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- 03.07.2017
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Sternenkoffer
Rauchschwaden hingen über dem Berg. An den Gestank hatte Manila sich schon lange gewöhnt, aber ihre Augen tränten, wenn der Müll brannte, und das störte bei der Arbeit. Da half auch das Tuch nicht, das sie sich über Nase und Mund gezogen hatte.
Sie blinzelte und zerteilte mit den Zehen den Unrat vor sich. Eine braune Bananenschale, nasses Papier, Schnipsel und Teilchen, nicht zu erkennen, zu klein, uninteressant. Manila hob eine abgebrochene Plastikgabel auf und warf sie in den großen Reissack, den sie mit sich trug.
Sie prüfte sein Gewicht und seufzte. Viel zu leicht. Dafür würde sie kaum genug Geld bekommen, um heute Abend Milch und Reis mit nach Hause zu bringen.
Wenn die Halde brannte, kamen die Kopfschmerzen noch früher als sonst. Manila ließ den Blick schweifen, versuchte, etwas in dem Dunst zu erkennen. Lag dort ein Haufen Schläuche? Sie hastete den Berg hinauf, scheuchte dabei ein paar dösende Hunde auf, die sie vorwurfsvoll anschauten. „Entschuldigung!“, rief Manila ihnen über die Schulter zu. Sie griff nach der Beute und stöhnte auf. Ein verkohlter Autoreifen lag vor ihr, verschmolzen mit dem Müll.
Frustriert ließ sich Manila auf den Boden fallen. „Au!“ Etwas pikste sie in den Hintern. Sie rutschte zur Seite und fand einen runden Anstecker. Auf blauem Grund glitzerte ein Schmetterling. Manila schloss den Verschluss und ließ den Fund in die Tasche ihres Kleides gleiten.
„Hee, was machst du da?“
Manila zuckte zusammen.
„Wenn deine Oma sieht, dass du hier rumsitzt …“ Karan stapfte lachend den Berg hinunter und zog dabei einen gut gefüllten Sack hinter sich her. „… dann bekommst du heute Abend wohl kein Essen.“
Heute Abend bekommt eher keiner etwas, dachte Manila bei einem Blick auf ihre Beute.
Karan sammelte alte Laufwerke und anderen Elektroschrott. Dafür bekam er am Ende des Tages eine Menge Geld. Aber Mädchen hatten da keine Chance. Das machten die Jungs unter sich aus.
So musste sich Manila wenigstens nicht mit den schweren Teilen rumschlagen, sondern hielt Ausschau nach Plastikflaschen, Verpackungen, Schläuchen oder Schuhen. Zweimal hatte sie schon Haare gefunden, aber so ein Glück hat man nicht oft im Leben.
„Da hinten ist ein riesiges Feuer!“, sagte Karan, als er neben ihr stand. Seine Augen glänzten, über die rechte Wange zog sich ein schwarzer Streifen. „Da ist sogar ein Teil der Halde weggebrochen. Kommst du mit?“
„Weiß nicht“, sagte Manila und drehte an ihrem Armband, einer geflochtenen roten Schnur.
„Komm schon. Vielleicht wurde ja wieder jemand verschüttet, wie vor zwei Monaten!“
„Nee, ich such lieber noch was weiter.“ Manila stand auf und blickte in die Richtung, aus der ein Dröhnen über die Halde drang. „Da vorne kommt ein neuer Kipper.“
Karan zuckte mit den Schultern und verschwand mit seinem Sack hinter der nächsten Kuppe. Ein Schwarm Krähen flog auf und ließ sich schimpfend wieder nieder.
Der Lastwagen machte am Gipfel halt und als Manila dazustieß, drängten sich bereits einige Erwachsene und Jugendliche mit ihren Säcken vor der Ladefläche. Manche von ihnen trugen Gummistiefel und Handschuhe, Hüte schützten sie vor der sengenden Sonne. Der Kipper piepte, die Ladefläche stellte sich auf und der Müll rutschte langsam herunter. Bevor er den Boden berührte, wurden die besten Teile schon herausgepickt.
Manila wartete und durchsuchte dann den Müll, den die anderen übrig ließen. Sie grinste. Vor ihr lagen Unmengen an Plastikgeschirr. Der Müll eines Fastfoodrestaurants.
Sie griff nach einem noch eingepackten Burger, riss die Folie runter und aß summend, während sie mit der anderen Hand ein Teil nach dem anderen in den Sack beförderte.
Als Manila nachmittags die Halde verließ, spürte sie das Gewicht ihrer Arbeit auf der Schulter.
Manila ging zu Padma, die zwischen den anderen Sortierern auf dem Boden saß. Sie nahm ein Teil aus dem Müllberg vor sich, betrachtete es kurz und warf es dann auf einen der vielen Haufen in ihrer Nähe. Ihre langen Haare waren geflochten, die Wangen schimmerten. Manila fand sie sehr hübsch.
Padma blickte auf, als Manila vor ihr stehen blieb. „Na, Kleine, wie war dein Tag?“
Manila zuckte mit den Schultern. „Okay.“
„Und, was hast du da Schönes?“, fragte sie, nickte in Richtung des Reissacks und sortierte weiter.
„Das Übliche.“ Manila schüttete den Sack aus, direkt neben den unsortierten Müllberg, und Padma warf einen kurzen Blick darauf.
„Ich geb dir 10 Rupien.“
„15!“
„Für den Müll?!“, fragte Padma entsetzt.
Manila grinste, Padma lächelte. Das sagte sie jeden Tag. Und dann gab sie Manila das Geld.
Anstatt direkt nach Hause zu gehen, bog Manila in die Gasse, die zu Herrn Lal führte. Sie wusste, dass sie dafür keine Zeit hatte, dass Oma und Vater, Suki und Amir auf das Essen warteten. Aber sie musste noch etwas erledigen.
Herr Lal war alt, konnte kaum noch etwas sehen und hatte mal ein Schwein. Das Tier war schon lange nicht mehr da, vielleicht war es weggelaufen, wahrscheinlicher gegessen worden. Manila hatte es nie kennengelernt, aber den kleinen Stall gab es noch. Herr Lal war sich wohl nicht mehr bewusst, dass der Verschlag neben seiner Hütte ihm gehörte, deshalb war er das perfekte Versteck.
Manila verzichtete heute darauf, Herrn Lal Hallo zu sagen, und schlüpfte sofort durch das Loch im Wellblech. Nur noch wenig Sonnenlicht drang durch die Schlitze.
In der Ecke lag ihr Koffer. Das Plastik war dunkelblau mit silbernen Funken, er sah aus wie der Nachthimmel. Für ihn würde sie einige Rupien bekommen, aber als Manila ihn gefunden hatte, wusste sie, dass sie ihn nicht wieder hergeben konnte.
Sie strich über den gerissenen Deckel und öffnete das Schloss. Manila griff in die Tasche ihres Kleides, betrachtete den Anstecker. Der Schmetterling passte gut zu dem Koffer, er glitzerte genauso. Vorsichtig legte Manila ihn neben die blonde Haarsträhne und die rote Zahnbürste mit Blumen auf dem Griff.
Ihr Blick glitt über die anderen Schätze. Sie seufzte und schloss den Deckel. Dann rannte sie durch die engen Gassen nach Hause.
Suki lag neben ihr im Bett und öffnete die Augen. „Zu!“, flüsterte Manila und ihre Schwester schloss sie wieder.
Ihr Bruder Amir war gerade nach Hause gekommen, er schwankte und lächelte. Sah dumm aus.
„Wo kommst du jetzt her?“ Vater spie die Worte aus, laut und mit Spucke. Er schlug Amir ins Gesicht. Ihr Bruder reagierte kaum.
„Hast dich wieder zugedröhnt?“ Vater schubste Amir gegen die Wand. Das Blech schepperte laut.
Manila atmete flach, wagte es kaum, die Lider zu öffnen, und musste doch etwas sehen. Sie wartete darauf, dass ihr Vater wieder zum Vorschein kam. Der echte, der noch in diesem Fremden stecken musste. Verwandelt durch den Alkohol. Und Mamas Tod.
Im Bett über ihr regte sich Oma. Manila sah ihre Füße herabgleiten, über den Boden stapfen.
„Lass gut sein.“ Oma legte Vater eine Hand auf den Arm. Der schlug sie weg.
„Undankbares Pack“, sagte er. Er griff die halbleere Flasche, die noch auf dem Boden stand, und stolperte hinaus.
„Ist noch Essen da?“, fragte Amir.
Oma schöpfte einen Becher Wasser aus dem Topf. „Trink etwas.“
Manilas Hand umschloss die Geldstücke in ihrer Tasche. Heute war ein guter Tag. Oma wird sie weich umarmen und nachts werden alle mit vollen Bäuchen schlafen.
Sie betrat die Gasse, in der ihre Hütte lag, als es klirrte. Ein Hund jaulte auf und hechtete an ihr vorbei.
Vor dem Eingang zu ihrem Zuhause lagen Scherben. Manila hob sie auf, legte sie auf einen kleinen Haufen am Rand. Der scharfe Geruch von Alkohol drang ihr in die Nase.
Sie trat durch die Tür ins Halbdunkel.
Oma wiegte Suki in den Armen. Die Wangen ihrer Schwester waren nass.
„Na, endlich jemand, der was tut!“ Vater saß auf dem Boden und nickte Manila zu. „Komm zu mir.“
Manila setzte sich neben ihn, roch seine Fahne und den Schweiß. Sein Arm legte sich fest um ihre Schultern. Früher hatte Amir auf der anderen Seite gesessen und Vater hatte ihnen von Brahma, Vishnu und Shiva erzählt, während Mama Suki gestillt hatte.
„Deine Schwester ist genauso unfähig wie dein verkommener Bruder“, sagte er und Manilas Muskeln verspannten sich unter den Fingern ihres Vaters.
Suki wimmerte. Oma strich ihr die schweißnassen Haare aus der Stirn. „Sie ist krank. Morgen wird sie wieder arbeiten“, sagte sie.
„Arbeiten! Die paar Rupien sind sowieso ein Witz.“ Vater stand auf, öffnete eine weitere Flasche und trank mehrere Schlucke. Die Tropfen, die sein Kinn hinunterliefen, wischte er mit dem Handrücken weg.
Manila ließ die Schultern kreisen. „Sie ist eine der besten Verkäuferinnen an der Kreuzung“, sagte sie. Ihre kleine Schwester sah mit den riesigen braunen Augen und den langen dunklen Haaren wunderschön aus, aber ihr Vorteil war die lange Narbe, die vom Mundwinkel bis zum Ohr verlief. Manila fehlte nur ein kleiner Zeh. Den hatte eine Ratte abgefressen, als sie noch ein Baby war. Aber dafür bekam man keine Mitleidsrupien.
„Dann will ich auch Geld sehen“, knurrte Vater. „Wenn sie nicht mehr verdient, geht sie mit dir zum Berg.“
Suki flitzte über die Kreuzung, wich einem Motorroller aus. Die langen Rosen wippten in ihrem Arm. An der Ampel sprach sie eine weiße Frau im Tuk Tuk an. Die schüttelte den Kopf. Es wurde grün und das Taxi fuhr weiter.
Bevor Suki zum nächsten Kunden eilen konnte, rief Manila ihren Namen, winkte.
Suki rannte zu ihrer Schwester. „Was machst du hier?“ Es klang nicht böse, eher verwundert. Sie wusste, Manila hatte nicht die Zeit, ihrer Schwester ohne Grund bei der Arbeit zuzuschauen.
„Wie läuft es?“, fragte Manila.
Sukis Blick glitt über die Kreuzung. „Ich komm nach Hause, wenn alle Rosen verkauft sind.“ Sie hob ihr Kinn und starrte Manila an, als wollte sie so ihren Arbeitswillen beweisen.
Manila nahm Suki am Arm, zog sie mit sich auf einen kleinen Grünstreifen, raus aus dem Gedränge. Dann griff sie in ihre Tasche, nahm ein paar Rupien heraus und drückte sie ihrer Schwester in die Hand.
„Nein!“, sagte Suki. „Das ist dein Geld!“
„Ich hatte heute Glück. Nimm! Falls es bei dir nicht gut läuft.“
„Danke“, sagte Suki leise und drückte Manilas Hand.
Mit zügigen Schritten ging Manila zurück zur Deponie. Ihr Sack war noch lange nicht voll.
Das goldene Armband war eines ihrer ersten Schätze gewesen. Es würde dauern, bis sie etwas fand, das seinen Platz einnehmen konnte. Aber sie fühlte sich gut. Ihre Schwester war wichtiger als alle Armbänder der Welt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saßen ein paar Jungs auf den Stufen eines Hauseingangs. Sie lachten laut. Ihre Körper waren dünn, die Kleidung dreckig. Ihnen ging es noch schlechter als Manila, die wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte. Und ihre Familie.
Manila blieb stehen. Sie hatte Amir in der Gruppe entdeckt. Er hielt ein zusammengeknülltes Tuch in den Händen, ein anderer Junge drückte ein paar Tropfen aus einer kleinen Flasche darauf. Amirs Finger schlossen sich um den Stoff, dann zog er Luft durch die Faust. Atmete hustend aus. Der andere schlug ihm auf den Rücken.
Der fremde Junge war schon fast ein Mann, er hatte einen dünnen Bart über der Oberlippe, seine Haare waren strähnig. Die anderen Jungs lachten immer, wenn er lachte und hielten die Blicke gesenkt. Ab und zu strich er einem über den Kopf, kraulte sie am Rücken, und Manila war sicher, sie würde die Jungen schnurren hören, wenn sie näher dran wäre.
Dann blickte der Anführer auf und sah Manila in die Augen. Es kribbelte in ihrem Nacken, sie legte die Hand darauf, aber das Gefühl ging nicht weg. Sie wandte sich ab und ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Manila knetete das Kleid ein letztes Mal in dem grauen Wasser, wrang es und legte es zu der sauberen Kleidung. Sie schüttete den Eimer aus, das Wasser lief über den lehmigen Weg vor ihrer Hütte, nahm ein paar Blätter und Müll mit.
„Woher hast du das Geld?“
Manila richtete sich auf. Ihr Bruder stand im Halbdunkeln, lehnte an einer Mauer und beobachtete sie.
„Welches Geld?“, fragte Manila.
Mit großen Schritten kam Amir auf sie zu, blieb kurz vor ihr stehen. Sein Atem roch schlecht, unter den Augen lagen dunkle Schatten. „Hör auf mit dem Scheiß! Ich weiß, dass du Suki was gegeben hast.“
Manila wand ihr Gesicht ab, schaute die leere Gasse entlang. Oma müsste längst vom Einkaufen zurück sein. „Ich hatte Glück.“
Er fasste sie an den Oberarmen, schüttelte sie. „Dann sorg' dafür, dass du nochmal Glück hast!“
Er schubste sie zu Boden und verschwand hinter der nächsten Ecke. Die roten Abdrücke seiner Finger brannten auf Manilas Haut.
Manila kniete in Herrn Lals Scheune vor ihrem geöffneten Koffer. Sie wendete eine Holzfigur in der Hand. Die kleine Ziege hatte sie nicht auf dem Berg gefunden. Sie war ein Geschenk von Padma. Die konnte sie auf keinen Fall verkaufen.
Manila legte sie zurück und griff zu einem Windrad aus Draht und blauen Plastikflügeln. Es hakte und ließ sich nur von Hand drehen. Manila lächelte. Das würde ihr niemand abkaufen. Auch der lose Puppenkopf ohne Körper war für andere nur Müll.
Sie konnte nichts von all diesen Dingen verkaufen. Schon gar nicht für Amir, dachte Manila grimmig und verschloss den Koffer.
Rinnsale gluckerten im Müll und verschmolzen zu einem Bach, der wie eine schwarze Schlange von der Halde kroch und sich seinen Weg durch den Slum suchte. Manilas Füße rutschten in dem Schlamm umher, die nassen Strähnen klebten ihr im Gesicht.
Sie seufzte. Heute war noch kein Kipper gekommen und bei dem Regen wurde die Arbeit nicht einfacher.
Sie tauschte ihre karge Beute bei Padma gegen Rupien und machte sich auf den Nachhauseweg.
Die letzten Tage war sie immer spät nach Hause gekommen. Sie ging Amir aus dem Weg.
Der Himmel war düster und in den engen Gassen herrschte Dämmerlicht. Durch die offene Tür ihrer Hütte drangen das Licht der Petroleumlampe und die Schreie ihres Vaters.
Manila blieb stehen. Sie wünschte, sie wäre woanders. Nur wo? Langsam ging sie weiter, blieb in der Tür stehen.
Sie zog die Luft scharf ein. In der Mitte der Hütte lag ihr Koffer. Er war offen, ihre Schätze durcheinander gewirbelt.
Manila schüttelte den Kopf. Der Koffer gehörte nicht hierher. Der Koffer war in Herrn Lals Stall.
Jemand packte sie am Arm, schrie.
Das Windrad war zerdrückt worden, der Draht verbogen. Der Anstecker mit dem Schmetterling glitzerte auf dem Boden und wirkte dort so falsch wie ein weißer Elefant auf der Müllkippe.
„Manila!“
Sie schaute auf, ihrem Vater in die rotgeränderten Augen.
„Du falsche Schlange.“ Er schlug sie mit der Hand ins Gesicht und Manila fiel zu Boden. „Wolltest abhauen, was? Dir ein schönes Leben machen, ohne uns?“
„Sie hielt sich schon immer für etwas Besseres“, sagte Amir und spuckte vor Manila auf den Boden.
Sie rutschte zurück, bis sie an die Wand stieß, hielt sich die brennende Wange. Oma umklammerte Suki, ihre Schwester hatte die Augen weit aufgerissen. Sie zuckte in Manilas Richtung, aber Omas Arme hielten sie zurück.
„So klug kannst du nicht sein“, sagte Amir. „Ein paar Minuten hab ich gebraucht, um dein kleines Geheimnis rauszufinden.“ Er betrachtete seine geschwollenen Knöchel. „Dein kleiner Freund Karan wusste gar nicht, was er mir zuerst über dich erzählen sollte.“
Ihr Bruder lachte und ihr Vater lachte. Oma und Suki weinten leise.
„Herr Lal?“, krächzte Manila.
„Was?“ Amir starrte sie an, als wäre sie eine Schabe.
„Der Mann, dem der kleine Stall gehörte. Geht es ihm gut?“
„Keine Ahnung. Hab niemanden gesehen. Interessiert mich auch nicht.“
Ihr Vater trat leicht gegen den Koffer. „Genug geplaudert. Wir machen das zu Geld. Und du lässt dich hier nicht mehr blicken.“
Manilas Körper versteifte sich.
„Oder denkst du, ich will eine Verräterin unter meinem Dach haben.“
„Rajesh“, sagte Oma leise. „Bitte.“
Er fuhr herum. Kurz dachte Manila, er würde auch sie schlagen. „Du hältst dich da raus. Ich habe hier schon viel zu viel durchgehen lassen.“
Oma presste die Lippen zusammen.
Vaters Blick fiel wieder auf Manila. „Was ist? Spreche ich undeutlich?“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Raus hier!“
Manila stand auf und stolperte aus der Hütte hinein in den Regen.
Ihre Füße trugen sie den Weg entlang, den sie am besten kannten. Als Manila am Gipfel der Halde ankam, brachen die letzten Strahlen der Abendsonne durch die Wolken.
Ihr Vater würde die Entscheidung bald bereuen. Sukis Geld reichte nicht für die ganze Familie.
Manila setzte sich in den durchweichten Müll, zog die Beine an den Oberkörper und schlang die Arme darum. Eine Krähe landete neben ihr, zerpflückte eine Zeitung und starrte sie aus schwarzen Knopfaugen an.
„Hier ist nichts mehr zu holen“, sagte Manila. „Warum fliegst du nicht woanders hin?“
Jemand tippte an Manilas Schulter, sie schreckte aus dem Halbschlaf. Vor ihr stand der Junge mit dem dünnen Bart und den strähnigen Haaren, der Anführer der Straßenjungs.
„Du brauchst einen Schlafplatz“, sagte er. Er nickte ihr aufmunternd zu und ging den Berg hinunter.
Manila zögerte. Der Junge weckte ein merkwürdiges Gefühl bei ihr.
Ihr Blick glitt über die Halde. Es war dunkel geworden und der Müll verwandelte sich in etwas Fremdes, Unbekanntes, das sie aus allen Richtungen beobachtete. Dies war kein Ort für die Nacht.
Sie stand auf und folgte dem Jungen.
Er hieß K und war sehr freundlich zu ihr. Seine Haare wirkten heute frisch und der linke Mundwinkel deutete immer ein Lächeln an.
Und trotzdem war es, als ob jemand ein Seil um ihren Magen gelegt hätte und daran leicht zog, jedes Mal, wenn K sie ansah.
Manila rutschte auf dem Karton hin und her. Die Jungs, die neben ihr unter der Plane lagen, redeten oder schnarchten. Sie vermisste Suki, ihr leises Schmatzen, wenn sie schlief. Tränen quollen aus Manilas Augen und tropften auf die Pappe. Sie wischte sie nicht weg, schniefte nicht.
Dann spürte sie Schritte, der Karton bewegte sich. Jemand legte sich hinter sie.
„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte K. Sein Atem löste in ihrem Nacken eine Gänsehaut aus, die über ihren Körper floh.
Manila versuchte, ruhig zu atmen.
Seine Hand legte sich auf ihre Hüfte, streichelte sie. „Es wird alles gut. Ich bin jetzt für dich da.“
Das Seil in ihrem Inneren zog sich zusammen, sie bekam kaum noch Luft.
Ks Finger zupften an ihrem Kleid, der Stoff strich über ihren Oberschenkel.
Manilas Muskeln spannten sich an, verkrampften. Dann sprang sie auf, stolperte über K, trat einem der anderen Jungen auf das Bein und stieß die Plane zur Seite.
Draußen beleuchteten die Laternen die Seitenstraße, auf dessen Bürgersteig die Jungs ihre Zelte errichtet hatten. Ein Auto fuhr vorbei, ansonsten war niemand zu sehen.
Manila rannte so schnell sie konnte, ihre Fersen knallten auf den Boden. Die Lichter der belebten Straßen zogen sie an.
Sie drängelte sich zwischen den Leuten hindurch, die gerade von der Arbeit kamen oder feiern gehen wollten. Keiner achtete auf Manila.
Keuchend blieb sie stehen, ging dann langsam weiter. Ihr rechter Fuß schmerzte, hinterließ blutige Abdrücke.
Manila irrte durch die Straßen und wartete darauf, dass ein neuer Tag begann. Oma sagte immer, dass die Welt dann ganz anders aussähe.
Aber es wurde nicht hell und schließlich sank Manila in einen Hauseingang und schlief ein.
Jemand tippte an ihre Schulter. Manila schrie, schlug um sich.
„Alles gut“, sagte eine tiefe Stimme. „Ich tu dir nichts.“
Manila öffnete die Augen. Vor ihr stand nicht K, sondern ein Mann in einem grünen Hemd. Er hockte sich hin.
„Mein Name ist Harinder. Ich bin Streetworker.“ Er lächelte ein trauriges Lächeln. „Ich hab dich hier noch nie gesehen.“
Manila schwieg, wartete ab.
„Wo ist deine Familie?“, fragte er.
Tränen quollen aus Manilas Augen.
„Schon gut, darüber können wir später reden.“ Harinder richtete sich auf. „Hast du Hunger?“
Manilas Magen war wie ein Loch in ihr, aber sie versuchte, das Gefühl beiseite zu schieben und dahinter zu horchen.
Kein Seil.
Sie sah Harinder in die braunen Augen. „Und wie!“
Obwohl die gelbe Farbe bereits abblätterte, verlieh sie dem flachen Betonbau ein freundliches Aussehen. Drinnen standen einige Tische mit bunt gemischten Stühlen.
Zwei Jungs und ein Mädchen saßen dort und aßen Dal mit Reis aus Blechschalen. Harinder nickte ihnen kurz zu und ging mit Manila an eine Theke. Von einer rundlichen Frau mit langen grauen Haaren bekam sie eine Schale mit Essen. „Lass es dir schmecken, Kleine.“ Die Haare der Frau waren wie die von Padma geflochten.
„Danke“, sagte Manila.
Sie folgte Harinder und setzte sich mit ihm zu den anderen Kindern, die ihn freudig begrüßten. Sie witzelten und lachten.
Manila wurde schlecht. Es erschien ihr unvorstellbar, dass sie jemals wieder so herumalbern könnte. Anstatt die weichen Linsen zu essen, schob Manila sie zwischen ihren Fingern hin und her.
„Hee!“ Der Junge neben ihr stieß ihr in die Seite. „Bist du stumm?“
Manila sah auf.
„Oder taub?“, brüllte er.
Harinder lachte leise. „Ajeet, lass sie doch erstmal in Ruhe essen.“
„Okay“, sagte er und schob sich einen Klumpen Reis in den Mund. „Wie heißt du eigentlich?“, nuschelte er.
Manila betrachtete Ajeet. Er hatte kurze schwarze Haare, struppige Brauen und mehrere kleine Narben an der Wange. Das Gold in seinen Augen funkelte.
„Manila“, sagte sie.
„Cool“, sagte Ajeet.
Das Mädchen am Tisch kicherte. Der andere Junge aß stumm und schaute nicht von seinem Teller auf.
Ajeet wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Hier kannst du super essen, sag ich dir. Hat mich gerettet damals. Ohne Harinder wäre ich nämlich fast verhungert, weißt du?“
Er grinste den Mann an. Zwischen seinen Schneidezähnen hing etwas Rotes.
„Ajeet, du übertreibst mal wieder“, sagte Harinder.
„Gar nicht!“ Er riss die Augen auf und beugte sich in Manilas Richtung. „Die neue Frau meines Vaters mochte mich nicht, weißt du. Irgendwann hat sie mich rausgeschmissen. Ich bin wochenlang durch den Dschungel gelaufen, bis ich endlich hier ankam.“
„Und was machst du jetzt?“, fragte Manila.
„Och, mal dies mal das. Ich bin ein Überlebenskünstler, weiß du.“ Er zwinkerte.
Manila schaute auf ihr Essen. Eine Überlebenskünstlerin war sie nicht.
Harinder legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht.
Schließlich erzählte Manila Harinder doch von ihrer Familie. Vielleicht konnte er ihren Vater überzeugen, dass es besser war, sie wieder aufzunehmen.
Als sie sich der Hütte näherten, kribbelten Manilas Knie, das Atmen fiel ihr schwer.
Oma und Suki kochten, ihr Vater schlief auf dem Boden. Ihre Schwester bemerkte sie als erste, schrie auf und umarmte Manila stürmisch.
Manila drückte sie fest an sich, atmete ihren Geruch ein.
Als sie sich voneinander lösten, richtete sich ihr Vater verschlafen auf, rieb sich durch das Gesicht. Oma blieb merkwürdig steif neben dem großen Topf stehen. Das Essen tropfte vom Löffel.
Harinder räusperte sich. „Hallo, ich bin Harinder und Streetworker. Darf ich Sie kurz stören?
Vater rappelte sich auf und stakste zur Tür. „Was wollen Sie?“, blaffte er. „Hat sie was ausgefressen? Damit hab ich nichts zu tun!“
„Sie ist Ihre Tochter“, sagte Harinder. Er wich keinen Zentimeter zurück, obwohl Vater ihm unangenehm nah kam. „Es ist Ihre Pflicht, sich um sie zu kümmern.“
Manila hielt Sukis Hand fest umklammert und blickte immer wieder zu Oma. Doch sie schaute Manila noch nicht einmal an, sondern rührte wieder in dem Eintopf.
„Eine Diebin ist sie!“, sagte Vater. „Sie kann froh sein, dass ich nicht die Polizei gerufen habe!“
Harinder atmete tief durch. Er suchte auch Omas Blick, aber die tat so, als hätte sie nichts mit all dem zu tun. „Das heißt, sie lassen Manila nicht bei sich wohnen.“
„Kluger Mann“, sagte Vater, drehte sich um setzte sich wieder auf den Boden.
Manila starrte diesen Fremden an und begriff. Ihr Vater war damals mit Mama gestorben.
Sie und Suki schauten sich an. Die Augen ihrer Schwester glänzten.
„Du schaffst das!“, sagte Manila. „Du bist stark, kleine Schwester!“ Sie küsste Suki auf die Stirn.
Suki zog die Nase hoch und nickte. „Ich werde dich vermissen.“
„Ich dich auch“, sagte Manila.
Harinder legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Lass uns gehen.“
Manila warf Oma einen letzten Blick zu und ging dann zur Tür.
„Warte!“, sagte Oma und Manila zuckte herum.
Oma hielt ein Stück Stoff in den Händen. „Nimm wenigstens dein Zeug mit. Das brauchen wir hier nicht.“
Manila nahm das weiche Päckchen an, unfähig irgendetwas darauf zu erwidern. Es war, als wäre sie in eine Blase gepackt worden, alles wurde dumpf und verschwommen. Mit tauben Füßen folgte sie Harinder.
Manila hüpfte auf dem harten Sitz des Tuktuks auf und ab. Die Vibrationen rüttelten ihren erstarrten Körper wach, brachten das Blut in Bewegung. Ihr Gesicht wurde heiß.
Wieso hatte Oma ihr nicht geholfen? Sie noch nicht einmal umarmt und Auf Wiedersehen gesagt? Tränen der Wut rannen über ihre Wangen. Ihre Fäuste zerquetschten den nutzlosen Lappen.
Manila spürte etwas Hartes zwischen den Schichten. Sie schüttelte das Tuch aus und der blaue Schmetterlingsanstecker fiel ihr in die Hand.
„Der glitzert aber schön“, sagte Harinder.
Manila nickte.
Das Tuktuk hielt vor einem mehrstöckigen Gebäude, das von einem bunt bemalten Zaun umgeben war. Auf dem Innenhof spielten Kinder.
Harinder drehte seinen Oberkörper in Manilas Richtung. „Das ist ein Kinderheim. Die Leute dort sind sehr lieb und werden sich gut um dich kümmern. Du bekommst Essen und Unterricht. Es gibt aber auch Regeln, an die du dich halten musst.“
Manila schluckte. „Das schaff ich.“ Sie umklammerte den blauen Anstecker.
Harinder lächelte. „Da bin ich mir sicher.“