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Stummer Schrei nach Aufmerksamkeit

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22.04.2004
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Stummer Schrei nach Aufmerksamkeit

„Ja, Hallo zusammen. Mein Name ist Brigitte, aber alle nennen mich Britt. Ich bin fast dreissig und ich ritze. Ich hatte es die letzten acht Jahre unter Kontrolle und dachte es sei vorbei. Es sei einzig und alleine eine pubertäre Erscheinung. Doch vor einigen Wochen hatte ich einen Rückfall, sehr massiv und ich habe nun eingesehen, dass ich mich intensiver damit auseinander setzen muss. Ich hab` lange gesucht und glücklicherweise euch gefunden. Ich war bereits einige Male hier, hab` bis jetzt nur zugehört und heute hab` ich den Mut über mich zu sprechen.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum ich das tu’. Ganz rationell, weiss ich wieso: die psychischen Schmerzen in Physische zu wandeln, da die Physischen irgendwann wieder vergehen. Dazu kommt, dass das austretende Blut mich beruhigt. Wenn es aus den Schnittwunden beginnt zu fliessen, den Arm hinunter und falls die Schnitte tief genug waren, tropft es irgendwann auf den Boden. Das Blut, mein Blut, so schön rot, dunkel und beruhigend. Wenn die Schnitte – wegen meiner Unvorsichtigkeit – entdeckt werden, kommt manchmal die Frage: ‚mein Gott! Wolltest du dich umbringen?’
Was soll das? Meinen die wirklich ich sei so blöd und schneide mir oben in die Unterarme? Die sollten doch wissen, dass ich genau weiss – wie sicherlich fünfundneunzig Prozent der Menschen – dass die Pulsadern unten sind!
Seit dem letzten Mal habe ich versucht, mich auf der, sogenannten, erwachsenen Ebene damit auseinander zu setzen. Denn nicht nur ich bin aus der Pubertät raus, sondern auch meine Schnitte.
Klar, am Tag danach kam die Scham über mich. Ich versteckte meinen Körper unter langen Shirts und Hosen, wollte auch meine gepeinigte Seele verstecken. Niemand sollte die manifestierten Wunden meiner Seele zu Gesicht bekommen. Zittrig und nervös versuchte ich die Klippen des ersten Tages zu umschiffen. Dies glückte mir fast gänzlich, bis zu dem Moment, als ich mit meinem Mann im Badezimmer stand, bereit zum Duschen. Da sah er zum ersten Mal meinen geschundenen Körper im Tageslicht und starrte auf die Wunden, als wäre es ein Fluch.
Dies holte mich aus meiner Isolation `raus. Nun ist es nicht mehr nur mein Geheimnis, nun gehört es noch einem weiteren Menschen.

Für ihn war es ein Schock, nachts um zwei seine Frau, heulend auf dem Badzimmerboden kauernd in mitten einer kleinen Blutlache, zu finden. Er kannte diese Seite von mir, doch gesehen hatte er es noch nie. Die Arme und Beine zerschnitten und überall nur mein Blut. Ich wollte nicht, dass er mich so sieht. Ich dachte zuerst, nur um ihn zu schützen, wolle ich dies nicht. Doch heute weiss ich, es gibt auch andere Gründe dafür.
Ich habe mich sehr lange damit auseinandergesetzt und anfänglich war für mich klar, dass ich krank, abnormal bin und eigentlich würde ich in `ne geschlossene Anstalt gehören. Dass und wie ich diese Einstellung oder vielleicht auch Überzeugung abgelegt habe, möchte ich euch erzählen.
Ich habe angefangen, mir Fragen zu stellen und dabei meine Wunden begutachtet, ich habe sogar Fotos davon gemacht.
Die erste Frage war: `wieso sollte mein Mann mich so nicht sehen?` Es meldete sich eine feine, kindliche und doch etwas trotzige Stimme in mir: `weil es mir gehört! Mir ganz alleine. Es sind meine Momente, in denen ich schwach, verletzlich, emotional sein darf, ohne gerichtet zu werden.`
Es ist mein Ritual, mich zu reinigen, meine Anspannungen abzubauen, alles einfach ungehemmt raus zu lassen. Zusammen mit dem Blut fliessen alle psychischen „Bakterien“ aus meinem Körper, tropfen auf den Boden, verlassen meine Seele, reinigen sie.
Das Blut ist berauschend und gleichzeitig auch beruhigend. Ist der Rausch vorbei, trockne ich meine Blutstränen, spüre den süsslichen Schmerz in meinen Gliedern, streichle meine Seele.
In den darauf folgenden Tagen beobachte ich die Wunden genau. Desinfiziere sie, salbe sie ein. Die eine oder andere Wunde wird aufgekratzt. Es juckt höllisch. Manchmal verstecke ich sie, manchmal erfreue – ja, vielleicht kann man es auch ergötzten nennen – ich mich an ihnen. Aber mit jedem Tag, da die Wundheilung stärker wird, werde auch ich wieder stärker. Und die Narben auf meinem Körper spiegeln nur die meiner Seele nach aussen, sind nun greifbar, ich hab sie visualisiert. Einige werden ganz verschwinden, einige werden mich ein Leben lang erinnern, sind ein Teil von mir.

Auch ist es ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit und nach Liebe. Da jedoch mein Mann ins Bad geplatzt ist, wurde der Schrei laut. Als Teeny strich ich oft über meine verkrusteten Schnitte und hoffte inständig, jemand würde mir die Ärmel meines Pullovers hochreissen, entsetzt aufschreien und mich wortlos in die Arme nehmen. Doch dies geschah leider nie. Ich bin mir sicher, meine Eltern wissen bis heute nicht, was ich da im Schutze der Nacht in meinem Zimmer trieb. Ich war immer die starke Britt, die alles mit links erträgt. Nichts und niemand bringt sie aus der Ruhe und um Britt braucht man sich keine Sorgen zu machen. Tja, wenn die wüssten....
Vor einigen Jahren, als ich dachte, ich sei von meiner Sucht befreit, versuchte ich, es meiner Mutter zu sagen, versuchte einen lauten Schrei nach Aufmerksamkeit, doch dieser ging göttlich in die Hosen. Meine Mutter reagierte mit Ignoranz auf meine schwache Seite, sie wechselte einfach das Thema. Ich glaube, es war nicht böse gemeint, sondern sie war schlichtweg damit überfordert. Über so etwas spricht man nicht, das gibt es nicht und ich bin mir sicher, von diesem Gespräch weiss sie heute keinen Satz mehr. Was soll’s?

Durch viele Umstände in meiner Erziehung und wie ich aufgewachsen bin, habe ich heute sehr hohe Anforderungen an mich selbst. Wenn ich etwas erreicht habe, reicht es mir eigentlich nie. Selten bin ich stolz auf Erreichtes, auch vermute ich immer einen übersehenen Haken an der Sache. Ich bin immer stark, nichts haut mich aus den Bahnen und gegen aussen wahre ich mein allseits bekanntes, optimistisches Gesicht. Ich häufe Emotionen, Ängste und Zweifel in mir an, packe sie in meinen Topf und schliesse ihn mit einem Deckel zu. Doch mein Deckel hat kein Ventil und irgendwann ist halt der Topf voll und brodelt. Dann, mit Hilfe einer Explosion wird er geleert und alles bricht aus mir heraus.

In anderen Zeiten, in einigen Religionen sind und waren Blutsoper und Selbstkasteiung normal. Eine Hexe im Mittelalter brauchte den Saft des Lebens für ihre Rituale, religiöse Menschen kasteiten sich als Zeichen ihres tiefen Glaubens an Gott. All dies ist heute eher selten. Doch auch in unserer zivilisierten Gesellschaft braucht der Mensch ein Ventil um seinen Druck abzulassen. Einige brettern mit zweihundertsechzig über die Autobahn, andere ackern sich sichtlich zu Tode und die Dritten müssen unbedingt jedes Wochenende einen Bungee-jump tätigen. Und ich, ich setz mich halt hin und wieder nachts, heulend und schluchzend, ins Bad mit einem Messer in meiner Hand und vereine mein Blut mit meinen Tränen.
Deswegen bin ich aber noch lange nicht krank oder abnormal. Ich habe nur einen Weg gewählt, der nicht in unsere Gesellschaft passt, da das Verständnis dafür verloren ging.

Ich kann nicht garantieren, dass es nie mehr passiert. Doch für mich, sind die vielen Erkenntnisse Gold wert und dank diesem Wissen kann ich nun versuchen, anders damit umzugehen.“

 

Liebe Muchel!

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut, weil sie sehr realistisch klingt und nicht irgendwie romantisch verklärt. :)
Der Einstieg gefällt mir zwar nicht so, aber das liegt ausschließlich daran, daß ich solche Anfänge prinzipiell nicht mag. Danach hab ich sehr gerne weitergelesen. ;)

Das Spüren der seelischen Schmerzen als körperliche kommt gut rüber, auch die Reaktion der Mutter in der Rückblende ist vielsagend: Sie übergeht die Probleme der Tochter, nimmt sie nicht ernst...

Ein paar Kleinigkeiten noch:

"und anfänglich war für mich klar, dass ist krank, abnormal bin und eigentlich würde ich in `ne geschlossene Anstalt gehören."
- es sollte wohl heißen "dass ich krank, ..."
- würde "anfangs" statt "anfänglich" schreiben, klingt in meinen Ohren besser

"Ich habe mir angefangen Fragen zu stellen"
- Ich habe angefangen, mir Fragen zu stellen

"Und die Narben auf meinem Körper spiegeln nur die meiner Seele nach aussen, werden greifbar, wurden visualisiert."
- drei Zeiten in einem Satz

"als ich dachte ich sei von meiner Sucht befreit, versuchte ich es meiner Mutter zu sagen,"
- dachte, ich ... versuchte ich, es

"es war nicht böse gemeint, sonder sie war schlichtweg ..."
- sondern

"Häufe Emotionen, Ängste und Zweifel in mir an, packe sie in meinen Topf und schliesse ihn mit einem Deckel."
- da fehlt wohl irgendwas?

Irgendwie mußte ich nach dem Lesen Deiner Geschichte an diese Geschichte denken - Deine könnte wohl eine mögliche "Fortsetzung" davon sein...

Alles Liebe,
Susi :)

 

Liebe Susi

Vielen herzlichen Dank für deine Kritik und Korrekturvorschläge. Ich habe sie sogleich beherzigt und ich hoffe, dass auch mein absoluter "Knack-Satz" nun etwas besser ist....(der mit den 3 Zeiten....).

Der Einstieg habe ich so gewählt, da ich mir vorgestellt habe, Britt sei beim Treffen den anonymen Ritzer... es war für mich ein Versuch, einmal eine Geschichte nur aus einem Monolg heraus entstehen zu lassen.

Besonders freut es mich, dass die KG für dich sehr realistisch klingt. Ich habe mich sehr mit
diesem Thema auseinander gesetzt und wollte es so realistisch wie nur möglich hin kriegen….

Ich hab auch die andere Geschichte gelesen und ja, meine könnte wirklich eine mögliche Fortsetzung davon sein.

Vielen Dank und lieben Gruss
Muchel

 

Hoi Muchel!
Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Auch mich hat der Beginn etwas gestört. Nicht, weil die Idee des Monologs nicht gut wäre, aber es klingt komisch, vielleicht gerade wegen der Vorstellung, dass sie bei so einem Treffen ist. Ein Brief vielleicht? Hm, danach ist es aber wirklich toll geschrieben, die Gefühle während, nach, vor dem Ritzen hast du mit deinen Worten intensiv geschildert.

Meine Lieblingsstelle:

Als Teeny strich ich oft über meine verkrusteten Schnitte und hoffte inständig, jemand würde mir die Ärmel meines Pullovers hochreissen, entsetzt aufschreien und mich wortlos in die Arme nehmen.

***

damit auseinander setzten muss
damit auseinander setzen muss.

Wie gesagt, bis auf den Anfang eine sehr gelungene Geschichte!

Liäbä Gruess,
Marana

 

Hallo Muchel,

ich schliesse mich den anderen einfach mal an, Deine Geschichte hat mir gefallen. Ich glaube, besonders, weil sie es realistisch und mit weniger Selbstmitleid geschrieben ist, als viele andere, die ich über dieses Thema gelesen habe.



Ich häufe Emotionen, Ängste und Zweifel in mir an, packe sie in meinen Topf und schliesse ihn mit einem Deckel zu. Doch mein Deckel hat kein Ventil und irgendwann ist halt der Topf voll und brodelt. Dann, mit Hilfe einer Explosion wird er geleert und alles bricht aus mir heraus.

Hat mir gut gefallen, aber meine Lieblingsstelle ist die, die auch schon Marana zitiert hat.

Liebe Grüße,
gori

 

Sali Marana
Hallo Gori

Herzlichen Dank an Euch beide, dass Ihr meine Geschichte gelesen habt und auch Eure Meinung dazu geschrieben habt.

Der Anfang, ja der ist vielleicht ein wenig holprig und vielleicht auch etwas komisch. Aber für mich passt er genau so wie er ist, wirklich gefallen tut er mir auch nicht sonderlich, ist auch für mich ein eher ungewohnter Einstieg in eine KG. ;)
Jedoch kann ich mir gut vorstellen, dass es für einen Menschen nicht einfach ist, wenn er das erste Mal vor fremden Leuten über seine grösste Schwäche, seine Sucht sprechen muss und doch ist dies sicherlich sehr wichtig. Deshalb habe ich versucht, den Einstieg etwas harzig, nervös und fahrig tönen zu lassen.
Irgendwie bin ich auch davon überzeugt, dass mir der Anfang geholfen hat, diese Story nicht romantisch verklärt und vor Selbstmitleid triefend zu schreiben.

Danke auch, dass Ihr mir Eure Lieblingsstellen zitiert habt. Beide gefallen mir auch sehr gut.

Liebä Gruess
Muchel

 

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