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Suchen und Jagen
Suchen und Jagen
Melanies Schuhe stanzten schrittweise Löcher in den Waldboden. Der Saum ihrer hautengen Jeans hatte sich vollgesogen und trieb ihr die Kälte bis zu den Schultern. Sie blieb stehen, rubbelte sich eine Gänsehaut von den Armen, noch währenddessen befand sie die Idee für selten dämlich.
Sie hatte nur wegen Ben eingewilligt.
Entgegen ihrer Hoffnung amüsierte der sich jetzt aber mit Dorina ein paar Meter vor ihr. Melanie blieb das langweilige Gelaber seines Kumpels, der anscheinend, unterstützt von der gruseligen Atmosphäre, darauf spekulierte, den Arm um sie legen zu dürfen.
„Wie weit ist es denn noch?“, fragte sie verstimmt, kramte in ihrer Handtasche nach einem Tempo, mit dem sie sich die waldluftgebeutelte Nase schnäuzte, um es dann neben sich fallen zu lassen.
Sie hatte sich heute extra stundenlang die Haare gemacht. Die Feuchtigkeit zerstörte allen Haarsprayhalt, aber das war auch egal, weil man im Schein der Taschenlampen sowieso nichts von der kunstvollen Frisur erkennen konnte.
Alles nur für Ben.
Und der legte gerade seine Hand auf Dorinas rechter Pobacke ab. Melanie bohrte ihren Blick in die Rückansicht ihrer angeblich besten Freundin.
Im Gegensatz zu ihr war diese witterungstechnisch besser gerüstet. Sie trug einen hochgeschlossenen Parka, Jeans und Wanderschuhe. Sie hatte dieses Treffen organisiert, weil sie als beste Freundin ja wusste, wie sehr sich Melanie nach Ben verzehrte; und jetzt nahm sie in vollkommen in Anspruch.
Nur einen belächelnden Blick hatte er für Melanie übrig gehabt, als sie sich am Treffpunkt gegenüberstanden .
„ In dem Aufzug willst du in den Wald?“, abschätzig und augenrollend.
Ein ganz wunderbarer, erster Moment der so sehr erhofften Liebesbande. Niemand hatte Melanie gesagt, dass sie an einem Samstagabend durch menschenleere Natur streifen würden.
„ Ich habe ein Date arrangiert!“, hatte Dorina nur eröffnet, die Ben vom Mathekurs kannte und Melanie war ihr in einer übertrieben freundschaftlichen Geste um den Hals gefallen.
Jetzt krochen sie so schon seit einer Stunde in der Ödnis herum. Dieser Thorsten mit den abstehenden Ohren und dem pickligen Gesicht erklärte ihr irgendetwas über *Logbücher und Filmdosen und Dorina flirtete ungeniert mit dem Objekt ihrer Wunschträume. Es konnte nicht schlimmer werden, dachte Melanie gerade, als ihre Absätze in einem riesigen Haufen Matsch versanken.
„ So eine Scheiße!“, fluchte sie, bekam ein scheues Schulterstreicheln von Thorsten, das sie wütend von sich schlug.
„Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Schwachsinn! Können wir endlich nach Hause gehen?“, ihre Stimme dröhnte nach vorn zu den Turteltauben. Irgendwo neben ihr und ihrem nervigen Anhängsel floh etwas aufgeschreckt durchs Unterholz. Melanie presste sich an Thorsten, der für diesen Moment nicht ganz so nervig war, und erzitterte.
„Ich hab echt keinen Bock mehr!“, wisperte sie kleinlaut.
Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Baumreihen am Wegesrand. Einer der Sträucher bebte noch. „ Ein Marder, oder ein Fuchs.“, erklärte er fachmännisch, dann kam Schwung in seinen Tonfall: „ Hey! Ich habe den nächsten *Reflek gefunden! Hey, Ben, hier her!“ An einem der Bäume leuchtete ein kleiner, weißer Punkt. Man musste wirklich genau hinsehen, um ihn zu erkennen. Dorina und Ben kamen dazu. Der Schein von Bens *Mag Lite stach Melanie in die Augen. In den Lichtkegeln dampfte der warme Atem der jungen Leute. Melanie versuchte, Dorinas Blick aufzufangen, ihr einen Ausdruck herüberzuschicken, der sich gewaschen hatte, aber die Freundin interessierte sich nur für den Punkt, leuchtete mit ihrer eigenen Taschenlampe die Umgebung rund darum weiter aus.
„Da! Der nächste! Wir müssen hier rein!“, rief sie mit echter Abenteuerlust. Melanie unterdrückte ein schnippisches Würgen. Die anderen Drei schlugen sich schon in die Büsche. Niemand nahm Notiz von ihr.
Einzig ausgestattet mit der schwachen Leuchtkraft ihres Smartphones, leuchtete sie ihnen hinterher.
„Hallo! Ich hab keinen Bock, da reinzugehen! Ich will nach Hause, Leute!“, sagte sie ungehört. Der Waldboden knackste unter den Schritten der eigentlich Angesprochenen. Nur ihr mitleidiger Verehrer lies sich herab, kam zu ihr zurück und bot ihr seine Hand an.
„Komm! Es dürfte nicht mehr weit sein: Wir sind sicher schon 2 Kilometer gelaufen und haben drei der *Stages gefunden. Das *Final ist ganz in der Nähe!“
Melanie blieb standhaft. „ Ich will da nicht rein! Mir ist kalt! Ich will einfach nach Hause, ok! Keiner hat mir gesagt, dass wir stundenlang durch den Wald latschen würden.“
Thorsten drehte sich zum schwächer werdenden Rascheln hinter ihm.
„Komm schon! Wir verlieren die Anderen!“ Er schien unschlüssig, aber seine Verehrung reichte nicht aus, sich Melanies Willen zu beugen.
„Wenn nicht, dann warte hier!“, sagte er knapp. Sie griff in den Stoff seines Jackenärmels.
„Spinnst Du! Ich bleibe hier auf keinen Fall, alleine“
„Dann komm jetzt!“, er drückte einen Strauch zur Seite. Nun hing Melanie doch wie ein schutzsuchendes Liebchen an seinem Oberarm.
Sie schlugen sich rambogleich durchs Dickicht. Überall waren Kuhlen, Wurzeln und Löcher, die man nicht früh genug sah, weil Thorsten mit dem Strahl seiner Taschenlampe, auf der Suche nach weiteren Hinweisen, die Baumstämme anleuchtete. Melanie stolperte in eines der Löcher hinein. Jetzt war ihre Jeans bis zu den Knien durchmatscht.
„Verflucht, nochmal!“, giftete sie, beeilte sich aber, hochzukommen, um Thorsten, der von schatzjägerischem Eifer gepackt, kaum noch Nerven für sie hatte, nicht zu verlieren. Auf einer Lichtung stießen sie wieder sie zu den Anderen.
„Hier geht’s nicht weiter!“, sagte Ben ratlos. „ Wir haben nach allen Seiten gesucht! Kein einziger Reflek mehr in der näheren Umgebung!“
Melanie bekam die Hoffnung, dass sie nun endlich umkehren würden. Sie wünschte sich in die Wärme von Thorstens altem Ford, den sie vorhin noch abwertend eine hässliche Schüssel genannt hatte.
„Machen wir eine Pause und suchen dann weiter“, zerstörte die Freundin ihre aufkeimenden Gedanken. Ben schwang seinen Rucksack auf die linke Körperseite, zog am Reißverschluss und verteilte Bierflaschen. Thorsten hatte eingeschweißte Sandwichs dabei. Speiss und Trank stimmten Melanie milder.
„Also! Was sagt denn das *Etrex?“, fragte Thorsten unter offensichtlichem Kauen. Er spülte in einem Zug seinen Sandwichbrei herunter und steckte die Pulle wie eine Landeroberungsmarkierung neben sich in den Waldboden.
„Ich will das Ding in der nächsten Stunde *geloggt haben!“
„Wir müssen uns trennen! Jeder sucht eine Seite der Lichtung ab!“, sagte Ben und fuchtelte wieder mit der Taschenlampe.
Melanies Wunsch nach Erlösung schwamm davon. Es begann zu tröpfeln. Die anderen schoben sich ihre Kapuzen über die Köpfe.
„Es regnet!“, stellte Melanie vielsagend fest.
„Ja und? Denkst Du wir sind den ganzen Weg gelaufen, um wegen nem bisschen Regen aufzugeben? Du bist doch nicht aus Zucker!“, provozierte Dorina. Melanie spürte den Drang in sich, der Freundin körperlich die Meinung zu sagen.
„Ich muss pinkeln!“, kam es stattdessen etwas kleinlaut von ihr. Diese Intiminformation gab man vielleicht nicht einfach so weiter, aber Melanie plädierte insgeheim auf freundlichen Beistand ihrer Geschlechtsgenossin.
„Dann geh doch!“, antwortete diese desinteressiert. Der Leuchtkegel ihrer Taschenlampe geisterte suchend über die Baumwipfel, vertieft in ein augenscheinliches Fangespiel mit dem ihrer männlichen Neueroberung. Melanie biss ihre Zahnreihen aufeinander und drehte sich zur linken Seite der Lichtung, die bei Tageslicht vielleicht sogar auf sie, als Naturverächterin beruhigend gewirkt hätte.
„Ok, aber ihr wartet auf mich, ja?“, zitterte ihre Stimme, während sie vor allem Thorsten von der Wichtigkeit dieser Frage zu überzeugen suchte. Dann tippelte sie los, fand ein geschütztes Plätzchen hinter einem dickstämmigen Baum und ließ die Hose herunter. Das Geräusch, das ihr Urinstrahl auf dem Laubpolster erzeugte durchschnitt die Stille. Ganz sicher pinkelte sie sich gerade die Schuhe voll. Sie ging tiefer in die Hocke und rutschte mit dem linken Bein weiter nach links, um Derartiges zu verhindern. Die Lichtkegel am schwarzen Himmel trennten sich. Melanies Fuß rutschte auf dem, durch den Regen jetzt noch schwammigeren Boden weg. Ihr Knie landete genau auf einem Tannenzapfen. Der Schmerz brannte akut und grell durch ihren Körper. Sie schrie leise auf, erschreckte sich fast vor ihrer eigenen Stimme in der dumpfen Dunkelheit, die jetzt wie ein schwerer Vorhang vor ihren Augen hing. Es dauerte einen scheinbar unendlichen Moment, bis Melanie ihr Bein wieder belasten und zurück auf die Lichtung humpeln konnte.
Die Lichtkegel waren verschwunden. Der baumfreie Abschnitt lag in furchterregender Schwärze. Melanie hob ihr Handy vor sich in die Höhe, dessen behelfsmäßiges Licht gerade reichte, um einen halben Meter Wald vor ihr auszuleuchten.
„Thorsten? Dorina? Wo seid ihr?“, rief sie. Die Angst schickte erste Wellen von hinten in ihren Nacken. „Leute, das ist nicht witzig, ok?“ Sie stolperte vorwärts, wie sie glaubte, bis ungefähr zur Mitte der Lichtung.
„Ok, ihr habt euch genug amüsiert! Kommt jetzt raus!“, schrie Melanie wütend . Als sich noch immer niemand bemerkbar machte, wechselte ihre Tonlage zu schwelender Panik. „Kommt schon Leute! Hört auf damit!“
Stille, Schwärze, nur angeregt vom Wispern der Baumkronen im Wind.
„Dorina? Thorsten? Ben?“ Melanie drehte sich einmal um sich selbst, leuchtete die Begrenzungen der Lichtung ab, soweit es ihr möglich war. Sie glaubte, hinter einem der Sträucher eine Bewegung gesehen zu haben und wurde wieder ärgerlich.
„Was soll das? Ihr seid so verdammt kindisch! Dieser ganze Quatsch mit eurer Schatzsuche ist so armselig! Welcher normale Mensch rennt an einem Samstagabend blöde durch den Wald. Ich hab die Schnauze voll! Ich finde den Weg zurück auch alleine!“ Sie stapfte demonstrativ los, obwohl man ihre Entschlossenheit im Dunkel eh nicht sehen konnte.
Über die breiten Spazierwege würde sie schon aus diesem verfluchten Wald herauszufinden. Ringsherum waren die Zufahrtsstraßen gebaut.. Erst vorhin hatten sie eine Schranke passiert, die eine Solche dahinter kennzeichnete. Von dort würde sie schon irgendwie wieder nach Hause kommen, auch ohne die Hilfe ihrer, in diesem Moment von ihr für ehemalig befundenen Freunde. Wieder ein Rascheln im Unterholz. Melanie starrte angespannt in die Baumreihen.
„Viel Spaß noch!“, spuckte sie in Richtung der wippenden Sträucher dort, dann tastete sie sich langsam vorwärts, erkannte etwas weiter hinten einen weitläufigen, eindeutig oft genutzten Weg, der von der Lichtung abging und sicher in die Zivilisation führte. Sie drehte sich nicht mehr um und schritt zielstrebig darauf zu. Kurz bevor sie den Baum, der die linke Seite des Weges kennzeichnete, erreicht hatte, ertönte ein kurzer Schrei, grell und angsteinflössend. Melanie stand wie einer der Stämme. Sie horchte, traute sich kaum zu atmen. Im selben Moment schallt sie sich auch schon als einfältig und rief: „Ja, ganz tolle Vorstellung!“, ins Dunkel hinter sich, setzte ihren Weg unbeirrt fort.
Wieder ein Schrei, als würde irgendwo jemand gefoltert. Das Echo davon hallte über die leere Lichtung. Auch wenn Melanie sich einredete, dass all das zum perfiden Plan ihrer Freunde gehörte, ihr einen üblen Schrecken einzujagen, gewann die Angst jetzt in ihr an Stärke. Sie leuchtete mit dem Handy zur Geräuschquelle, die sich nicht ausmachen ließ, weil das Rauschen der Blätter alles verschluckte. Es schien direkt in ihren Ohren wie ein monotoner Sing Sang zu schwingen
. „Hallo?“, rief Melanie mit dünner Stimme. Schritte auf dem Waldboden, irgendwo rechts von der Lichtung, wie das schelle Tappen mehrerer Fußpaare, ein Schleifgeräusch, vielleicht auch ein Scharren. Melanies Atem ging flach, trotz der Kälte perlten Schweißtropfen von ihrer Stirn, die sich mit dem anhaltenden Regen vermischten. Sie tippte fahrig auf ihrem Telefon herum, dessen Lichtquelle kurz erlosch, um für das blaue Leuchten des Displays Platz zu machen. Beim Suchen nach Dorinas Nummer, kam sie auf den falschen Button. Ein verzerrtes Kinderlachen durchbrach die Stille. Einer ihrer ,aus dem I-net gesaugten Klingeltöne, der sie so erschreckte, dass das Handy auf dem Waldboden aufschlug und kurz den Dienst aufgab. Sofort war es so düster, dass Melanie vollkommen blind, auf allen Vieren im Laub wühlen musste, um ihre Lichtquelle wiederzuerhalten.. Noch ein Schrei, quälend langgezogen.
Sie erstarrte in der Bewegung, ihre Hände bebten, schleuderten nassen Sand und Mulch bei Seite, dann fühlte sie den glatten Rahmen, griff zu, betätigte eine Taste, leuchtete panisch hinter sich. Nichts! Diesmal kein Rascheln in den Blättern, dafür einen Moment später der Lichtkegel einer Taschenlampe, ganz schwach, scheinbar weit entfernt im Dickicht.
Melanie fasste sich. Sie stellte sich vor, wie Ben und Dorina hinter irgendeinem Baumstumpf hockten und sich vor Lachen kaum noch einbekamen. Sie glaubte sogar, das Gekicher wurde vom Wind zu ihr herüber getragen. Wieder suchte sie in den Kontakten, drückte und hörte das Freizeichen. Es klingelte. Melanie legte sich schon die passenden Worte zurecht, die ihre Stimmung eindrucksvoll untermalen würden. Endlich nahm Jemand ab.
„Ihr seid so elendige Arschlöcher!“, keifte sie ins Handy. Am anderen Ende Stille, nur Atmen, seltsames Schnaufen, dann das Besetztzeichen. Melanie wählte erneut, niemand nahm mehr ab.
Die Nummern von Ben und diesem Thorsten hatte sie nicht.
Einen Versuch bei Dorina wollte sie noch wagen. Es klingelte, wie zuvor. Nach dem sechsten Tuten, klackte es im Mikrofon, das Schnaufen war zu hören.
„ Dorina, ab heute sind wir getrennte Leute! Du bist so eine falsche Schlange. Ihr könnt mich alle mal!“, brüllte Melanie außer sich. Kurz bevor sie auflegen wollte, ein Schrei. Diesmal aus dem Telefon, dann ein Flüstern, das so leise war, dass sie mit der Vermutung kämpfte, es sich nur eingebildet zu haben.
„Du wirst sterben!“
Das Handy rutschte noch in ihrer Hand vom Ohr. Sie suchte wie irr die Begrenzungen der Lichtung ab, glaubte, überall würde es knacken, rascheln und knistern, dann setzte sie sich in Bewegung.
Es war ihr jetzt egal, wer der Urheber des makaberen Schauspiels war, ob die Anderen sich über sie lustig machten, oder gerade von irgendeinem Wahnsinnigen abgeschlachtet wurden.
Sie stürzte auf den breiten Waldweg zu, knickte um, rappelte sich wieder auf und lief weiter, verlor ihre Schuhe an den Matsch Der Lichtkegel ihres Handys hüpfte im Takt ihrer Schritte über die Baumschemen. Sie lief, bis sie keine Luft mehr bekam und entkräftet in eine Pfütze auf dem schlammigen Weg sank.
Um sie herum immer noch nichts als Natur. Melanie wusste nicht, ob sie der Straße näher gekommen war. Sie konnte nicht weit genug leuchten. Das Licht ihres Handys malte nur einen hellen Torbogen vor ihr in den Waldausschnitt. Der Regen nahm ihr noch mehr Sicht.
Als ihr Atem wieder ruhiger ging, sich das Ohrensausen gelegt hatte, nahm sie ein wiederkehrendes Geräusch war. Es passte nicht zur Geräuschkulisse. Ein monotones Klopfen, tack, tack, tack, wie eine Tür, die vom Durchzug immer wieder gegen den Rahmen geknallt wurden. Kurzzeitig setzte es aus, um dann wieder von vorn zu beginnen. Melanie leuchtete in die Baumkronen. Ungefähr in 3 Metern Höhe hing ein altes Paar Stiefel, an den Senkeln zusammengebunden über einem kahlen Ast. Der Wind peitschte es immer wieder gegen den Baum. Irgendetwas an der Schuhart kam ihr bekannt vor. Da war ein reflektierendes Zeichen auf dem Schaft, das sie schon mal gesehen hatte. Als ihr einfiel, wo und wann, hielt sie sich unwillkürlich die Hand vor den Mund, erstickte den Schrei noch in ihrer Kehle. Dann ertönte, helles, wie irr klingendes Kinderlachen. Melanies Herzschlag stolperte in der Brust, sie griff nach einem tiefer gelegenen Ast, zog sich auf die Beine. Das beängstigende Lachen schien überall um sie herum, als würde eine ganze Gruppe dämonischer Halbwüchsiger hinter den Bäumen Verstecken spielen.
Ein hüfthoher Strauch am Wegesrand, über den kurz der Strahl ihres Handylichts strich, verpasste ihren überreizten Nerven den Schemen eines der Kinder, entsprungen direkt aus einem Horrorfilm. Obwohl sie im nächsten Moment den Busch erkannte, war der Schockmoment, so intensiv dass ihr das Handy fast wieder aus der Hand gefallen wäre.
„Du wirst zahlen!“, hallte es aus dem Dickicht. „Du wirst sterben!“
War es nur eine Stimme? Waren es mehrere? Melanie traute ihren Sinnen nicht mehr. Die Angst lähmte sie so, dass sie nicht weglaufen konnte. Das Handy meldete sich.Gerade als sie das Display entziffern wollte, traf sie etwas an der Schulter. Eine verwitterte Coladose prallte von dort ab und landete vor ihr auf dem Waldweg. Ihr Handy tönte mit völlig unangebrachter Popmusik. Der Schreck war groesser als der Schmerz. Sie drehte sich zur Richtung, aus der die Dose gekommen zu sein schien, dann landete irgendetwas in ihren Haaren. Panisch gestikulierend fuhr sie sich an den Kopf, erwischte etwas dünnes, längliches, eine Art Faden, und zog einen matschigen, alten Tampon hervor.
Ihre Angst wechselte zu Wut. Welcher geistesgestörte Killer warf schon mit Müll um sich? Es musste ein makaberer Scherz sein. Und der Erfinder dieses Theaters war sicher am anderen Ende des klingelnden Telefons. Die Nummer sagte Melanie nichts. Sie horchte auf das Kinderlachen, aber da war nur noch Blätterrauschen. Die bedrohliche Szene von eben verblasste schnell, weil das Handy alle Aufmerksamkeit erregte . Melanie nahm ab, der Anrufer sagte nichts.
„ Wer ist da?“, fragte sie zittrig ins Mikrofon.
„Melanie? Melanie, hey! Geht es Dir gut? Ist alles in Ordnung?“ Dorinas Stimme erzeugte deutlich ambivalente Gefühle in Melanie. „Was soll dieser Mist? Habt ihr endlich genug von eurer Vorstellung?“, schrie sie. „Wo bist Du? Ist Thorsten bei Dir?“ Die Freundin klang ängstlich und beängstigend echt. Melanie kroch wieder das Entsetzen über die Schulter. „Verdammt noch mal, hört jetzt endlich auf damit!“
„Gott sei dank, es geht ihr gut!“, hörte sie Dorina zu Jemandem sagen. „Melanie, wo bist Du?“
„In dem verdammten Wald, in den du mich geschleppt hast!“, antwortete sie zynischer, als beabsichtigt. „Hier ist die Kacke am dampfen! Irgendetwas verfolgt mich, ich hab ne Scheissangst!“ Melanie überlegte, die Kinderstimmen zu erwähnen, mit dem noch vorhandenen, leisen Misstrauen, unterschlug sie diese Information aber.
„Wo genau, Melanie? Wir haben uns auf der Lichtung verloren! In welchen Weg bist Du eingebogen?“, überschlug sich Dorinas Stimme am anderen Ende.
„Was weiß ich denn, in den breitesten!“
„Bleib, wo Du bist! Wir kommen zu Dir! Und ruf die Polizei, Melanie! Jetzt gleich, wenn wir aufgelegt haben!“
Eine Stunde später saßen die Jugendlichen auf dem Revier, in Decken gewickelt, heiße Pappbecher in den Händen. Der zuständige Kriminaloberinspektor hatte sie alle einzeln befragt, die Eltern verständigt. Suchtrupps durchkämmten das Gebiet mit Flakscheinwerfern. Die Drei waren mit dem Schrecken davongekommen, von Thorsten fehlte jedes Lebenszeichen. Man fand Reifenspuren, die man Jedoch keinem ansässigen KFZ-Besitzer zuordnen konnte, Fussabdruecke im weichen Waldboden, die wegen des starken Regens unbrauchbar blieben. Endlich auch Thorstens Leiche, versteckt in einer Art Erdloch, . Die Blut- und Urinproben ergaben, dass man Dorina und Ben mit Ether narkotisiert hatte. Die Fahndung nach neuerlichen Käufen blieb ergebnislos. Der Aussage der Jugendlichen sich zum Absolvieren eines Geocaches dort im Wald getroffen zu haben wurde nachgegangen. Der *Owner des Caches konnte über das Netz-Portal ermittelt werden, hatte jedoch Alibi und keinerlei Motiv. Auch die Cacheaufrufe der letzten Wochen und die Personen hinter den *Nicks wurden unüberprüft, ohne Ergebnis.
Die Ermittler hatten keine Spur, keine Anhaltspunkte mehr. Der Fall wurde ein halbes Jahr später vorerst zu den Akten gelegt.
Claudia trat hinter den Rücken ihres Freundes und küsste ihn in den Nacken.
„Ich muss zur Vorlesung, Mike! Professor Glauen wird uns heute mit der Isolierung, Synthese und Abwandlung von Naturstoffen langweilen. Ich hasse diesen trockenen Theorieunterricht!“
Sie hatte ihre Jacke gerade über den linken Arm gezogen und suchte mit dem anderen den rechten Ärmeleingang. Mike stierte auf den Computerbildschirm.
„Suchst Du schon wieder nach neuen *Multis? Lass es einfach! Es reicht doch jetzt mal! Wir wollten nur ein paar Umweltschänder erschrecken, Mike! Das mit dem Betäuben ist mir zu hart, das ufert völlig aus!
Und dass Du das Handy behalten hast, ist absolut daneben!“, ihre Stimme schwankte zwischen Anklage und Sorge.
Er gab noch immer keine Antwort, klickte sich fieberhaft durch die Fenster.
Claudia würde erst drei Tage später erfahren, dass sich ihr Freund eines noch viel groesseren Unrechts schuldig gemacht hatte.