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thanatos
Daniel schloss die Augen und bemühte sich, die Gestalten nicht wahrzunehmen, die hinter seinen Liedern lauerten.
Ich bilde mir das alles nur ein, ermahnte er sich. Ich bin ein Mensch, keine Figur aus einem verdammten Horrorfilm.
Er versuchte, sich auf Doktor Wallmichrath zu konzentrieren. Wie er in dem weißen Kittel vor ihm stand. Das grau-melierte Haar, das nahtlos in den Bartansatz überging.
Könnte er Daniel jetzt sehen, er würde seine Brille zu Recht rücken und dieses Lächeln aufsetzen, das Mitgefühl vermitteln sollte. Er würde mit der rechten Hand versuchen, den viel zu kurzen Bart zu zwirbeln, und ihn anschauen.
„Was denken Sie, woher Ihre Wahnvorstellungen kommen?“, würde er fragen.
Daniel schnaufte. Nein, die Gespräche mit ihm brachten nichts.
„Sie wären nicht hier, wenn sie unsere Gespräche nicht wirklich bräuchten, mein Freund. Was denken Sie, was ihre Frau Ihnen raten würde?“
Daniels Kopf zuckte zurück, als wäre er geschlagen worden, doch er tat, als überhörte er die Stimme.
Normalerweise schaffte es sein Bild, ihn abzulenken, wenn der Wahnsinn nach ihm griff.
„Das ist sehr gut“, würde Dr. Wallmichrath kommentieren und eine Notiz auf das Klemmbrett kritzeln.
„Nehmen Sie als Realitätsanker, was auch immer Ihnen hilft.“
Aber manchmal machte er es nur schlimmer.
Daniel öffnete die Augen. Er knipste die Nachttischlampe an und die Dämonen wichen in die Schatten der Möbel zurück.
Er fühlte sich alt. Er betrachtete seine Hände, die nicht mitbekommen hatten, wie alt sie sein sollten. Sie sahen aus wie die Hände des jungen Mannes, der er vor einigen Wochen noch gewesen sein musste. Doch was hatte er jetzt mit diesem gemein außer den Händen, die vergessen hatten zu altern?
Er sprang aus dem Bett. Seine Glieder verlangten nach Bewegung.
Daniel bemühte sich, nicht zu denken, und ging hinüber ins Bad. Das weiße Licht der Lampe strahlte zu grell für seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Mit gesenktem Blick durchquerte er das Bad bis zum Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich kalte Tropfen ins Gesicht.
Das Wasser ließ er laufen, beruhigte sich langsam durch das Plätschern, während er sich mit den Armen am Waschbecken abstützte.
Endlich gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit, er stellte das Wasser ab und hob den Kopf.
Daniel hätte geschrien, wenn ihm die Stimme nicht versagt wäre. Er starrte mit aufgerissenem Mund in den Spiegel, aus dem heraus ihn eine faulige Fratze voller Narben und aufgerissener Wunden fixierte. Daniel wich einen Schritt zurück. Sein Herz raste. Sein Körper sonderte Wellen von Schweiß aus.
Er zwang sich tief einzuatmen und seinen Blick von dem Spiegel zu nehmen. Er hatte diese Momente so oft in den Therapiesitzungen geübt.
Denk an Doktor Walmichrath, ermahnte er sich. Seine Hände riechen nach Seife, seine Mundwinkel sind immer ganz trocken, weil er zu viel raucht und zu wenig trinkt.
Mit jedem Detail beruhigte er sich mehr. Schließlich zwang er sich dazu, wieder in den Spiegel zu schauen.
Sein Herz stolperte, hielt kurz inne und schlug dann beruhigt weiter. Sein normales Gesicht blickte ihm entgegen. Ein wenig blass, mit tiefen Augenringen, aber glatt und unbeschadet.
Mit zittrigen Beinen ging er zurück ins Schlafzimmer. Der Wecker strahlte ihm eine rote Vier entgegen. Daniel drehte ihn um und seine Hand stieß gegen den umgeklappten Bilderrahmen. Kurz verharrte er, spürte die Versuchung, doch dann zuckte der Arm zurück. Er hatte es nicht über sich gebracht auch nur ein Foto von ihr fort zu räumen, aber sie anzusehen schien unerträglich.
Ich muss schlafen, dachte er. Hastig zog er den nassgeschwitzten Schlafanzug aus und setzte sich auf die Matratze, die unter seinem Gewicht nachgab. Er nahm zwei der Schlaftabletten und schluckte sie ohne Wasser hinunter.
Dann knipste er das Licht aus und legte sich hin.
Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er betrachtete das Rot-Schwarz hinter seinen Liedern. Spürte den weichen Stoff auf der nackten Haut. Beobachtete, wie sein Atem kam und ging.
„Daniel.“
Daniel zuckte zusammen. Er kannte diese Stimme. Beinahe besser als seine eigene.
„Daniel.“
Er erwischte sich dabei, wie ihn der vertraute Klang tröstete.
Doktor Walmichrath, dachte er. Welche Farbe haben seine Augen?
„Sieh mich an!“
Noch bevor Daniel weiter über die Augenfarbe des Doktors grübeln konnte, roch er den Rosenduft. Sofort vergaß er alles andere. Er öffnete die Augen. Im dunklen Raum stand eine Frau. Daniel war sich nicht sicher, ob das Kribbeln in seinem Bauch von ihr kam oder ihm einfach nur übel war.
„Komm zu mir“, flüsterte sie.
Daniel kletterte aus dem Bett und ging auf sie zu. Mit jedem Schritt sah er sie deutlicher, bis er glaubte, sie berühren zu können.
Sie lächelte.
„Aber du bist-“
„-tot? Was macht das jetzt?“
Sie küsste ihn wie damals. Erst suchten ihre Lippen zögernd, zurückhaltend die seinen. Mit einem Mal zog sie ihn zu sich. Der Kuss wurde immer heftiger, bis er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
Es roch nach feuchtem Moos. Ein kühler Wind trug die Erinnerung an Regen mit sich.
Als er die Augen öffnete, stand er in dem Wäldchen, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
Er löste sich von ihr und sah sie an. Sie war wunderschön, wie sich das braune Haar über ihre Schultern ergoss und ihr schmales Gesicht einrahmte.
Er konnte nicht anders. Er musste sie berühren. Musste sich vergewissern, dass sie da war.
Daniel streckte seine Hand aus, spürte aber nur die kalte Luft. Er versuchte es erneut, aber als er sie eigentlich hätte berühren müssen, verschwamm sie in der Luft.
„Ich liebe dich, Lil.“
Sie lächelte und schaute ihn an.
Ruckartig verzerrte sich ihr Gesicht zu abscheulichen Grimassen. Es stank modrig.
Dann war sie wieder da. Es passierte so schnell, dass er dachte, es müsse ein Trugbild gewesen sein. Allein der Geruch nach faulenden Blumen blieb.
Ihre Augen weiteten sich.
„Wir haben keine Zeit mehr“, flüsterte sie.
„Lauf!“
Sie löste sich auf und mit ihr auch der Wald.
Daniel stand auf einer Straße in dem ersten Grau des anbrechenden Tages. Er wusste nicht, wo er sich befand oder wohin er sollte, doch er rannte ihren Schrei noch immer im Ohr.
Sein Herz raste und ließ das Blut pochend gegen seinen Adamsapfel schlagen. Bald war er wieder nass geschwitzt. Er blieb nicht stehen. Sah sich nicht um.
Doch vor ihm endete die Straße so abrupt, als hätte ein Riese ein Stück aus ihr herausgebissen. Er hielt schlitternd an. Der Wind fegte ihm kalt entgegen. Gänsehaut legte sich über seinen nackten Körper wie ein kratzender Umhang.
Daniel konnte nicht weiter. Er drehte sich um, sodass er den Abgrund im Rücken hatte, und spähte in die schwächer werdende Dunkelheit. Um ihn herum erstreckte sich Ödnis.
Ein wildes, kaltes Lachen durchbrach die Stille und vermischte sich mit seinem rasenden Herzschlag. Scheinbar von überall her kommend, wurde das Lachen lauter und wieder leiser, nur um dann wieder lauter zu werden, wie ein Radio, das vergeblich nach dem richtigen Sender suchte.
Die vereinzelten Bäume streckten ihre Arme zielstrebig in seine Richtung und griffen nach ihm.
Daniel wich zurück. Steine lockerten sich unter seinen Füßen und fielen klackernd in den Abgrund hinab.
Das Lachen verebbte langsam, wurde leise und beinahe sanft.
Am Ende der Straße sah Daniel eine Gestalt näherkommen.
Endlich erkannte er eine Frau in einem eng anliegenden, bodenlangen Kleid. Die Farbe war unmöglich auszumachen, es wirkte durchsichtig auf der hellen Haut.
Sie kam so schnell näher, dass er sie plötzlich genau sehen konnte. Sie erinnerte ihn an Lilly. Ebenso feine Gesichtszüge, aber schrecklich entstellt. Die Haare hingen in dicken, sich kräuselnden Tentakeln herab. Ihre Augen waren schwarz ohne jede Pupille und ihr Körper mit feinen Narben übersät.
Ihm wurde bewusst, dass er sie angaffte. Er wollte den Kopf abwenden, doch sie hielt seinen Blick gefangen.
Daniel bekam kaum noch Luft. Ihm wurde schwindelig und sein Magen verkrampfte.
Noch im selben Moment bekam er eine Erektion. Er wollte nicht mehr fliehen. Er wollte sich dieser fremden Frau zu Füßen werfen. Er wollte ihr auf ewig dienen.
Und er hasste sie dafür.
Alles hätte er für ein Schwert gegeben, das er ihr tief in den Leib rammen konnte.
Sie lächelte, als hätte sie seine Gedanken gehört.
Daniel versuchte zurück zu lächeln, aber seine Gesichtsmuskulatur versagte ihm den Gehorsam.
Ihr Lächeln wuchs und wuchs. Wurde zu einem Grinsen. Zerrte ihr Gesicht auf, bis sie nur noch aus diesem Grinsen zu bestehen schien. Ihre Zähne waren nadelspitze Zacken in der klaffenden Wunde, die einst ihr Kopf gewesen war.
Daniels Blase entleerte sich. Er bemerkte es kaum.
Sie bewegte sich nicht, doch ein Stoß in den Magen und der Schmerz in seinem Penis ließen Daniel rückwärts taumeln. Er verlor den Boden unter seinen Füßen und schrie. Der Wind peitschte ihm jetzt ins Gesicht und der Schmerz in seinem Genital nahm unermessliche Ausmaße an.
„Lassen Sie sich nicht von Ihren Wahnvorstellungen beherrschen.“
Fester Boden unter seinen Füßen. Zwei Schweinwerfer und ein verzweifeltes Hupen.