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Tränen aus Wachs
Tränen aus Wachs
Buntgefärbte Blätter tänzeln vor meinen Augen. Es ist kühl und ich genieße die herbstlichen Sonnenstrahlen, die durch die Baumkrone der mächtigen Kastanie zu uns herab blinzeln.
Gestern habe ich ihre braunen Früchte eingesammelt. Nur die schönsten. Für dich. Für dich allein.
Als Kind hast du aus ihnen mit mir Tiere und Männchen gebastelt. Wir haben sie im ganzen Haus verteilt. Irgendwann, nach Monaten dann sind sie vertrocknet und wir haben neue Figuren gebaut aus frischen Kastanien, die wir zusammen aufgesammelt haben. Weißt du noch?
Du willst nicht reden? Nun gut, ich spreche für uns beide. Nicht wirklich. Nur tief in mir drin. Dort bewerfe ich dich mit tausend Fragen, bis ich eine Antwort bekomme. Von dir.
Ich liebe dich. Ist dir das klar?
Jede freie Minute verbringe ich mit dir. Schweigend. Die Ärzte und Schwestern in ihren weißen Jacken und Schürzen gehen ebenso schweigend an uns vorbei. Sie beobachten dich. Ich weiß es. Wir könnten jetzt zu Hause sein. Unser Heim, in dem wir immer miteinander glücklich waren. Zusammen.
Aber das wolltest du ja nicht mehr. Es ist deine Schuld, dass wir nun getrennt sind. Wir sitzen unter dem friedlichen, alten Baum und warten darauf, dass der Winter kommt. Zumindest ich warte darauf.
Du liebst den Winter. Der reine Schnee, der auf deiner Zunge schmilzt. Der kalte Wind, der dir die funkelnden Tränen in die Augen treibt. Keine traurigen Tränen. Wir haben gelacht und uns mit unzähligen Schneebällen beworfen, die im Flug das Sonnenlicht einfingen und glitzerten. Schneeengel in das unschuldige Weiß gezaubert. Solange, bis die Kälte unsere Gesichter in leuchtendes Rot getaucht hatte. Erst dann gingen wir zurück in unser Haus, wo heißer Kakao auf uns gewartet hatte.
Warum schweigst du noch immer? Sprich mit mir, bitte. Liebst du mich nicht mehr? Oder liebst du mich so sehr, dass du mir nicht erzählen kannst, was dich bewegt?
Dein schwarzes Haar bewegt sich mit dem Wind. Ihn kann ich hören - dich nicht.
Du trägst die Strickjacke, die dir Mutter zu Weihnachten geschenkt hat. Du hast die Wolle dafür selbst ausgesucht. Lindgrün ist sie. Deine Lieblingsfarbe. Mutter hat lange danach suchen müssen. Wer trägt schon lindgrün? Aber sie hat es geschafft deine Jacke für dich zu machen. Nächtelang hat sie daran gearbeitet, bis ihr die Handgelenke schmerzten. Sie hat es immer geschafft, dir deine Wünsche zu erfüllen, egal wie seltsam oder anstrengend sie auch waren. Für dich. Apricotfarbene Blüten hat Mutter darauf gestickt, wie du es wolltest. Wie du immer alles wolltest.
Deine Hände versteckst du unter der Jacke. So wie du dich oft vor mir versteckt hast. Sie spielen miteinander. So wie wir miteinander gespielt haben. Du verbirgst deine spielenden Hände immer, wenn du nicht sicher bist, was du sagen sollst. Ja, ich weiß das.
Aber es ist an der Zeit endlich etwas zu erzählen. Zeit für dich zu sprechen. Der richtige Zeitpunkt für mich, dir zuzuhören. Ich höre dir so gerne zu. Das habe ich doch immer getan.
Du bist meine Schwester. Meine hübsche, kleine Schwester. Beinahe könnte ich dein Vater sein, so viele Jahre trennen uns voneinander. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum ich dich so sehr liebe.
Ich sehe in deine wunderschönen Augen. Ich sehe die Tränen in deinen Augenwinkeln, die sich vor mir verstecken wollen. Sie sehen aus wie Wachs. Du kannst sie nicht hinaus in die Freiheit weinen, wo sie sich nicht mehr verbergen müssen. Sie brauchen Wärme, um endlich schmelzen und über deine blassen Wangen fließen zu können. Wärme, die ich dir geben könnte. Aber du willst sie nicht mehr. Ich dachte, du würdest mich lieben, wie ich dich noch immer liebe.
Du hast mich verraten. Verraten an unsere Mutter. Du hast ihr unser Geheimnis erzählt, nicht wahr? Du hättest das nicht tun dürfen. Deshalb ist sie tot. Nicht ich habe sie getötet - du warst es. Weil du ihr unser Geheimnis ausgeliefert hast. Ich weiß es und du weißt es.
Deswegen kannst du auch deine Tränen nicht laufen lassen, denn dir fehlt die Wärme, sie zum Schmelzen zu bringen. Dir ist kalt. Du frierst – ganz weit in dir drin erfrierst du. Denn ich fehle dir. Ich weiß auch das.
Genug geschwiegen?
Du stehst auf und siehst mich klagend an.
„Man kümmert sich hier um dich. Ich komme nicht wieder, Michel.“
Deine Stimme zittert und ich verstehe deine Worte - nicht aber ihren Sinn. Kurz bevor du durch das Tor gehst, das mich in Zukunft von dir trennen wird, blickst du noch einmal zu mir zurück.
Ja, ich weiß du liebst mich. Geh nicht, Jasmin. Bitte geh nicht.
Eine warme Träne wie aus weichgewordenem Wachs glitzert auf Deiner Wange, bevor sich das eiserne Tor für immer hinter dir schließt.