Was ist neu

Taubenfänger

Seniors
Beitritt
15.01.2002
Beiträge
802
Zuletzt bearbeitet:

Taubenfänger

Taubenfänger oder
Down in a hole

Alles was ihm geblieben war, war ein Block und ein Stift. Da saß er nun, allein, in einem Loch und trauerte der Zeit nach, in der seine Umgebung grün und lebendig gewesen war. Das Loch war sandig, staubig, trocken. Es hatte nichts Lebendiges an sich. Überhaupt war das Loch sehr frustrierend. Das schrieb er auf ein Blatt: Das Loch ist frustierend. Jeder sollte es wissen. Er faltete das Blatt geübt zu einer Brieftaube und gab ihr einen kurzen Stoß. Die Taube machte sich gemächlich auf den Weg, krächzend, gurrend, schwer zu vertreiben wie ihre Stammesgenossen in der Fußgängerzone. Er fuchtelte mit dem Bleistift in der Luft herum und sie verschwand. Einige Meter über ihm rannten Menschen die Straße entlang, dann und wann schaute einer mitleidsvoll nach unten und ging anschließend weiter. Er hörte nur ihre Schritte, hörte wie sie kurz einhielten, um bald weiter zu eilen, doch das Mitgefühl schmeckte er süß auf seiner Zunge zergehen und schrieb eine kurze Zeile auf das nächste Blatt.
Wie war er hier hingekommen? Nun, das wusste er selber nicht so genau. Dennoch war er sich sicher, dass man ihn gestoßen hatte, angerempelt. Jemand hatte dieses Loch nur für ihn ausgehoben. Jemand wollte, dass er hier unten sitzen musste, für ewig verdammt, mit Block und Stift. Das Loch war Alles. Er hasste das Loch.
Eine neue Taube torkelte ins Freie, ließ sich auf einem von Kaugummi beklebten Pflasterstein nieder und plusterte ihr Gefieder auf, halb gelangweilt, halb beleidigt, sicher in der Erwartung, aufgehoben, entfaltet und weggeworfen zu werden. Alle Tauben, die er faltete sahen gleich aus und hatten das gleiche Schicksal. Genauso gleich, wie sie ihm waren. Er bekam nicht mit, was mit ihnen geschah. Er sah sie nur durch die Luft schweben und achtete darauf, dass sie ja den Rand des Loches erreichten und nicht in einer Fuge stecken blieben. Es wäre schade gewesen um das schöne Papier. Er betrachtete den Block. Das Papier war nicht schön, nein. Wenn er es sich recht ansah, war es sogar sehr hässlich, nicht weiß, sondern grau-braun, die Ecken schienen verknickt, angerissen. Und er musste darauf schreiben. Ohne das Loch wäre alles anders gekommen. Doch was mit ihm geschah war allen egal. Er blinzelte dem Lichtschein entgegen und hob drohend seine geballte Faust. Mein Leben ist die Hölle und ihr seid schuld daran, dachte er, und schrieb es auf ein blankes Stück Papier.
Als er gerade damit beschäftigt war, das Blatt zu einer Origamitaube zu falten, fiel das Ende einer Strickleiter stumm auf den schmutzigen Boden vor ihm. Misstrauisch betrachtete er die geknoteten Stricke mit den Holzsprossen. Bilder gingen ihm durch den Kopf. Er sah sich die Leiter hochklettern, Block und Stift unter den Arm geklemmt, hinaussteigen vor hunderten von Leuten, alle mit einer säuberlich gefaltenden Taube in der Hand und einer Träne im Gesicht. Langsam kletterte er aus dem Loch hinaus, das gar nicht so tief war, wie er es haben wollte. Oben angelangt lugte er vorsichtig über den Rand. Aber da war niemand, außer Menschen, die vorbeiliefen und Autos, die vorbeifuhren. Eine Papiertaube kreiselte langsam vor ihm nieder und entfaltete sich. Kein Weg führt nach oben, stand darauf geschrieben. Die Straße sah hart und unbarmherzig aus und nur kleine grüne Unkrautstengel reckten ihre Köpfe mutig in den kalten Wind. Der Sand dagegen wirkte warm und schenkte Geborgenheit. Unten angekommen zerrte er an der Leiter, bis die Stricke rissen. Die Leute haben keine Ahnung, was es bedeutet in einem Loch zu sitzen. Schrieb´s und warf´s in die Luft. Doch die Taube hatte nicht mehr genug Muße bis an das Ende des Loches zu flattern und so nistete sie sich in einer Nische zwischen den herabhängenden, gerissenen Stricken ein und baute sich ein Nest. Zu ihr gesellten sich die folgenden Tauben, dass es bald eine ganze Kolonie war, die fröhlich gurrend auf den übrig gebliebenen Sprossen saß und gar nicht daran dachte hinaus zu fliegen, um gelesen und in den Rinnstein geworfen zu werden. Ihre Kinder flogen in die Freiheit und weit über die Dächer der Stadt, doch waren sie immer unbeschrieben.

 

Hi Frederik,
Ich fand deine Geschichte ziemlich gut. Man konnte viel hineininterpretieren und sie ließ sich gut lesen. Nicht verstanden habe ich den Schluß

Langsam kletterte er aus dem Loch hinaus, das gar nicht so tief war, wie er es haben wollte. Oben angelangt lugte er vorsichtig über den Rand.
und dann
Unten angekommen zerrte er an der Leiter, bis die Stricke rissen.
War er jetzt draussen und ist wieder runtergekrabbelt?

 

Spannend, interessant, bildhaft und in der Tat seltsam.
Das Loch scheint mir eine Metapher für eine niedrige gesellschaftliche Stufe zu sein, dazu passen die Tauben, die (soweit es Stadttauben betrifft) auch kein hohes Ansehen besitzen. Der Prot sitzt in der Tinte, versucht seine Umgebung zu kontaktieren, lehnt aber die ihm angebotene Hilfe (die Strickleiter) ab. Soweit glaube ich es begriffen zu haben - das Ende mit den Tauben ist mir dann aber zu hoch.

Eine Kleinigkeit: Da saß er nun, allein, in einem Loch und trauerte der Zeit nach, in der seine Umgebung grün und lebendig war. -> gewesen war.

Fazit: sprachlich gut, inhaltlich gut erzählt, aber nicht leicht zu entschlüsseln.

Uwe
:cool:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hm, ich denke, anders als Uwe, dass das Loch kein "soziales" ist, sondern die selbstgewählte Isolation eines "Dichters".
So unzufrieden scheint er mit seiner Situation nämlich gar nicht zu sein:
>>"doch er schmeckte das Mitgefühl süß auf seiner Zunge zergehen"
Und später: "Der Sand dagegen wirkte warm und schenkte Geborgenheit."

Für mich ist der Prot ein möchtegern-Dichter, der aus seinem Elfenbeinturm, hier negativ als Loch dargestellt, über seine ach so traurige Lage herzieht, obwohl es den anderen auch nicht besser geht, wie er ja später selbst sieht.

Dass er eigentlich nur auf das Mitleid der anderen aus ist, wird hier klar: "alle mit einer säuberlich gefaltenden Taube in der Hand und einer Träne im Gesicht"
Ihn treibt also kein sozialer oder finanzieller Neid an, sondern sein Mitleidsbedürfnis.

Als er dann sieht, dass es den anderen auch nicht besser geht, da oben, dass sie sozusagen auch "in einem Loch" leben, schreibt er, dass sie gar nicht wüssten, wie das Leben in einem Loch ist.
Der Satz ist zweideutig: Einerseits kann er heißen, dass die anderen den Prot nicht verstehen, andererseits steckt auch die Erkenntnis drin, dass die Leute, selbst wenn sie auch "in einem Loch" leben, ihr Leben so nehmen wie es ist und nicht nörgeln ;)

Da ist der Schluss nur logisch: Die unbeschriebenen Tauben schaffen es in die Freiheit, weil sie nicht mit den Sorgen des Prots belastet sind.

"widerwillig zu vertreiben" in der Satzkonstruktion stimmt was nicht, die Tauben sind vielleicht schwer zu vertreiben und fliegen nur widerwillig weg, aber so gibts keinen Sinn.

P.S: Spielt der zweite Titel auf den gleichnamigen Song von Alice in Chains an? Läuft bei mir übrigens auch öfters im Hintergrund :)

Gruß
Christoph

 

Hallo ihr drei und danke für eure prompten Rückmeldungen.

War er jetzt draussen und ist wieder runtergekrabbelt?
Er war nicht draußen. Wird das konnotiert? Ich les es mir noch ein paar Mal durch und überleg mir dann, ob ich was ändere.

christoph und Uwe, ihr seid eigentlich ganz gut dran an der Intention. Die Kinder der Tauben haben keine sonderlich große Bedeutung (also nicht, dass sie unbedeutend sind, aber sie stehen weitab von den zentralen, wichtigen Punkten), also lasst dieser Stelle nicht zuviel Aufmerksamkeit zukommen.

Die angesprochenen Textstellen und noch ein paar, die mir aufgefallen sind, habe ich bereits editeirt, danke für die Hinweise. "widerwillig zu vertreiben" ist wirklich ziemlich falsch.
Der zweite Titel kommt übrigens tatsächlich von Alice in chains, auch wenn der Song damit nicht wirklich etwas zu tun hat. Ich mag den Klang der Worte, die (auch wenn suie englisch sind) sehr treffend zu der Geschichte passen. Taubenfänger ist eine Annährung an "Bauernfänger" aber in der analogen Translatation funktioniert der Begriff nicht (denn es werden nicht die Tauben "gefangen" sondern mehr oder weniger nur diejenigen, die Mitleid spenden)

Erstmal danke für eure Meldungen.
Liebe Grüße
Frederik

 

Hallo Fred!

Wolkenkind und Uwe haben schon viel geschrieben, was ich mir ebenfalls gedacht habe… Ob Dichter oder soziale Unterschicht, ist allerdings für den text nicht wirklich wichtig, würde ich sagen. Es kann um viele Menschen in verschiedenen Situationen gehen… einmal im Loch, schieben sie anderen die Schuld für ihre Situation zu, tun nichts, um sich selbst zu helfen. Und wenn ihnen Hilfe angeboten wird, nehmen sie sie nicht an. Sie bleiben in ihrem Loch, auf das Mitleid anderer hoffend, weil es bequemer ist zu sitzen und bemitleidet zu werden, weil es ihnen eine Art selbstgerechte Erfüllung gibt. Die Sache mit den Tauben würde ich so sehen wie Wolkenkind, nur die unbelasteten können fliegen, entdecken, leben. Die alten werden von den Gedanken zu Boden gedrückt und können nicht frei sein.
Sprachlich finde ich Deinen Text ausgezeichnet, es sind mir keine Holperstellen aufgefallen, tut mir leid. :D

Schöne Grüße
Anne

 

Hallo Frederik!

Ich finde die Geschichte sehr schön geschrieben.

Für mich stellt das Loch eine Depression dar - so, wie ich es auch in Das negative Trampolin schon verwendet habe. - Daß Dein Protagonist lieber in seinem Loch bleibt, das find ich schade...

Hier würd ich zwei Beistriche machen:
"Doch die Taube hatte nicht mehr genug Muße, bis an das Ende des Loches zu flattern, und so ..."

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke ihr beiden für die Rückmeldung.

Daß Dein Protagonist lieber in seinem Loch bleibt, das find ich schade...
...wie wir es so oft machen im Leben. Ein Hapy End wäre utopisch gewesen.
Warum ich Beistriche verwenden soll, leuchtet mir nicht ein. Kannst du mir das erklären?

 

Nein, von sollen hab ich nicht gesprochen, ich hab gesagt, ich würde. - Soviel ich auswendig weiß, ist das eine Kann-Bestimmung, aber ich schau jetzt nicht nach. ;)

 

Mahlzeit Fred,
hab schon ´ne ganze Weile vorgehabt, mal was von dir zu lesen. Dein Taubenfänger ist mir schon fast zu kryptisch. Alles, was ich nicht beim zweiten Mal lesen verstehe, ist mir nichts...
Ich hab die anderen Kritiken nachgelesen, und die dortigen Interpretationen decken sich schon mit meinen Ansätzen, aber einige Elemente (Weg der Tauben ind ie Freiheit!) bleiben mir unverständlich.
Naja, so ist das Leben.
Stilistisch ist deine Geschichte grundsolide, sieht man von den Stellen ab, die ich unten aufführe und die du noch verbessern könntest.
So, bis denne!
...para


*+++~~~+++~~~+++~~~+++~~~+++~~~+++*

Überhaupt war das Loch sehr frustrierend.
:D

Das Loch war sandig, staubig, trocken. Es hatte nichts Lebendiges an sich. Überhaupt war das Loch sehr frustrierend. Das schrieb er auf ein Blatt: Das Loch ist frustierend. Jeder sollte es wissen. Er faltete das Blatt geübt zu einer Brieftaube und gab ihr einen kurzen Stoß. Die Taube[7b] machte sich gemächlich auf den Weg, krächzend, gurrend, schwer zu vertreiben wie ihre Stammesgenossen in der Fußgängerzone. Er fuchtelte mit dem Bleistift in der Luft herum und sie verschwand. Einige Meter über ihm rannten Menschen die Straße entlang, dann und wann schaute einer mitleidsvoll nach unten und ging anschließend weiter. Er hörte nur ihre Schritte,

Da schleicht sich eine gewisse Monotonie in die Satzanfänge ein.

Dennoch war er sich sicher, dass man ihn gestoßen hatte, angerempelt. Jemand hatte dieses Loch nur für ihn ausgehoben.
"anrempeln" verbinde ich eher mit zufälligen berührungen, z.B. in der Fußgängerzone.

Das Loch war Alles.
Heißt es nicht "alles"?

Alle Tauben, die er faltete sahen gleich aus und hatten das gleiche Schicksal. Genauso gleich, wie sie ihm waren.
Bezieht sich das "gleich" im zweiten Satz nicht auf das "gleich aussehen" anstatt auf das "gleiche Schicksal"?
Und: mich stört, dass du nach "faltete" kein Komma setzt.


Er bekam nicht mit, was mit ihnen geschah. Er sah sie nur durch die Luft schweben und achtete darauf, dass sie ja den Rand des Loches erreichten und nicht in einer Fuge stecken blieben. Es wäre schade gewesen um das schöne Papier. Er betrachtete den Block. Das Papier war nicht schön, nein. Wenn er es sich recht ansah, war es sogar sehr hässlich. Es war nicht weiß, sondern grau-braun, die Ecken schienen verknickt, angerissen. Und er musste darauf schreiben. Ohne das Loch wäre alles anders gekommen. Doch was mit ihm geschah war allen egal. Er blinzelte dem Lichtschein entgegen
s.o.

Als er gerade damit beschäftigt war, das Blatt zu einer Origamitaube zu falten, fiel das Ende einer Strickleiter tonlos auf den schmutzigen Boden vor ihm.
Warum tonlos?

hinaussteigen vor hunderten von Leuten, alle mit einer säuberlich gefaltenden Taube in der Hand und einer Träne im Gesicht. Langsam kletterte er aus dem Loch hinaus, das gar nicht so tief war, wie er es haben wollte. Oben angelangt lugte er vorsichtig über den Rand. Aber da war niemand
Schöner Kontrast

Die Leute haben keine Ahnung, was es bedeutete in einem Loch zu sitzen. Schriebs und warfs in die Luft.
Tempus: "bedeutete"?
Komma überflüssig?
Apostrophen bei "Schriebs und warfs"?

Anführungszeichen sind mE nicht zwingend notwendig, auch wenn ich sie prinzipiell lieber habe.

 

Hallo Steffen

Jetzt habe ich sie endlich mal gelesen, deine Kritik. Schade, dass die der Text zu kryptisch ist. Ich hab mir die Kritiken nochmal durchgelesen. Wolkenkind hat im Prinzip alles drin, was der Text braucht.

Zu deinen Anmerkungen:

Die Monotonie ist tatsächlich gewollt. An einigen Stellen, werde ich evtl. eine Inversion benutzen, aber der Großteil wird stehen bleiben. Das liegt hauptsächlich darin, dass der third-person-view Erzähler teilweise auch auctorial ist und den Schreibstil mit der Gefühlslage verknüpfen soll.
Mit "anrempeln" wollte ich genau das erreichen, was du interpretierst: Eine Bewegung in der Fußgängerzone, in der nicht ganz klar wird, ob sie nun beabsichtigt war oder nicht.
Die Großschreibung von "alles" habe ich verwendet, um sie als abgeschlossenes System zu instrumentalisieren bzw. substantivieren (so wie das All).

Die anderen Bemerkungen werde ich mir gleich nochmal durchschauen und korrigieren. Danke auf jeden Fall, dass du dich diesem vielleicht etwas seltsamen Text angenommen hast.

Liebe Grüße und man sieht sich
Frederik

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom