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Tödliche Hobbys – Geocaching
„Okay“, sagte Heiner, „jetzt sind wir offiziell in der Wildnis. Mein Garmin kennt hier keinen Weg mehr.“
„Google Maps ist auch raus. Das Netz ist weg“, sekundierte Petra kurz darauf. Sie klappte die Schutzhülle des Tablet-Computers zu und schob das Gerät in ihre Umhängetasche.
Lucy stöhnte innerlich. Sie konnte gerade noch die WhatsApp-Nachricht an Deborah versenden, bevor auch ihr Handy den Funkkontakt verlor. OMFG! Geocaching mit meinen Alten in der französischen Pampa. Hol mich hier raus! Lu. Debbie hatte immer einen aufbauenden Spruch parat, aber auf ihre Antwort würde Lucy nun warten müssen, bis sie wieder in der Zivilisation war. Wenn ihre Eltern nur nicht so debil grinsen würden, als ob es das Größte wäre, sich mit bloßen Händen durch den Dschungel schlagen zu dürfen! Sie blickte in das Unterholz. Es schien mit jedem Meter dunkler zu werden.
„Guck nicht so besorgt“, sagte ihr Vater, der ihren Gesichtsausdruck zuverlässig missverstand. „Wir finden immer zurück. Ich hab ja die Koordinaten von unserem Auto gespeichert.“
Den alten Volvo hatten sie am See abgestellt, als die Feldwege nicht mehr zum Fahren taugten. Lac de Quercey hieß der Tümpel, offenbar nach dem nahegelegenen Kaff benannt, in dem bestimmt nur noch drei alte Leute und ein räudiger Hund hausten. Der Name des Sees war auch der Titel des Caches, den Lucys Eltern zu finden hofften, obwohl das Ding offenbar noch weitere zwei Kilometer entfernt war. Durch unberührten Wald natürlich.
Als Kind des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte Lucy nie verstanden, warum sie in eine Familie von Möchtegern-Späthippies geboren werden musste, die ihre Tochter nach einem Kiffer-Song der Beatles benannten. Lucy in the Sky with Diamonds. Urpeinlich! Eigentlich hatten die Macken ihrer Eltern mit der Zeit etwas nachgelassen, aber vor ein paar Jahren hatten sie es zu ihrem Hobby erklärt, mit GPS-Geräten bewaffnet zwischen Dornen, Spinnen und Brennnesseln herumzukriechen, um kleine Plastikdöschen zu finden, die gleichgesinnte Deppen dort versteckt hatten. Seine Funde durfte man dann auf einer Website registrieren, von der man zuvor die Koordinaten abgerufen hatte. Manchmal glaubte Lucy, dass die Cache-Besitzer in ihrer Freizeit hinter Büschen und Hecken saßen und kichernd die armen Irren beobachteten, die ihretwegen auf Bäume stiegen oder unter Brücken krabbelten, um sich über die Entdeckung eines unscheinbaren Metallröhrchens ein Loch in den Bauch zu freuen.
Noch weniger hatte sie begriffen, warum man sich damit einen Frankreich-Urlaub versauen musste, den man ebenso gut in Paris, Marseille oder Nizza hätte verbringen können. So ein geiles Land, und sie mussten ausgerechnet in dessen totesten Teil fahren. „In Frankreich gibt es viel mehr Natur, weil es nicht so dicht besiedelt ist“, hatte ihr Vater doziert. „Die haben fast doppelt so viel Fläche wie wir für etwas weniger Einwohner. Da kann man noch stundenlang laufen, ohne einen Menschen zu treffen!“ Dabei leuchteten seine Augen.
„Danke, Paps, ich hab schon in der Schule mehr Erdkunde, als ich verkrafte“, hatte sie geantwortet. Doch ihr Sarkasmus hatte an den Ferienplänen nichts geändert, und obwohl sie schon siebzehn war, musste sie mitfahren, statt den Sommer mit Steffen am Baggersee zu verbringen. Auf der pseudo-lustigen Ansichtskarte, die sie ihm gestern geschickt hatte, stand: Pas de mer. Pas de montagne. Bienvenue en Bourgogne. Dafür hatte sogar ihr Schulfranzösisch ausgereicht: Kein Meer. Keine Berge. Willkommen in Burgund. Das fasste ihren Urlaub ziemlich treffend zusammen.
Lucy stapfte neben ihren Eltern durch das Grün. Sie hatten die Trampelpfade verlassen, nachdem es keinen direkten Zugang in Richtung des Zieles zu geben schien. Lucys Stimmung war so düster wie das Gehölz um sie herum. Die Hälfte der Zeit musste sie auf Mücken und Bremsen einschlagen, heute Abend würde sie sich wieder nach Zecken absuchen. Ein Urlaub für Masochisten! Dazu kamen die ständigen Geräusche und Bewegungen im Gebüsch, die sie irritierten. Alle naselang sah sie über ihre Schulter, ob etwa ein Wolf, ein Wildschwein oder eine Riesenspinne aus dem Unterholz angriff. Auch ein tollwütiges Eichhörnchen hätte sie nicht ernsthaft überrascht.
Heiner hingegen war frohen Mutes. „Der Cache ist übrigens brandneu. Letzte Woche erst ins Netz gestellt, und bis jetzt hat ihn keiner geloggt. Wir werden die Ersten sein, die ihn finden.“ Er knuffte Lucy an den Oberarm. „Ist das nicht toll? Familie Wiegand auf dem Weg in die Geschichtsbücher!“
„A propos Weg.“ Petra brach durch ein paar Sträucher, vor ihr wurde es etwas heller. „Hier ist ein Feldweg.“
Heiner folgte ihr. „Den kennt mein Garmin immer noch nicht.“ Er blickte den Weg entlang, der jedoch in beiden Richtungen nach wenigen Schritten abbog. „Dafür sind es keine tausend Meter mehr. Nord-Nordost.“ Er zeigte nach links.
„Siehst du, Lucy“, sagte Petra und legte ihr den Arm um die Schultern. „Hier kann man wieder vernünftig laufen. Keine Gefahr mehr, dass dir die High Heels abbrechen.“ Lucy machte sich los und ging zwei Schritte voraus. Sie hasste es, wenn man sie als Weichei hinstellte, bloß weil sie keinen Bock auf Schlamm und Gestrüpp hatte. Immerhin trug sie sehr wohl feste Schuhe, sie hatte ja genügend leidvolle Erfahrungen mit ihren Eltern gemacht.
„Hatte ich übrigens gesagt, dass der Suchhinweis lautet: vide-grenier?“, fragte Heiner. „Lustig, oder?“
„Ein Brüller, Paps.“ Dieser Begriff war ihnen in den letzten Wochen dutzendfach auf Schildern und Plakaten begegnet, und Lucy hatte ihn schließlich nachgeschlagen. „Leere Kornkammer“, hieß das wörtlich, aber gemeint war eine Art Flohmarkt, der auch zu einer Kirmes ausarten konnte. Wenn ich heute noch mitten im Wald Kettenkarussell fahren soll, schreie ich.
„So, nur noch vierhundert Meter. Wartet mal kurz, ich muss eben in die Büsche. Damit ich gleich ganz entspannt suchen kann.“ Heiner grinste, verließ den Weg und begab sich ins dichte Unterholz.
„Danke, Paps, so genau wollten wir es gar nicht wissen.“ Lucy versuchte, etwas Interessantes auf der entgegengesetzten Seite des Weges zu finden. Die Bäume warfen jetzt längere Schatten, es war schon später Nachmittag. Ständig bewegte sich irgendetwas im Gebüsch. Dann raschelte es, als ob jemand von links nach rechts oder von rechts nach links huschte. Zweige winkten, als wollten sie Lucy auf etwas aufmerksam machen: Schau mal! Rate, was sich hier versteckt! Oder wer dich dort verfolgt! Sie wandte sich schaudernd ab und trat wieder einen Schritt näher zu ihrer Mutter.
Als ihr Mann nach langen Minuten noch nicht zurückgekehrt war, begann Petra nach ihm zu rufen. „Heiner? Heiner!“ Keine Antwort. „Brauchst du noch länger? Sag doch wenigstens mal 'nen Ton!“
„Na, super“, murrte Lucy.
„Okay“, sagte Petra und atmete tief durch, „ich gehe mal nach Papa schauen. Lauf nicht weg.“
„Spinnst du? Du kannst mich doch hier nicht alleine lassen!“
„Wir können ihn nicht beide suchen. Wenn er zurückkommt, muss einer von uns hier sein, weil er sonst anfängt, nach uns zu suchen.“ Lucy öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ihre Mutter sprach schon weiter. „Wahrscheinlich ist es eh wieder einer seiner blöden Scherze, also lass dich nicht von ihm erschrecken.“ Sie zwinkerte Lucy verschwörerisch zu, doch die sah die Sorgenfalte auf Petras Stirn. „Lass ihn einfach auflaufen, das hat er mal verdient.“ Damit verschwand sie zwischen den Bäumen, alle paar Augenblicke nach ihrem Mann rufend. Dabei stieg ihre Tonlage allmählich an.
Lucy fühlte sich unbehaglich, war aber wild entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Außerdem konnte es ja sein, dass ihr Vater bloß etwas länger für seine Verrichtung brauchte. Und bei der Vorstellung, ihn mit heruntergelassener Hose im Gebüsch vorzufinden, war sie doch ganz zufrieden, auf dem Weg zu bleiben. Wenn ihre Mutter sich das antun wollte – bitte sehr.
Die Minuten vergingen. Lucy trank einen Schluck und steckte die Flasche zurück in ihren Rucksack. Statt ihn wieder über die Schulter zu hängen, hielt sie ihn eng umschlungen vor dem Bauch. Ihr fiel ein, dass es in Gruselfilmen immer eine ganz schlechte Idee war, wenn die Protagonisten sich aufteilten. Ein paar der einschlägigen Streifen, die sie gesehen hatte, gingen ihr durch den Kopf. Scream. Blair Witch Project. Texas Chainsaw Massacre. Ein Insekt streifte ihren Nacken und sie fuhr zusammen. Sehr klug von dir, jetzt solche Gedanken zu wälzen! Sie versuchte, sich stattdessen Steffens Gesicht vorzustellen. Wenn er doch jetzt hier wäre – oder besser, sie zuhause bei ihm! Lucy drückte ihren Rucksack noch fester an sich. Dann stutzte sie. Wann hatte sie eigentlich zuletzt ihre Mutter rufen gehört? War die schon so weit weg? Oder war sie verstummt? Und warum?
Lucy erschrak erneut und stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus, als es neben ihr im Gebüsch knackte und eine Gestalt auf den Weg trat. Beim zweiten Hinsehen erkannte Lucy, dass es Petra war. Ihre Arme waren zerkratzt, die Bluse schmutzig und eingerissen, sie musste in dornigem Gestrüpp hängengeblieben sein. „Ich find ihn nicht. Normalerweise würde ich ihn jetzt anrufen, aber ich hab noch immer kein Netz.“ Petra ließ hilflos die Schultern hängen und blickte zu Boden.
Lucy seufzte. Es war wieder so weit. Ihre Mutter war eine Meisterin der Planung für alle Eventualitäten, aber wenn wirklich mal eine Krise eintrat, war sie wie gelähmt. Unfähig, klar zu denken oder irgendeine Entscheidung zu treffen. Normalerweise verließ sie sich dann auf Heiner, aber wenn der nicht greifbar war, musste Lucy einspringen. So wie letztes Jahr, als ihr Vater mit seiner Nierengeschichte im Krankenhaus lag und Lucy ihre Mutter durch den Alltag steuern musste.
„Plan B, Mama“, sagte sie nun. „Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns am Zielpunkt. Hast du dir doch selber so schön ausgedacht.“ Dafür hatte immer jeder die Koordinaten der Caches auf seinem Gerät, sogar Lucy lud sie stets widerwillig, aber gewissenhaft auf ihr Handy. „Nimm dein Tablet, Mama. Zeig uns die Richtung, GPS geht doch auch ohne Netz.“
„Oh. Ja.“ Fahrig kramte Petra in ihrer Tasche, während Lucy einen schmalen Stein nahm und in großen Lettern eine Nachricht für ihren Vater in den weichen Boden ritzte: Treffen am Cache. Dazu malte sie einen Pfeil in die Richtung, in die sie zuletzt gegangen waren. Als Petra das Tablet in Gang gebracht hatte, liefen sie weiter.
„Dein Vater und ich haben auch unsere Probleme, weißt du?“ Petra starrte den Weg entlang, während sie nebeneinander gingen. „Aber in solchen Momenten kann ich mir nicht vorstellen, was ich jemals ohne ihn machen sollte.“
Ärger stieg in Lucy auf. Warum erzählte ihre Mutter ihr das, und ausgerechnet jetzt? Reichte es nicht, dass sie sich allmählich Sorgen machte um ihren Vater, der sich noch nie – wirklich nie! – im Wald verlaufen hatte? Sollte sie sich jetzt auch noch mit einer möglichen Trennung ihrer Eltern befassen?
Das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Doch wieder ein Netz? Sie blickte aufs Display. „Ich hab ein WLAN. Ist verschlüsselt, aber irgendwo muss hier jemand wohnen.“ Sie fragte sich, was sie wohl gruseliger finden sollte: stundenlang mutterseelenallein durch diese Einöde zu stapfen oder urplötzlich einem Hinterwäldler gegenüberzustehen, der tatsächlich hier lebte. Weitere Filme kamen ihr in den Sinn. Wrong Turn. Cabin in the Woods. Hänsel und Gretel.
„Vielleicht kann uns hier jemand helfen“, riss ihre Mutter sie aus ihren Gedanken. „Wenn hier jemand wohnt, hat er bestimmt Telefon. Festnetz.“
Was immer uns das nützt, um Papa zu finden, dachte Lucy. Sie bogen um die nächste Kurve und sahen den Hof.
Es war ein französischer Bauernhof, wie sie sie schon dutzendweise gesehen hatten. Das gedrungene Wohnhaus, eine große Scheune und etwas, das ein Viehstall sein mochte, waren von einen halbhohen Natursteinmauer umgeben. Dazwischen war etwas freier Platz, an die Mauer drückte sich ein kleiner Kräutergarten. Das Ganze füllte eine Lichtung, im Hintergrund lag ein Acker, und danach kamen wieder Bäume. Eigentlich sehr idyllisch, aber Lucy konnte sich nicht erklären, warum dieses Gehöft mitten im Wald lag statt in einem Dorf.
Auf einem einfachen Holzstuhl vor dem Haus saß ein alter Mann, der ebenfalls ins Klischee passte. Ein kleiner Rentnerbauch trat aus der abgewetzten Lederweste hervor, in der Linken hielt er einen Stumpen, der kalt aussah. Das schien der Altenteiler zu sein. Als er die beiden Frauen auf sich zukommen sah, wirkte er nicht im Mindesten überrascht. Er stand umständlich auf und begrüßte sie mit einem französischen Redeschwall, der sehr freundlich klang, von dem Lucy aber nur „bonjour“ und „belles dames“ verstand. Petra sah ihre Tochter hilfesuchend an. Schon klar. Das hatten sie jetzt davon, dass sie das Reden mit den Eingeborenen immer Heiner überlassen hatten. Lucy kramte ihre Sprachkenntnisse zusammen. Laut ihrem Schulzeugnis waren die ja angeblich ausreichend. Also los.
„Bonjour. Nous cherche mon père“, radebrechte sie. „Papa. Monsieur Wiegand. Il est … perdu.“ Verdammt, was war wohl das Wort für verschwunden? „Dans le Wald. Le bois.“ Sie wies auf das Grün hinter ihnen.
Die Antwort bestand in einem gutmütigen Lachen und einer weiteren Flut unverständlicher Worte. „On l'a trouvé“, hörte sie heraus. „Venez!“
„Wir sollen mitkommen, sie haben ihn gefunden. Glaub ich jedenfalls“, sagte sie zu ihrer Mutter. Der Alte setzte sich in Bewegung und bedeutete ihnen zu folgen. Er wackelte auf die Scheune zu.
„Komisch“, sagte Petra mit Blick auf ihr Tablet. „Die Koordinaten scheinen genau dort zu sein. Man legt doch keinen Cache ins eigene Haus? Aber sieh mal da.“ Vide-Grenier, stand in bunten Buchstaben auf einer handgeschriebenen Tafel.
„Das passt ja wenigstens“, sagte Lucy. Aber was zum Geier feiern die hier in der Einöde?
Ein Flügel des Scheunentors stand offen. Drinnen war es dunkel, die Öffnung gähnte wie ein schwarzes Loch. Der alte Bauer trat zur Seite und wies auffordernd hinein. Lucy zögerte, aber Petra ging voran. „Heiner? Ist alles in ...?“ Hinter der Schwelle blieb sie wie angewurzelt stehen, starrte in den Raum und stieß keuchend den Atem aus. Dann fiel sie in Ohnmacht. Das Tablet schlug klirrend auf den gepflasterten Boden. Lucy stürzte auf ihre Mutter zu, um ihr zu helfen, doch der Alte schubste sie mit erstaunlicher Kraft in die Scheune hinein.
Die große Scheune war in der Tat fast leer. Am entfernten Ende jedoch stand aufrecht ein etwa drei Meter großes Kreuz aus groben Holzbalken. An diesem hing mit Seilen festgebunden ihr Vater, nackt und in Jesus-Pose. Sein Bart und sein halblanges Haar unterstrichen den bizarren Eindruck. Hätte sie nicht bereits an seinen starren, offenen Augen erkannt, dass er tot war, so hätte es ihr die klaffende Wunde in seiner Brust verraten. An seinem Körper war kaum Blut, jemand musste ihn notdürftig gewaschen haben. Auf einem niedrigen, altarähnlichen Tisch lagen seine Kleidung und sein Rucksack, die Inhalte waren ausgeräumt und ebenfalls auf dem Tisch aufgereiht. Eine Vielzahl großer und kleiner Kerzen warf ein schummriges Licht auf die Szenerie.
Neben Heiners Kreuz standen zwei weitere, etwas kleinere. Sie waren noch leer.
Lucy vergaß zu atmen, ihre Knie wurden weich. Sie dachte flüchtig an das Johannisbeergelee, das sie zum Frühstück gegessen hatte, und übergab sich ohne Vorwarnung. Dann erst nahm sie den Mann wahr, der neben den Kreuzen gestanden hatte und sich jetzt aus dem Schatten löste. Er war in einen dunklen Umhang gehüllt, die Kapuze war zurückgeschlagen. Es musste sich um den Sohn des Alten handeln, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Er kam gemessenen Schrittes auf sie zu und ergriff im Vorbeigehen die lange Axt, die am Tisch lehnte. Lucy sah die Blutflecken an der Klinge. Im Gehen murmelte er irgendeinen Singsang vor sich hin, in dem sie mehrmals die Worte „bon Dieu“ ausmachen konnte. Welchen perversen Gott meinte er damit? Doch wohl kaum denselben, von dem man ihr im Konfirmationsunterricht erzählt hatte?
Als der Mann die Gruppe am Tor erreicht hatte, drehte er die bewusstlose Petra mit einem Tritt auf den Rücken, holte weit aus und schlug ihr ohne Umschweife die Axt in die Brust. Petras Körper zuckte reflexhaft, ihr Kopf schnellte nach oben und ein Schwall von Blut sprudelte aus ihrem Mund. Gleichzeitig riss sie die Augen auf, als hätte der mächtige Hieb sie noch einmal geweckt. Dann erschlaffte sie sofort wieder, der Kopf stieß mit einem dumpfen Laut auf den Boden, und ihr Blick wies ins Leere.
Jetzt endlich kehrte die Luft in Lucys Lungen zurück, sie kreischte aus Leibeskräften. Ein Fausthieb des Alten ließ sie verstummen. Sie spürte den Schmerz in ihrem Kiefer und schmeckte das Blut auf den Lippen, vermischt mit dem Aroma ihres Erbrochenen. Der Ekel und die Angst in ihrem Bauch wichen einem neuen Gefühl: Wut. Auf den alten Mann, der sie geschlagen hatte. Auf den jüngeren, der ihre Eltern ermordet hatte. Auf ihre Mutter, die sich der ganzen Scheiße durch Ohnmacht und Tod entzogen hatte. Und auf sie selbst, weil sie es nicht verhindert hatte. Diese Wut half ihr, wieder klar und effizient zu denken.
Der alte Bauer griff nach ihr, Lucy hatte keine Zweifel, dass er sie zum nächsten Opfer machen wollte. Doch sie erinnerte sich an den Selbstverteidigungskurs, den sie auf Petras Rat hin belegt hatte, als ein paar unangenehme Jungs mehr als nur freundliches Interesse an ihr bekundet hatten. Sie trat dem Mann zwischen die Beine. Der Tritt war nicht sehr heftig, fand aber sein Ziel, und der Alte beugte sich japsend vornüber. Dort empfing ihn Lucys Knie. Er ging in die Hocke, fasste sich ins blutige Gesicht und rief seinem Sohn mit näselnder Stimme etwas zu. Der war noch damit beschäftigt, seine Axt aus Petras Brustkorb zu befreien.
Lucy sah sich gehetzt um. Sie musste hier raus, am besten zum Auto. Doch das Tor war durch den Kuttenträger versperrt, der jetzt die Axt wieder einsatzbereit in der Hand hielt. Neben den Kreuzen gab es noch eine kleine Tür, die nur angelehnt war. Dorthin versuchte Lucy zu laufen, aber der Alte hatte sich an ihrem Rucksack festgekrallt. Sie ließ die Träger von ihren Schultern gleiten und sprintete los. Im Vorbeirennen schnappte sie Heiners Autoschlüssel vom Altartisch. An der Tür angekommen, stieß sie einen Fluch aus und wandte sich noch einmal um. Sie lief die drei Schritte zurück zum Tisch und griff auch noch nach dem GPS-Gerät, auf dem ihr Vater den Standort des Wagens gespeichert hatte. Der Axtpriester kam auf sie zu. Einer Eingebung folgend fegte sie einen Arm voll Kerzen vom Tisch. Die meisten verlöschten beim Aufprall, doch als sie durch die Tür huschte, sah sie noch, das die Strohreste auf dem Boden Feuer gefangen hatten. Ihr Verfolger brüllte ihr wütend hinterher.
Lucy rannte auf die hüfthohe Mauer zu, als vor ihr eine junge Frau aus dem Haus trat und den Weg zwischen den Gebäuden blockierte. Sie war mit Schüsseln und anderem Geschirr bepackt und schlurfte mit apathischem Blick in Richtung Scheune. Ohne länger über die seltsame Erscheinung nachzudenken, beugte sich Lucy vor und rannte mit der Schulter zuerst in die Frau hinein wie ein Footballspieler auf dem Weg zum Touchdown. Erst als die Frau ächzend gegen die Hauswand prallte, bemerkte Lucy das große Fleischermesser, das jetzt mit dem übrigen Hausrat klirrend zu Boden fiel. Doch sie hatte keine Zeit, sich nachträglich zu ängstigen, sie sprang mit einem großen Satz auf die Mauer und auf der anderen Seite hinunter. Dann rannte sie weiter durchs Unterholz, bis sie sicher war, dass ihr niemand hatte folgen können. Sie hockte sich in eine Senke, rang keuchend nach Luft und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während ihr Puls sich mehr oder weniger normalisierte.
Lucy unterdrückte die Tränen, verbot sich den Gedanken an ihre grausam abgeschlachteten Eltern und zwang sich, zielgerichtet zu denken. Es half, wenn sie die Wut reaktivierte, die sie in der Scheune gefühlt hatte.
Sie musste in die Zivilisation zurückfinden und die Polizei alarmieren. Das Problem, mit ihren beschränkten Sprachkenntnissen das Geschehene zu erklären, verschob sie auf später. Als Hilfsmittel hatte sie die Autoschlüssel, Papas GPS-Gerät und … kein Handy. Scheiße! Sie hatte es in der Hand gehalten, als der alte Psychopath sie in die Scheune geschubst hatte, wahrscheinlich war es ihr dabei heruntergefallen.
Okay, also mit dem Auto in den nächsten Ort. Das würde sie hinkriegen, Steffen hatte ein bisschen mit ihr geübt, weil sie im September mit der Fahrschule anfangen wollte. Steffen! Noch ein Gedanke, den sie vorerst verdrängen musste.
Demnach musste sie zuerst dem Garmin den Standort des Autos entlocken. Ihr Vater hatte ihr das Gerät erklärt, als sie anfangs noch versucht hatte, an diesem bescheuerten Hobby teilzuhaben. Aber das war Jahre her. Lucy kämpfte sich durch die Menüs, selbsterklärend war das Ding nicht gerade. Es ist auch nur ein blöder Computer, du kannst das! Es schien ewig zu dauern, bis sie den Kasten endlich dazu bewegt hatte, ihr die eigene Position, die des Wagens und die Himmelsrichtung samt Entfernung anzuzeigen.
Jetzt musste sie nur noch losrennen, dabei den Hof unauffällig und weiträumig umrunden und trotzdem schneller sein als die Psycho-Bauern, die ihr mit Sicherheit folgten. Klar doch, was könnte leichter sein? Sie überlegte, wie viel Zeit ihr das Feuerchen in der Scheune wohl gebracht haben mochte. Eher wenig vermutlich, ein Großbrand war es sicher nicht geworden. Schade eigentlich, den Feuertod hätte sie den kranken Arschlöchern allemal gegönnt. Also los, keine Zeit zu verlieren!
Lucy joggte den Waldweg entlang, vor ihr wurde es licht. In Sport hatte sie schon immer bessere Noten gehabt als in Sprachen oder Geografie. Der Blick aufs Display zeigte ihr, dass sie es fast geschafft hatte, hinter diesen Bäumen musste schon der See mit dem kleinen Parkplatz kommen. Der Weg hierher war reibungslos verlaufen, anscheinend hatten die Waldpsychos ihre Fährte verloren. Bloß gut, dass die keinen Hund hatten wie die meisten anderen Bauern. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon geopfert, als mal gerade keine Touristen vorbeikamen. Sie konnte nicht fassen, dass es so was mitten in Europa geben sollte! Nein, Lucy, jetzt noch nicht denken, sonst brichst du hier heulend zusammen. Bis zur Polizei musst du es noch schaffen!
Sie trat aus dem Wald und blickte sich vorsichtig um. Noch immer niemand zu sehen. Sollte es wirklich geklappt haben? Schnell rannte sie hinüber zum Wagen, öffnete die Fahrertür und warf sich hinein. Die Tür verriegelte sie von innen.
Mal sehen, wie ging das noch? Handbremse, Kupplung treten, Gang raus, Anlasser. Der Diesel sprang auf Anhieb an. Rückwärtsgang, Kupplung langsam kommen lassen … der Wagen bockte und der Motor erstarb. Abgewürgt – die blöde Handbremse! Noch mal von vorn.
Im zweiten Anlauf machte sie es richtig. Sie setzte vorsichtig zurück, um zu wenden, aber der Wagen fuhr sich komisch, irgendwie schwerfällig. Steckte sie im Schlamm? Nein, es war doch seit Tagen trockenes Wetter, der Boden fest. Auch als sie vorwärts in Richtung Straße fuhr, eierte die Lenkung so, dass sie kaum geradeaus steuern konnte, geschweige denn beschleunigen. Dazu kamen knirschende Geräusche, die der Volvo sonst nie gemacht hatte.
Lucy überfiel ein furchtbarer Gedanke. Fuhr es sich so, wenn die Reifen platt waren? Hatten die Psychos das Auto vor ihr erreicht und sabotiert? Vielleicht schon vor Stunden, bei ihrer Ankunft? Anzuhalten und nachzuschauen kam gar nicht in Frage, sie konnte nur versuchen, irgendwie zum nächsten Ort zu kommen. Aber wie lange konnte man auf den Felgen fahren? Sie schaute noch einmal auf alle Anzeigen und Hebel, ob sie nicht doch etwas falsch gemacht hatte. Als sie wieder auf den Weg blickte und die Gestalt sah, erschrak sie und trat reflexhaft auf die Bremse. Damit würgte sie erneut den Motor ab.
Es war der alte Bauer, der aus dem Wald getreten war und jetzt vor ihrem Kühler stand! Zwei Schritte hinter ihm stand die apathische junge Frau. War der Dritte auch in der Nähe? Lucy sah ihn nicht.
Der Alte schüttelte drohend die Faust und ließ eine Schimpftirade los, deren Wortlaut sie nicht interessierte. Noch einmal suchte sie in sich nach der Wut. Sie startete wieder den Motor, ließ die Kupplung kommen und gab Vollgas. „Sterbt doch einfach, ihr verdammten Schweine!“ Der Wagen sprang mit einem gequälten Laut vorwärts. Lucy sah den Kopf des Alten eine Delle in die Haube schlagen, als die Stoßstange ihm die Beine wegriss. Für einen endlos scheinenden Moment blickte sie in die ausdruckslosen Augen der Frau, bevor der Volvo auch sie erfasste. Beide Körper rutschten über die Kotflügel ab und verschwanden aus Lucys Blickfeld. Das Auto schlingerte bedrohlich über den Feldweg, doch sie nahm den Fuß nicht vom Gas. Plötzlich eine Bewegung im Rückspiegel – Lucy schaute hin und sah den Mann in der Kutte auf dem Weg stehen. Er trug die Axt in der Hand, doch Lucy war bereits außer Reichweite und entfernte sich rasch. Trotzdem traute sie sich nicht zu jubeln, sondern wimmerte leise vor sich hin: „Nun fahr schon, blödes Auto, liebes Auto, fahr einfach, bitte, schneller, schneller!“ Der Mann sah ihr nach und verschwand an der nächsten Kurve aus ihrem Sichtfeld.
Sie hatte das Ortsschild fast erreicht: Quercey. Das winzige Dorf, das Lucy noch vor wenigen Stunden wie das Ende der Welt vorgekommen war, erschien ihr nun als Leuchtturm der Zivilisation. Hier würde sie Hilfe finden, die Polizei verständigen können. Hoffnung keimte in ihr auf, gepaart mit der Bitterkeit der Tatsache, die sie nun nicht mehr aus ihrem Kopf verbannen konnte: Ihre Eltern waren tot, ermordet von verrückten Waldbewohnern. Aber wenigstens ich werde leben, keine Ahnung wie, aber ich werde leben. Und diese Psycho-Arschlöcher werden ihre gerechte Strafe kriegen.
Lucy trat weiter das Gaspedal durch, der Motor jaulte im zweiten Gang, doch das nahm sie kaum wahr. Tränen flossen ihre Wangen hinab und ihre Nase lief ungehemmt. Jetzt verstand sie, was es hieß, Rotz und Wasser zu heulen. Die Tropfen in ihren Augen brachen das Licht der tiefstehenden Sonne, Lucy war geblendet und übersah ein besonders tiefes Schlagloch auf der heruntergekommenen Straße. Das Lenkrad, das sie ohnehin kaum noch halten konnte, entglitt ihren zittrigen Händen, der Volvo brach nach rechts aus und kam in einem flachen Graben abrupt zum Stehen. Lucy schlug hart mit dem Kopf auf das Lenkrad, ihr wurde schwarz vor Augen. Sie kämpfte gegen die drohende Ohnmacht und wusste nicht, ob sie erfolgreich gewesen war, als sie die Augen wieder aufschlug. Die Sonne schien noch genauso zu stehen wie zuvor. Falls sie das Bewusstsein verloren hatte, dann nur kurz.
Stöhnend befreite sich Lucy aus dem Fahrzeugwrack. Der Wagen machte seinem Ruf als Schwedenpanzer Ehre, die Tür ließ sich trotz des Unfalls ohne Probleme öffnen. Als Lucy ausstieg, gab ihr linker Fuß unter ihr nach und sie fiel ins hohe Gras. Doch der Schmerz, der ihr Bein hochfuhr, war nicht zu stark, er hatte sie nur überrascht. Sie versuchte wieder aufzustehen, und es gelang. Nur verstaucht, nicht gebrochen.
Es waren nur noch wenige hundert Meter bis zum ersten Haus. Lucy biss die Zähne zusammen und humpelte vorwärts, so schnell sie konnte. Der Bäuerin, die auf ihr Klingeln hin öffnete, fiel sie fast in die Arme.
„Aidez-moi, s'il vous plaît! Appelez la police! On a tué mes parents. Ils sont morts.“ Lucy hatte sich die Sätze auf der Fahrt zurechtgelegt und mit dumpfer Verblüffung zur Kenntnis genommen, wie leicht ihr die Wörter für getötet und tot eingefallen waren.
Die geschockte Frau stützte Lucy, führte sie ins Innere des Hauses und ließ sie in einen Sessel rutschen. Ihren Redeschwall konnte Lucy nicht verstehen, sie war nicht mehr in der Lage, sich darauf zu konzentrieren. „La police, s'il vous plaît“, sagte sie selbst noch ein paar Mal, und die Bäuerin nickte, während sie in beruhigendem Ton weiterredete. Nachdem sie Lucy abgelegt hatte, griff sie ein schnurloses Telefon vom Couchtisch und verließ damit den Raum.
Als die Frau nach kurzer Zeit wiederkam, hatte sie eine Flasche und ein Glas in der Hand. „La police est en route“, sagte sie extra deutlich zu Lucy. Die Polizei ist unterwegs. Dann goss sie etwas zu trinken ein und versuchte es Lucy einzuflößen. Das Zeug war scharf, anscheinend ein Schnaps, Lucy hustete den ersten Schluck wieder aus. Der zweite ging besser, das Brennen im Hals hatte paradoxerweise etwas Linderndes. Lucy ließ den Kopf an die Sessellehne sinken und schloss die Augen. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und fühlte etwas Klebriges. Blut. Sie machte die Augen wieder auf, sah die Flecken, die sie auf dem Sessel hinterließ, und hob hilflos die Schultern. „Pardon ...“, murmelte sie, aber die Bäuerin redete abermals beruhigend auf sie ein. Lucy gab sich ihrer Erschöpfung hin.
Ein energisches Klopfen an der Tür ließ Lucy hochschrecken. Sie musste kurz eingeschlafen sein. Durchs Fenster sah sie ein Auto an der Straße. Die Polizei? Der Wagen schien kein Blaulicht zu tragen.
Die Hausherrin bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, aber Lucy fühlte sich ohnehin zu schwach, um aufzustehen. Die Frau ging in den Flur, Lucy hörte das Öffnen der Haustür und die schweren Schritte eines Mannes. Die gedämpfte Stimme kam ihr vage bekannt vor, dann trat der Mann neben der Bäuerin ins Wohnzimmer. Es war der Kuttenträger mit der Axt!
Für eine Sekunde verweigerte Lucys Gehirn den Dienst. Sie verstand nicht, wie dieser Psychopath sich an diesem Ort befinden konnte. Er durfte nicht hier sein, dieses Haus war doch die Rettung! Lucy erwog, einfach die Augen zu schließen und darauf zu hoffen, dass dies ein Trugbild war. Oder dass gleich ein Polizist hinter dem Mann durch die Tür treten und ihn erschießen würde.
Doch als der Kuttenmann einen Schritt in ihre Richtung machte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie rollte sich vom Sessel, krabbelte auf allen Vieren um ihn herum und brachte so das Möbelstück zwischen sich und den Axtmörder. Dann schaute sie sich gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Hinter ihr war eine zweite Tür, die in einen Garten oder Hinterhof führen mochte. Mit einem verzweifelten Schrei kippte Lucy den Sessel nach vorne, dem Mann vor die Füße, dann rannte sie zur Tür, so schnell es ihr Knöchel zuließ. Die Tür war verschlossen, doch der Schlüssel steckte. Quälend lange Augenblicke fummelte Lucy daran herum, während ihr Verfolger den Sessel zur Seite warf. Dann war die Tür offen. Lucy stürzte hinaus und blieb mit offenem Mund stehen.
Sie fand sich in einem geräumigen Innenhof. Vor ihr stand eine Art Kutsche oder Fuhrwerk, dessen Ladefläche mit Sitzbänken bestückt war. Etwa ein Dutzend Menschen machte sich daran zu schaffen, sie schmückten den Wagen mit Blumenkränzen und Girlanden. Am Gestänge über den Sitzen befanden sich keine Planen, stattdessen hing dort ein großes Schild mit bunter Aufschrift: Village de Quercey. Zwei junge Burschen waren gerade dabei, eine zweite Tafel zu befestigen. Darauf stand in farbenfrohen Lettern: Vide-Grenier août 2016. Kisten mit Flohmarktwaren warteten darauf, auf den Wagen geladen zu werden, alle Anwesenden schwatzten angeregt und schienen in bester Feierlaune zu sein. Als sie das blut‑ und dreckverschmierte Mädchen auf den Hof stürzen sahen, hielten sie inne und starrten Lucy an.
„Hilfe“, sagte Lucy mit schwacher Stimme. „Aidez-moi!“ Die Leute sahen sie an, dann den Mann hinter ihr. Der gab in barschem Tonfall irgendein Kommando, auf das sich alle in Bewegung setzten. Sie kamen näher und bildeten einen Kreis um Lucy. Die schaute ungläubig in die eben noch lachenden, jetzt aber ernsten und abweisenden Gesichter. Mit flehend erhobenen Händen ging sie auf einen jungen Mann zu, doch der stieß sie zurück in die Mitte des Platzes. Die vorher so freundliche Bäuerin war hinzugetreten und stand mit verschränkten Armen da. Warum hilft mir denn keiner?
Der Kuttenträger löste sich aus der Runde und trat auf sie zu. Lucy versuchte zwischen zwei jungen Frauen, die am schwächsten aussahen, durch den Kreis zu brechen, doch sie wurde gepackt und zurückgeschleudert. Ihr Knöchel gab wieder nach und sie fiel auf das Pflaster.
Der Mann stand über ihr und schwang die Axt in die Höhe.
Lucy schloss die Augen.
„So, Lac de Quercey, von hier müssen wir zu Fuß weiter.“ Die drei jungen Männer schälten sich aus dem Kleinwagen, den sie am Rand des Sees geparkt hatten. „Der Cache ist noch zwei Kilometer weg“, rief Markus seinen Freunden zu, „aber ab hier geht's durch den Wald!“
„Hey, guckt mal, da hat einer versucht, sein altes Auto im See zu entsorgen“, meinte Tonio. „Ist aber nicht ganz untergegangen. Sind ja tolle Sitten hier.“
„Scheint gar kein Franzose zu sein, sondern ein Deutscher“, antwortete Frederik.
„Wie willst du das wissen? Der hat doch kein Nummernschild.“
„Aber der Aufkleber da an der Heckscheibe: Lucy an Bord. Auf Deutsch.“
„Na toll, und dafür fahren wir achthundert Kilometer? Aber egal, ab in den Wald! Ich hab so ein Gefühl, das wird der krasseste Cache von ganz Frankreich ...“