Tristan Harzen
Guest
Sterben.
Sterben.
(April 1996)
Und als er sich dann endlich, endlich sterbend wähnte, als sich die Tür, wie er deutlich spürte, hinter ihm geschlossen hatte und jede zitternde Ängstlichkeit, jedes grause Entsetzen des Lebenden und Lebenwollenden verschwunden waren, als er sich nach vorne in die Dunkelheit tastete, da wuchs in ihm eine stille, ergebene Neugierde: wie es nun wohl mit ihm weiterginge? Wie das Sterben im Einzelnen ablaufen, vor allem: wie es zuletzt sein würde, wenn er - ja, wenn er dann endgültig tot sein würde?
Das letzte krampfartige Ringen mit dem Tode, das letzte Sträuben war längst vergangen sowie das sinnliche Wahrnehmen seiner schmerzenden, zum Tode kranken Körperlichkeit vorbei war; und auch die um den Sterbenden versammelte Familie sah und hörte er nicht mehr; all das, samt jeder Erinnerung daran, war hinter der nunmehr verschlossenen Türe verschwunden, das einzige was ihm noch geblieben war, das war das Bewusstsein, das Gefühl, ein Ich zu sein. Es hatte keinen Namen, keine Geschichte mehr, dieses Ichartige, vermochte sich an nichts und niemanden mehr erinnern, war weiß und leer, aber es war immer noch ein Ich, das neugierig tiefer und tiefer in die Dunkelheit schwebte.
Einen Augenblick lang zogen Physis und Materie noch einmal an der entfliehenden Seele, spürte der Sterbende wie von weit ferne den unangenehmen Druck der Herzmassage auf der Brust, hörte er gespensterhaft undeutliche, aufgeregte Stimmen; mancher Klang wollte ihm bekannt vorkommen; das ließ ihn für Momente taumeln, wanken, zögern; doch dann ließ es nach, verstummte es wieder alles, ertaubte seine Sinnlichkeit nun vollständig, spürte er nicht Brust noch den Druck mehr darauf. Jetzt hatte man ihn entlassen, und er war dankbar. Vergessen senkte sich nun tiefer in seine Seele, ergoss sich über die letzten, tiefsten Erinnerungsspuren, höhlte ihn aus, löschte das Gedächtnis von allen Eindrücken und ließ ihn wieder zum unbefleckten Ungeborenen werden. Noch war es Bewegung, die er tat oder litt, die ihn in irgendeine Richtung trug; noch war da ein Hauch von Wollen und Streben, war er ein Wesen mit instinkthaften Resten von Interesse, wie eine Samenzelle, die blind vorwärts strömt, nicht weiß wozu, nicht weiß wohin, und dennoch strömt... so war der Sterbende nun geworden, klein und unbewusst wie eine Samenzelle; er allerdings trug nicht Befruchtung und Fortpflanzung in sich, sondern etwas wie das Gegenteil, trug Auflösung in sich, wurde leer und leerer... innen war er weiß, um ihn herum war es schwarz – immer noch war er ein Verschiedenes, ein Einzelnes, ein Einsames; da löste sich die hauchdünne Haut dieses zellenartigen Wesens auf, hinaus floss Weiß und wurde von Schwarz geschluckt, Vermischung geschah...