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Taucher
Taucher
„Vor allem aber keine Gewalt, hörst Du Ennio? Ich möchte das nicht.“
Ennio und Alessio sehen eine Doku über Bangkok. Thaimädchen tänzeln in geblümten Blusen und mit Kettchen an den Füßen in ein Buddha-Heiligtum. Auf dem Marktplatz schütten Streetfood-Akrobaten ihren Tee von einer Kanne in die andere. Der Reporter findet, dass das nicht nur großartig aussieht, sondern sich auch geschmacklich auswirkt: „Dieser Tee ist“ – der Reporter schlürft aus dem Becher und schmatzt, dann sucht er nach dem richtigen Wort – „eine Explosion auf dem Gaumen!“, ruft er in die Kamera.
Das ist der Moment, in dem Ennio von der Couch aufsteht und sich ein neues Bier holt. Als er wiederkommt, zeigen sie einen Schatztaucher, wie er sich morgens von seiner Frau und seinen vier Kindern verabschiedet, die nach Größe aufgereiht in der Küche stehen. Man sieht ihn, wie er seine ärmliche, aber saubere Holzhütte verlässt, wie er am Heck eines Holzbootes hockt, die Hand am Außenborder und zusammen mit seinem Begleiter den Chao Phraya hochtuckert. Eineinhalb Stunden brauchen sie für diese Fahrt. Im Zentrum der Stadt angekommen, werfen sie den Anker aus und der Taucher reckt seinen messingfarbenen Helm in die Kamera. Er sagt, dass er diesen Helm selbst gebaut hat.
„Der Helm“, sagt er, „ist mein Ein und Alles.“
Der Helm sieht scheußlich aus, findet Ennio, ein klobiges und furchterregendes Teil, aber er bewundert den zierlichen Körper des Asiaten, den kugeligen Bizeps, kein Gramm Fett zu viel. Die Kamera folgt dem Taucher nur den ersten halben Meter unter die Wasseroberfläche. Dann verschwindet der Taucher in der undurchsichtigen Brühe des Flusses. Die Augen nutzen ihm nichts hier unten. Seine Schätze muss er tasten, fünfzehn Meter tief am Grund des Flusses. An Deck erzählt unterdessen der Begleiter, dass er darauf achtet, dass sie nicht mit anderen Booten kollidieren. Er warnt den Taucher, wenn die Polizei kommt, denn die Schatzsuche im Fluss ist nicht ganz legal. Und er passt auf, dass der Luftschlauch nicht abknickt.
Bei Gott, denkt Ennio, als die Kamera auf den dünnen, unscheinbaren Schlauch hält, der sich über den Rand des Bootes schlängelt. Jetzt versteht er die Gebetsrituale vor dem Tauchgang.
Ennio und Alessio essen Kartoffelchips. Das ist ein Verstoß gegen die Regeln, die Alessios Mutter aufgestellt hat für die Zeit, die er bei seinem Vater ist. Aber Ennio weiß, dass sein Sohn keine Gemüsechips isst, er braucht es gar nicht zu versuchen, er mag sie selber nicht, auch wenn sie zehnmal gesünder sind als Kartoffelchips. „Pass doch auf, wo Du hin krümelst“, sagt er. Ohne die Augen vom Bildschirm zu lassen hebt Alessio die Hand und darunter liegt ein Kartoffelchip-Mosaik. Ennio klaubt die Krümel vom Stoffbezug und wischt mit den Fingern über die Stelle, da sieht er auch einen Schatten von Fett. Ihm wäre das eigentlich egal, das bisschen Dreck, die paar Krümel. In der Zeit nach der Trennung, diesen schweren und dunklen Monaten, gab es immer wieder einmal Augenblicke kurzen Glücks, wenn er sich seiner neuen Freiheit bewusst wurde. Er konnte wieder in Bierdosen aschen, das Geschirr tagelang stehen lassen und beim Masturbieren im Bett auf das Taschentuch in der anderen Hand verzichten. Aber seit einigen Wochen hat er eine Freundin, die sehr reinlich ist.
Er überlegt, ob er noch Fleckentferner im Haus hat, dieses kleine grüne Fläschchen, und ob der bei Fettflecken hilft.
Sie zeigen den Taucher, wie er nach einer Stunde der Schatzsuche mühsam die Reling erklimmt. Sein Begleiter nimmt ihm den Helm ab und gemeinsam ziehen sie aus dem Beutel des Tauchers zwei Teetassen und einen Napf mit abgebrochenem Rand. „Die Teetassen stammen aus der chinesischen Zeit“, sagt der Taucher, „sie sind über 80 Jahre alt.“ Er ist sehr zufrieden mit seiner Ausbeute und als er lacht, sieht man seine schlechten Zähne. Er erzählt, dass er heute Abend die Tassen bei Facebook zum Verkauf stellen wird und vom Erlös seine Familie ein, zwei Wochen ernähren kann. Er ist ein erfolgreicher Mann, sagt er, er weiß, was seine Kunden wünschen und er geht mit der Zeit. Er sagt: „Ein Mann, der immer tugendhaft ist, verdient sich sein Glück.“ Dann küsst er seinen Helm.
Alessio ist fasziniert von dem Taucher. Das ganze Wochenende über malt er Bilder von ihm: Ein Mann an einem Faden, der durch Landschaften aus Wracks schwebt.
Am Sonntagabend, Alessio ist wieder bei seiner Mutter, bezieht Ennio das Bett frisch, in dem er und sein Sohn gelegen haben. In seinem eigenen Zimmer, das Ennio für ihn eingerichtet hat, mag er nie schlafen. Ennio drückt seine Nase in das Kopfkissen seines Sohnes und genießt mit Wehmut den Geruch, den das Gesicht seines Kindes, seine Haare, hinterlassen haben. Dann entschließt er sich, die Bilder aufzuhängen, die Alessio gemalt hat. Der Entschluss verlangt ihm etwas ab. Er weiß nicht, wie seine Freundin auf die Zeichnungen reagiert, ob sie die Bilder über dem Bett als Einbruch in ihre Zweisamkeit empfinden wird, ob sie überhaupt irgendetwas sagt und nicht nur komisch schauen wird. Er steckt jedes der Bilder mit einer Heftzwecke in die Wand. Die Ecken wellen sich ein wenig, aber das stört Ennio nicht.
Er betrachtet die schwebenden Figuren über seinem Bett und unwillkürlich atmet Ennio tief ein, bis auf den tiefsten Grund seiner Lungen.