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Sterntaler

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28.10.2004
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Sterntaler

Sterntaler

Es war einmal ein Mädchen. Das lebte in einem stillen Dorf, bei ihren stillen Eltern. Ihre Eltern waren so still, dass sie fast nicht mehr da waren. Sie lachten nicht. Sie weinten nicht. Sie schrieen nicht. Wenn das Mädchen versuchte unartig zu sein, wiesen sie es nicht zurecht. Und wenn es versuchte gutmütig und brav zu sein, lobten sie es nicht. Sie waren so still, so teilnahmslos, so gleichgültig, dass sie für ihre Tochter fast verschwunden waren. Sie spielten keine Rolle mehr. Ihre Worte und ihre Gestalt, ihre großen Körper, wurden immer trüber, immer durchsichtiger. Immer mehr rückten sie aus dem Leben des Mädchens. Für die Kleine waren sie tot.
Sie hatten ihrem Kind alles gegeben, was man in der großen Welt „Güter“ nannte. Sie hatte ein Zimmer, ein warmes Bett, elegante Kleidung und spektakuläre Spielsachen. Sie bekam gut zu Essen, konnte sich kaufen, was sie wollte und ging in die Schule.
Was die Eltern nicht getan hatten, war, die Seele ihrer Tochter zu füllen. Nie hatte sie verstanden, was es bedeutete „gut“ zu sein, was die Lehrer mit „Benehmen“ und „Frömmigkeit“ meinten. Einige Menschen sagten, sie sei ein liebes Mädchen. Aber sie verstand nicht, was sie meinten. Sie hatte nie erfahren, was es heißt, bösartig zu sein. Einige Menschen sagten, sie sei seltsam, sie sei gemein. Aber sie wusste nicht, was diese Worte bedeuteten. Sie kannte keine Werte. Und wenn sie ganz tief in sich rein horchte, wenn sie ganz angesprengt lauschte, was ihr kleines Ich ihr vielleicht sagen könnte, hörte sie nichts. Es war als wäre sie leer.
Oft machte sie sich auf, aus ihrem stummen Elternhaus hinaus, und ging in den Straßen und den Wäldern umher. Sie versuchte, jemanden zu finden, der ihr die Bedeutung dieser Worte erklären konnte. Aber der graue Asphalt, so vertraut er ihr war, antwortete nicht. Und die Wälder gaben keine Weisheiten preis. Die Welt schwieg sie an. Doch das Mädchen konnte sich nicht mit diesem Schweigen zufrieden geben. Es konnte nicht zulassen, dass die Welt auch noch starb. Dass sie verstummte. Dass sie leer wurde. Es musste jemanden geben, der es wusste, der es ihr erklären konnte. Vielleicht…ja…vielleicht dieser seltsame Kerl, von dem sie in der Schule manchmal sprachen. Sie konnte sich nur nicht mehr an seinen Namen erinnern. Sie wusste nicht viel, aber was sie wusste war, dass wenn man jemanden suchte, seinen Namen kennen musste. Angestrengt dachte sie nach. Irgendwas mit einem G am Anfang. Sie konnte sich nicht erinnern.
Da machte sich das Mädchen mit den stillen Eltern und dem leeren Ich auf den Weg, um herauszufinden, wie der Mann hieß, der über Gut und Böse bescheid wusste. Sie suchte jemanden, der ihr innere Fülle geben konnte. Ihre Überzeugung, dass es diesen Typen ganz sicher gab, dass er ihr irgendwie helfen konnte, trieb sie bis in den nahen Wald hinein.
Als sie so daher ging und angestrengt überlegte, wie denn der Mann hieß, kam ihr jemand entgegen. Dieser Mann sah nicht gerade aus, wie ein Hüter von Geheimnissen. Müde schlurfte er auf sie zu. Seine Kleidung war schmutzig, seine Hände zitterten vor Kälte und seine trüben Augen blickten traurig auf sie herunter.
„Guten Tag“, grüsste das Mädchen.
Der Mann gab ein Grunzen von sich.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte:
„Wissen Sie vielleicht, wo der Mann wohnt, der weiß, was gut und böse ist?“
Der Mann grunze noch einmal. Diesmal hörte es sich ein bisschen erstaunt an. Er beugte sich tief zu dem Kind hinunter und sagte:
„Meine Kleine, das Gute gibt es nicht und das Böse verpestet die Welt.“
Während er sich stöhnend aufrichtete, dachte sie über seine Worte nach. Ihr fiel auf, dass der Mann selbst ein wenig stank.
„Ich glaube doch“, erwiderte sie, „dass es so etwas wie das Gute geben muss, auch wenn ich nicht weiß, was es ist. Alle reden davon, aber keiner erklärt es. Vielleicht hat es einfach noch keiner entdeckt. Vielleicht müssen wir es suchen.“
„Da hast du wohl Recht“, pflichtete ihr der müde Mann bei und sagte noch: „Alle reden davon, aber keiner kann es erklären, weil es keiner weiß."
Plötzlich kam dem Mädchen ein Gedanke und es freute sich, weil er ihr so gut gefiel und weil er ganz plötzlich aus ihr heraus kam, ganz plötzlich aus ihrem Inneren kam. Sofort sprach sie ihn aus: „Vielleicht haben es alle vergessen. In der Schule haben sie gesagt, dieser Mann hätte es allen erklärt. Er hat sogar ein ganzes Buch darüber geschrieben, das ganz viele Leute gelesen haben. Sie haben es, glaube ich, wieder vergessen.“
Der Mann legte den Kopf etwas schief und lächelte. Seine trüben Augen wurden etwas schmaler und sein Gesicht sah viel freundlicher aus.
„Ich bin sehr froh“, sagte er, „dass du mich daran erinnert hast. Du hast wirklich Recht, ich sollte mich wieder an das Gute und Schöne erinnern. Jetzt glaube ich auch zu wissen, wen du meinst. Ich denke, du suchst den lieben Gott. Aber der“, sagte er und wandte sich zum Gehen, „ist nicht so einfach zu erwischen.“
Schon war der Mann hinter den Bäumen verschwunden. Langsam wurde es dunkel.
Das Mädchen stand im Wald, wieder alleine. Auf einmal wurde ihr ganz seltsam zu Mute. Ein ganz seltsames Gefühl in ihrem Bauch. Und auf einmal musste sie ganz laut lachen. Durch den stillen, dunklen Wald schallte ihr Lachen und nur sie verstand den Grund.
Ich habe gemacht, dass seine Augen gelächelt haben. Dass seine trüben traurigen Augen gelächelt haben. Ich war das.
Das kleine Mädchen verstand, dass sie dem Mann etwas gegeben hatte. Sie verstand, was Trost und Hoffnung waren. Und sie wusste, dass sie dem Mann Trost und Hoffnung gegeben hatte. Das musste bedeuten, dass Trost und Hoffnung in ihr drin waren. Dass bedeutete, dass sie nicht leer sein konnte! Wieder hörte sie tief in ihr Innerstes hinein. Sehr aufmerksam hörte sie zu, was ihr Ich ihr zu sagen hatte. Aber es kam nichts. Sie wurde angeschwiegen. Sie war doch leer. Ihr Lachen versiegte. In ihr war nichts mehr. Kein Trost. Kein Lachen. Sie hatte dem Mann alles gegeben. Für sie war nichts übrig geblieben.
In der Hoffnung, das Dunkel würde sie verschlucken, lief sie in den Wald hinein. Immer tiefer. Immer dunkler wurde es. Sie lief so schnell, dass sie fast glaubte, sie könnte die Leere in ihr überholen, sie hinter sich zurückzulassen.
Sie lief, bis sie im Dunkeln drei kleine weiße Gestalten sah. Es waren drei Kinder.
Sobald sie das kleine Mädchen sahen, rannten sie ihr entgegen.
Das Mädchen fragte:
„Wisst ihr, wo der Herr Gott wohnt?“
Die Kinder lachten laut. Ein dröhnendes Gelächter trommelten die drei kleinen Lungen. Sie lachten das Mädchen aus. Sie zeigten mit dem Finger auf sie und lachten. Das Mädchen stand da und fühlte sich dumm. Was dumm war, wusste sie. Das hatte man ihr in der Schule erklärt. So hatte man sie oft genannt.
Das Lachen wurde lauter und das Mädchen stiller. Aber da war etwas in ihrem Kopf, das sagte, dass sie unbedingt wissen wollte, was der Herr Gott zu sagen hatte.
„Wisst ihr, wo der Herr Gott wohnt?“, wiederholte sie und versuchte, dabei zu klingen, wie ein strenger Lehrer. Denn sie wusste, was streng bedeutete.
Die Kinder hörten auf zu lachen. Eines, es sah aus wie das Älteste von ihnen, sagte:
„Uns ist kalt. Wir haben Hunger. Wir haben nur uns selbst, zum leben. Gott gibt es nicht. Es gibt niemanden, der uns hilft.“
Da erst sah das Mädchen, wie spärlich die Kinder bekleidet waren, wie dünn sie waren und das sie nichts bei sich trugen, außer sich selbst. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn es kalt war. Sie hatte niemals Hunger gespürt. Aber sie wusste, was Menschen taten, wenn ihnen kalt war.
„Wenn ich euch helfe, gibt es auch den lieben Gott“, sagte sie entschlossen und zog ihre Kleider aus. Das eine Kind bekam ihre Handschuhe und die Mütze. Das zweite Kind die Jacke und den Pullover. Das dritte bekam ihre dicke Hose und ihre warmen Schuhe. Als sie alles her gegeben hatte, sagten das jüngste Kind:
„Uns ist immer noch kalt.“
Da gab das Mädchen ihm seine Socken und sein Unterhemd und ihm blieb nichts mehr, bis auf die Haut, das Fleisch und die Knochen. Jetzt war es innen leer und außen ungeschützt. Hatte nichts mehr, das es noch geben konnte und nichts, was sie vor der Welt schützen konnte.
Und sogleich schlug die Welt zu. Die Kinder lachten hämisch, nannten das Mädchen dumm und liefen fort.
Das Mädchen blieb im Wald zurück. Es bewegte sich nicht mehr. Es wollte nicht nach Hause. Es wollte auch nicht mehr weiter suchen. Es wollte einfach still stehen bleiben und hoffte, dass die Dunkelheit nach einer Weile ganz furchtbaren Hunger kriegen würde und sie dann einfach verschluckte.
Da fühlte sie, wie etwas ihre Hand berührte. Als nächstes ihr Haar. Fühlte, wie etwas Kaltes auf ihrer Haut prickelte. Sie sah in den Himmel. Der Regen floss wie Silber auf sie herab. Kleine, silberne Sterne tropften auf ihre Haut, rannen ihren Körper hinab. Und das Mädchen sah, wie wunderschön der Regen war, wie wunderschön der Wald war und wie wunderschön sie selbst war. Es war ihr, als würde alles um sie herum gut sein und schön sein und genau so, wie es sein sollte. Sie spürte, dass sie selbst gut und schön und bis an den Rand ihres Selbst gefüllt mit Freude war. Da schickte sie einen Ruf zu dem Hern Gott, denn sie war sicher, dass er sie hören konnte, dass diese Nachricht von ihm kam, dass er in diesem Augenblick bei ihr, in ihr, und um sie herum war. Sie schickte ihm einen Gruß und sagte Danke. Denn nun, da sie wusste, da sie erfahren hatte, was Güte war, konnte sie auch wissen, was das Böse war. Jetzt, da sie wusste, was gut war, glaubte sie erkennen zu können, was böse war.
„Ich weiß, was gut und böse ist“, schrie sie stolz.
Da verwandelte sich das Silber in weißen harten Hagel. In große grobe Körner, die sich in den Wald und in die Haut des Mädchens schlugen. Da spürte das kleine Mädchen das erste Mal in ihrem Leben Hunger, Kälte und Schmerz, wünschte sich das erste Mal etwas zu Essen, eine Unterkunft und Wärme. Und es dankte Gott für so viel Gefühl. Dankte ihm schreiend dafür, dass es so viel spürte. Dafür, dass so viel in ihm war.
Da wurde der Hagel stärker, drosch auf das Mädchen ein. Und der Hagel wurde wieder zu Regen und der Regen wurde zur Sinnflut. Zur Flut, die alles wegschwemmte. All die Straßen und Plätze, all die Alten und Kinder, all die Hoffnung.

 

Hallo Anna-Fee,

ich bin, was die Geschichte angeht, etwas zwiegespalten. Stellenweise finde ich die Sprache wirklich schön, stellenweise stören mich die vielen Wortwiederholungen, so viel nur zum Sprachlichen - auch ein paar Rechtschreibfehler sind mir noch aufgefallen, aber Word findet die sicher. Gerade in der Beschreibung der Eltern häufen sich die Wortwiederholungen.

Deine Variante ist eine hübsche Nacherzählung des Märchens, wenn mich auch die Sache mit den Eltern etwas irritiert hat. Wäre es hier nicht vielleicht besser gewesen, zu sagen, dass sie dem Mädchen Geld anstatt von Liebe schenken anstelle davon, dass sie durchsichtig sind? Weil - wie gleichgültig Eltern auch sein mögen, sie wohnen immerhin im selben Haus wie man selber, und man nimmt sie schon irgendwie wahr...
Das Ende dagegen fand ich sehr zusammenhangslos. Wenn sich jetzt alles zum Guten wendet, warum kommt dann die Flut?

Du kannst da sicher noch überarbeiten, aber grundsätzlich ist die Geschichte gut ;)

gruß
vita
:bounce:

 

Hallo Anna-Fee,
ich fand es gut, wie Du das Thema "Materielle Versorgung, aber geistige und seelische Verwahrlosung" aufgegriffen hast. Auch die Beschreibung der inneren Leere, die dadurch in dem Mädchen entstand, fand ich wichtig. Ich hoffte bis zum Schluss, dass die Eltern doch noch verstehen, dass sie auch für die seelische Entwicklung ihres Kindes verantwortlich sind und gesellschaftliche Werte vermitteln müssen. In der zweiten Hälfte der Geschichte lässt Du das Kind in den Wald gehen und Gott suchen. Das heißt, es gab zu Hause keine Chancen mehr? Die Metapher mit den "durchsichtigen" Eltern fand ich durchaus passend, warum sollen Eltern, die faktisch nicht anwesend sind, einem Mädchen kompakt und farbig vorkommen?! Gut auch, dass das Mädchen sich selbst durch Extremsituationen fühlt - erinnert mich an die innere Leere, die viele Jugendliche/Erwachsene heutzutage auszufüllen versuchen durch Extremsport, U-Bahn-Surfen, Bungeespringen etc. (ich sehe es jedenfalls so). Vorschlag Beginn: "Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem stillen Dorf bei seinen stillen Eltern. Seine Eltern waren so still, ..."
Gruß
Vizande

 
Zuletzt bearbeitet:

Also, zuerstmal ist die Idee sehr gut, die Umsetzung eigentlich auch. Allerdings gibt es da eine Sache die mich etwas stören:

Der Übergang, in dem der Alte Mann nur durch die Erwähnung des Buches und des Mannes, der es geschrieben hat, seine Hoffnung zurückbekommt ist mir etwas zu abgehackt und zu schnell. Auch für eine Interpretation ist das viel zu dürftig umgesetzt. Schmerz und Enttäuschung lassen sich nicht einfach so wegwischen. Und so kommt mir dieser Wechsel von Trauer und Gleichgültigkeit zu Hoffnung und einem 'freundlicheren Gesicht' doch etwas zu überstürzt vor.

Die seelische Ausnutzung ist ansonsten sehr gut umgesetzt, auch wenn die Nummer mit den Kindern etwas von St. Martin hat.

Die Sache mit dem Gefühl durch Hagel ist sehr schön interpretativ, Menschen die sich Schmerz zufügen um nicht Leer zu sein, um überhaupt irgendetwas zu spüren.
Da ist es auch nur konsequent, dass am Ende alle entstandene Hoffnung weggeschwemmt wird.

Doch da ist mein größtes 'Aber' zu finden: Der Schlußabsatz ist zu lapidar, einfach so hingeknallt und ohne Herz. Im Gegensatz zu den schönen und ausführlichen Worten der Gefühlsfindung ist das böse Erwachen, der Punkt an dem klar wird das sich niemals etwas ändert, einfach viel zu kurz beschrieben. Das Mädchen fällt völlig heraus, dabei wäre es wichtig gewesen, gerade den Prozeß der Wiederumkehrung des gerade gefundenen Gefühls in das alles wieder wegwischende Nichts in dem gleichen Stil auszuführen.

Ansonsten, gute Story!

 

Erklärung

Erstmal, vielen Dank für eure Meinungen.

Zur Erklärung: Sterntaler ist das Ergebnis einer Deutsch-Hausaufgabe. Es ist angelehnt an Georg Büchners "Woyzeck" und an seine Version des Märchens, die sehr traurig ist. Wir sollten eine Mischung zwischen "unserem" Sterntaler und Büchners kreieren. Die Wortwiederholungen sind angelehnt an den Originaltext der Gebrüder Grimm (der stilistisch übrigens total furchtbar ist). Das traurige Ende ist ein Gruß an Büchner. Ich habe versucht, die materielle Armut des Mädchens durch geistige zu ersetzen. Ja, auch ein Gruß an die Mentalität vieler Menschen der Moderne. Im Original sind die Eltern des Kindes tot, das fand ich für die Moderne unpassend, etwas zu abgedroschen. Ja, die Situation mit dem Mann mag zu kurz sein. Das hängt damit zusammen, dass es ein Märchen ist, dass auch interpretiert werden möchte. Und ich bin gespannt darauf, was für Ergebnisse dabei heraus kommen. Die Philosophin in mir hat sich einfach geweigert, mehr zu erklären. Mal sehen, ob ich das noch überarbeite. Wer an Interpretationstipps interessiert ist, dem schreibe ich gerne noch einen Eintrag. Übrigens: Meinen Schlusssatz fand ich eigentlich ganz gut. Ja, aber ich kann ihn noch weiter ausführen, hast Recht. rechtschreibtfehler werden korrigiert.
Danke euch allen!
By.
Fee

@judas24 Es soll nicht an St. Martin erinnern, sondern an Sterntaler. Kennst du das Original nicht?

 

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