen: "Ätsch, eurer Günther Fassler ist unser Informant"? (Ohne sich selbst zu outen, können sie ihn nicht verraten, das sollte Günther klar sein.)
"Sie würden mich und Elvira umbringen, wenn ich es doch tun sollte." => Das ist eine erheblich realistischere Drohung.

"Um sie zu schützen gab es nur eine Möglichkeit" => Komma nach schützen.

"Der Hund und der Obdachlose waren nur Ablenkungsmanöver." => Der hat sogar den Hund erwürgt? Wie kommt man denn auf so ein dämliches Ablenkungsmanöver? Der hätte doch zubeißen können!
Und beim Obdachlosen: Zwanzig Stiche und ein total zertrümmertes Gesicht. Nur als Ablenkungsmanöver? Um eine derartige Gewalttat auszuüben gehört einiges. Ich denke nicht, dass ein bisher unbescholtener Ersttäter wie Günther das so einfach machen kann.

Und zum Ende: Muss dieses Happy-End mit dem "in den Sonnenuntergang reiten" wirklich sein? Ich weiß, das ist Geschmackssache, aber das fand ich beinahe surreal.

Okay, abschließend: Das ist ein klassischer Krimi und meiner Meinung nach kann man einen klassischen Krimi (Mord am Anfang, Mördersuche durch Polizisten ...) nicht vernünftig in eine Kurzgeschichte zwängen, aber das hast du ja auch selbst erkannt. Aber ansonsten ist der Text ansprechend geschrieben.

Grüße
Chris

 
Zuletzt bearbeitet:

1
Nach vierstündigem, unruhigem Schlaf erwachte Robert am frühen Morgen. Er hatte sich noch bis spät in die Nacht den Kopf (darüber) zerbrochen, wie er bei dem Mord im Park und bei dem Angriff auf Tina vorankommen konnte.


„Wir mussten eine Arterie in der Bauchhöhle klammern und ihr zwei Liter Blut transferieren“, berichtete der Oberarzt. „Ihr Kreislauf hat sich etwas stabilisiert. Aber sie ist immer noch bewusstlos.

Ich fände diese durch den Punkt im dialog gesetzte Pause irgendwie komisch. Vl schreibste: "Ihr Kreislauf hat sich zwar wieder etwas stabilierst, aber sie ist immer noch bewusstlos.

Sie hat zwar eine schwere Gehirnerschütterung, aber auch das dürfte eigentlich kein Grund für eine so lange Bewusstlosigkeit sein. Wir gehen deshalb von einem schweren Schock aus, der für ihren komaähnlichen Zustand verantwortlich ist.“


Koma ähnlichen

Niedergeschlagen war Robert nach Hause gefahren und hatte versucht, wenigstens etwas Schlaf zu finden.

Warum wechselste hier ins plusquamperfekt?


Als sie gemütlich auf dem Sofa saßen(,) jeder eine Tasse Tee vor sich(,) berichtete Robert von den jüngsten Ereignissen.

würde (hier) und (hier) nen gedankenstrich setzen


Aber du hast Recht. Hier zu sitzen und zu jammern bringt nichts. Danke für die Komplimente, mein Junge. Dann will ich mal wieder.“

Das kommt für mich so abrupt, dass er hier abhaut. Außerdem hätteste vielleicht noch eine persönliche Geste von Günther gegenüber Robert einbauen können, hätte zu der ganzen stimmung gepasst. Vl so in etwa:

"Hier zu sitzen und zu jammern bringt nichts. Ich werde mir erstmal ein wenig die Beine vertreten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und danke dir Günther."
"keine Ursache, Robert, ich bin gern dein Kummerkasten", sagte dieser lächelnd, und klapste ihm freundschaftlich auf die Schulter....


4

Etwas beruhigt und dadurch beschwingt(,) ging er zu seinem Wagen und fuhr weiter zum pathologischen Institut.


Robert verließ nachdenklich das Institut. Auch ihm war die ungewöhnliche Brutalität des Verbrechens schon gestern aufgefallen. Die Anmerkungen des Pathologen erschienen ihm schlüssig.
Doch noch immer war nicht klar, wer das Opfer war.


kein so schöner satz, wie ich finde. Vorschlag: Doch noch immer gabs es keine Antwort auf die Frage, wer das Opfer eigentlich war.

Robert schwirrte der Kopf. Es gab mehr Fragen als Antworten. Allerdings er hatte noch eine Station vor sich, von der er sich mehr Anhaltspunkte erhoffte.

brummte ?

Also ich finde deine geschichte recht gut; sie ist spannend, der Schluss kommt überraschend- wie in Krimis eben. Was mir nicht gefällt, ist, das Günther den Obdachlosen nur aus Ablenkung brutal ermordert hat. Wirkt auf mich, als wäre dir da am ende nur nichts bessres eingefallen.


.

gern gelesen
gruß eric

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom