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Tag Zweitausendsechshundertzwölf
Aus der Entfernung betrachtet, zum Beispiel von der Erde aus, wirkt der Weltraum mystisch. Unendliche Weiten, unvorstellbare Welten, gigantisch und verheißungsvoll. Man muss sich nur in ein Raumschiff aus Phantasie setzen, die Zügel aus Träumen anziehen und schon ist man da. Im All, da draußen hinter den Grenzen der Vorstellungskraft, ist alles möglich.
Von Nahem gesehen verliert der Weltraum viel von seinem Reiz. Besteht das Raumschiff nicht aus Phantasie, die Zügel nicht aus Träumen, sondern aus tonnenweise Stahl, angetrieben von den neuesten Errungenschaften der Chemie, wird der Weltraum schnell zu dem, was er wirklich ist: ein unerträglich ödes Konglomerat aus Nichts und Schwerelosigkeit.
Zweitausendsechshundertundzwölf Tage Unendlichkeit. Sieben Jahre eingesperrt in einem Kokon aus Plastik und Metall. Keine Menschenseele in Reichweite, keine Abwechslung. Was für sie einst als spannendes Abenteuer zur Erforschung der eigenen Möglichkeiten begonnen hatte, war schnell zu einem stumpfen Vegetieren am Ende der Welt geworden. Weit hinter dem Ende der Welt.
Jane war der erste Mensch, der sich dem Neptun auf Sichtweite genähert hatte. Damals hatte ihr noch der Atem gestockt, als der majestätische Eisklotz zum ersten Mal in ihrem Sichtfenster auftauchte. Mittlerweile sah sie kaum noch hin.
"Major Hollis? Es wird Zeit für die Wartung der Sonnensegel. Soll ich einen Droiden schicken?" D-64, der Bordcomputer. Die künstliche Intelligenz mit ihrer Sprachausgabe war die einzige Gesellschaft, die Jane hier oben hatte. Vielleicht die letzte Grenze zwischen ihr und dem Wahnsinn.
"Danke, Hal, ich mache es selbst. Wie immer."
"Wie immer, Major. Natürlich."
...
früher.
"Dann erklär mir doch mal, wie zum Teufel sie dieses Klingonenschiff zum Fliegen gekriegt haben? Das war eine völlig fremde Technologie, die konnten ja nichtmal die Schriftzeichen lesen."
"Das konnten die Klingonen selber auch nicht, aber die hat das nicht gehindert, ihre Mühlen trotzdem zu fliegen."
"Mach dich nicht lustig. Das ist ein ernstes Thema. Und dann diese Sache mit den Walen. Also ich bitte dich!"
"Was denn? Das war witzig und hat gezeigt, dass die Serie sich selbst nicht allzu ernst..."
"Nein, das war eben nicht witzig. Der ganze Film war doch totaler Müll und der Anfang vom Ende einer Ära."
"Ach ja? Hat dir dieser Pathos der Vorgänger besser gefallen? 'Ich war es und werde es immer sein, Jim. Ein Freund.' Das war dämlich."
"Und dann zotteln die mit ihrem Raumschiff um die Sonne und landen in der Vergangenheit... meine Güte, so ein Unfug."
"Nicht Unfug, innovativ. Es hat die Reihe in ein ganz neues Bild gerückt."
"Ja, ein dämliches Bi..."
"Jungs, ihr beide seid der Grund, aus dem Normalsterbliche sich über uns Physiker immer lustig machen", unterbrach Robert den Disput seiner beiden Mitstudenten. Wissenschaftler sind generell friedliche Menschen, aber es gibt ein paar Themen, mit denen man sie lieber nicht alleine in einen Raum voller Baseballschläger lässt.
Robert war anders als die anderen. Keiner dieser Kellerstudenten, deren einzige Sonne im Leben aus einem Bildschirm strahlt. Jane hatte ihn an ihrem ersten Tag am MIT kennen gelernt und er war so etwas wie die rettende Boje im reißenden Strom dieser Pseudowelt gewesen. Hatte ihr alles gezeigt, ihr die wichtigen Leute vorgestellt, sie...
...
jetzt.
Meteoritenschrott aus den Solarzellen sammeln. Eigentlich eine Aufgabe für die Wartungsdroiden der Station, aber Jane brauchte die Abwechslung. Sie hing an den Sicherungsleinen, vor sich die Steuerungseinheit der Zellen, unter sich den Neptun, überall sonst gähnende Leere.
"Major Hollis? Ich habe hier eine Transmission von der Titan-Station"
"Hal, ich bin gerade beschäftigt. Erwarten sie eine Antwort?"
"Major Hollis, ich ziehe es vor, wenn Sie mich D-64 nennen. Der Film, auf den Sie anspielen, ist mir unangenehm. Es wird keine Antwort erwartet, da sich der Zeitrahmen auf die unmittelbare Zukunft bezieht."
"Wie meinst du das? Ich meine: Welcher Zeitrahmen genau?"
"Der Zeitrahmen betrifft die nächsten 28 Stunden."
"Spiel die Nachricht ab!"
...
früher.
"Du willst wohin?" Keine Aufregung in Roberts Stimme, keine Überraschung, der ruhige Tonfall des besonnenen Analytikers. Jane hatte ihn vor eine Situation gestellt und er akzeptierte sie.
"Neptun."
"Ich kann ja verstehen, dass du von mir weg willst, aber hätte es nicht auch Australien getan? Oder die Antarktis? Ich meine - Neptun?"
"Es sind nur drei Jahre. Zeit genug für dich, darüber nachzudenken, ob du lieber mit Rahel zusammen bist."
"Mit Rahel ist nie etwas gelaufen und das weißt du."
"Es ist mein Traum, Robert", sagte sie in sanfterem Tonfall. Ihr letzter gemeinsamer Abend, sie wollte keinen Streit, nicht schon wieder. "Du weißt schon, das All, unendliche Weiten. Mein Abenteuer, in Welten vorzustoßen, die nie zuvor ein Mensch betreten hat." Sie musste grinsen.
"Warum hast du mir nichts gesagt? Ich meine, du verschwindest morgen aus meinem Leben und gibst mir nicht einmal Zeit, mich von dir zu verabschieden." Einen Moment lang fiel seine Maske und sie konnte echte Emotion in ihm spüren. Nicht in seiner Stimme, in seinem Blick.
"Ich gebe dir einen Abend, Robert."
...
jetzt.
Sieben Jahre hatte sie nichts von ihm gehört und jetzt das.
Irgendeine Sonde hatte weit draußen im All etwas gefunden. Gläserne Kugeln, mehrere Kilometer im Durchmesser und absolut regelmäßig im Raum verteilt. Die Abstände zwischen ihnen jeweils exakt das Doppelte ihres Radius und von weitem betrachtet bildeten sie die Eckpunkte eines absolut regelmäßigen Ikosaeders. Viel zu gleichmäßig für eine zufällige Formation. Robert hatte den Auftrag erhalten, das Phänomen zu untersuchen, und Janes Raumstation war derzeit der äußerste Punkt menschlicher Zivilisation. Die letzte Tankstelle vor dem Nichts.
"Hal, bitte lass mich wieder rein."
"Bitte, nennen Sie mich nicht so, Major."
"D-64? Wärst du so nett, die Reparaturen mit einem Roboter auszuführen? Ich möchte nachdenken."
"In Ordnung, Major. Ich öffne die Luftschleuse. Wünschen Sie etwas Musik zum Nachdenken?" Hal wusste, was Jane jetzt brauchte. Er wusste es immer.
"Vielleicht irgendwas von Goldsmith. Ja, das wäre nett. Danke, D-64". Sie ließ sich in die Luftschleuse treiben, verriegelte sie von innen und machte sich auf den Weg in ihre Schlafkoje. Ihre Gedanken kreisten um ihren angekündigten Besucher und sie brauchte Zeit, sie wieder in gerade Bahnen zu lenken. Seit sieben Jahren hatte sie keinen Menschen mehr gesehen, und jetzt sollte ausgerechnet er der erste sein.
...
Und dann war soweit. Während die Steuerdüsen sich in dem von Hal choreografieren Tanz des Andockmanövers verloren, versuchte Jane, das Treiben möglichst unbeteiligt durch das Sichtfenster zu beobachten. Nur die Ruhe, nicht daran denken. Sieben Jahre sind eine lange Zeit, vermutlich würde er sie nicht einmal mehr erkennen.
Im Vergleich zu der Raumstation wirkte sein Schiff erstaunlich zierlich und zerbrechlich. Es mochte an ein Wunder grenzen, dass dieses hilflose Ding überhaupt so weit gekommen war. Hal koordinierte die Aktion mit übertriebener Sorgfalt und gab der Steuereinheit des Raumschiffes millimetergenaue Anweisungen. Man konnte die Erleichterung förmlich in seiner Stimme spüren, als er das erfolgreiche Andocken über die Lautsprecher meldete.
Jane schluckte und zwang sich erneut zur inneren Ruhe. Äußerlich gefasst gab sie Hal den Befehl, die Luftschleuse zu öffnen. Wasserdampf drang ihr entgegen und waberte dramatisch über den Boden der Station. Von hinten beleuchtet und durch den Nebel nur schemenhaft als Schatten wahrzunehmen, näherte sich Robert ihr.
"Ich komme in Frieden", intonierte er und hob die Hand. Mittel- und Ringfinger gespreizt. Dann ein Lachen. "Tut mir Leid, ich konnte nicht widerstehen."
"Du hast dich nicht verändert", sagte sie.
"Du auch nicht."
"Hast du... ich meine... wie geht es dir? Es ist lange her."
"Zu lange. Und zu wenig Zeit für Wiedersehensfreude. Ich habe strenge Zeitparameter."
"Ja, natürlich. Ich freue mich trotzdem, dich zu sehen."
"Andererseits war ich schneller als erwartet. Dadurch habe ich genug Zeit gewonnen und muss eigentlich erst morgen weiter. Wir haben also einen Abend."
Hier oben gehen die Uhren anders. Eine Sekunde bleibt eine Sekunde, aber sie vergeht langsamer. Es kommt nicht darauf an, wie schnell die Zeiger der Uhr sich bewegen, Zeit hängt davon ab, wie oft man auf die Uhr sieht. An diesem Abend sah niemand auf die Uhr und er dauerte ewig.
...
"Irgendein Doktorand fand heraus, dass die Muster, die die Kugeln als Antwort auf die Impulse der Sonde lieferten, sich als eine Art Maschinensprache nutzen ließen. Sie schrieben ein einfaches Primzahlensieb und ließen es auf einer der Kugeln laufen."
"Sie benutzten die Dinger als Taschenrechner?"
"Genau. Das Erstaunliche passierte, als sie ein verallgemeinertes Go-Spiel laufen ließen. Du erinnerst dich, dass es ein NP-Problem ist, also die Bearbeitungszeit explosionsartig ansteigt, wenn man mehr Eingabedaten vorgibt."
"Ja. Mit so einem Dreitagebart siehst du viel reifer aus."
"Die Computerleute sind fast geplatzt vor Aufregung: Kein exponentielles Wachstum der Laufzeit! Alle Ergebnisse kamen nach konstanten Antwortverzögerungen! Für die Kugeln gilt NP gleich eins!"
Irgendwann hatte Robert gesagt, dass er gehen müsse. Jane hatte im Vorfeld nicht erwartet, in diesem Moment ein Zeichen von Traurigkeit an ihm bemerken zu können, aber es war dennoch ein Stich, als es dann tatsächlich so kam. Keine Tränen, keine Abschiedszeremonie, nur eine kurze Umarmung und ein flüchtiger Kuss auf die Stirn. Und dann war er weg, verschwunden aus ihrem Leben.
Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass es so kommen würde. Robert war nie ein Gefühlsmensch gewesen, hatte sich nie sonderlich um solche Dinge geschert. Fakten und Forschung, das war immer sein Leben gewesen. Und so konnte sie es ihm nicht verdenken, dass er angesichts seiner zu erwartenden Entdeckung diesen Zwischenstopp nicht zu mehr werden lassen wollte, als unbedingt notwendig. NP gleich eins, das bedeutete theoretisch unendliche Rechenkapazität. Unendliche Datenmengen, unendliche Geschwindigkeit. Kaum auszudenken, wenn Robert es schaffen sollte, diese Technologie írgendwie nutzbar zu machen. Jane wusste das und dennoch tat es weh.
"D-64, bitte reaktiviere in 24 Stunden die Eigenrotation. Ich will etwas Gravitation."
"Major Hollis?"
"Ja, Hal?"
"Es ist schön, Sie wieder bei mir zu haben."
"Finde ich auch."
Jane ließ sich von der Schwerelosigkeit in ihre Kammer treiben. Robert war fort, die Erinnerung an ihn allgegenwärtig. Sie würde ihn vergessen, hatte es schon einmal geschafft. Sie dachte an die Kugeln. Unendliche Datenmengen, unendliche Möglichkeiten. Roberts Kugeln hatten die Größe kleiner Monde. Jede Lebensform wächst.
Während Jane sich von den beruhigenden Klängen aus den Lautsprechern sanft in den Schlaf wiegen ließ, dachte sie an die tischtennisballgroße Glasperle, die sie vor ein paar Jahren in den Servos der Sonnensegel gefunden hatte. Es war nicht einfach gewesen, ihre Funktion mit denen von D-64 zu koppeln, aber sieben Jahre Monotonie bieten eine Menge Zeit.
Goldsmith. Hal wusste genau, was Jane im Moment brauchte. Er wusste es immer.