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Und die Angst geht mit

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24.09.2000
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Und die Angst geht mit

Ihrer Panik wurde sie sich erst bewusst, als das grauenhafte Röcheln sich in der Dunkelheit an ihr Ohr schlich und in ihrem Kopf wie eine Lok widerhallte, die zielstrebig durch einen großen, schwarzen Tunnel fährt. Wahrscheinlich hatte sich die Panik schon angepirscht, als das Licht unerwartet ausgegangen war und die Finsternis sie umhüllt hatte, wie ein ekelhaft schleimiger Kokon aus Angst und Schrecken.
Sie wusste, dass sie in der Finsternis keine Angst zu haben brauchte, auch gar keine Angst mehr haben durfte, schließlich war sie erwachsen, verheiratet und sollte bald Kinder großziehen und ihnen lehren, dass unter dem Bett keine Ungeheuer lauerten, dass sich keine Monster im Schrank verbargen und dass keine Geister in der Nacht durch das Fenster kommen und einen fressen würden. Doch wie sollte sie ihnen das beibringen, wenn sie es selbst nicht glaubte?
Wieder hörte sie das Röcheln und ihre Schultern schoben sich bis über den Kopf, sodass sie wie eine Katze aussah, die sich plötzlich einem Bernhardiner gegenüber sieht.
Sie war im Badezimmer gewesen als das Licht ausging und ins gleich anschließende Schlafzimmer gegangen. „Robert?“, hatte sie ängstlich gefragt und ihre Stimme so gut es ging kraftvoll und unbesorgt klingen lassen. Sie genierte sich vor ihrem Ehemann. Er sollte nicht wissen, dass sie so ängstlich war.
(Aber er wusste es. Natürlich tat er das. Und er verspottete sie!)
Aber anstatt Roberts antwortete nur dieses furchtbare, unnatürliche Röcheln.

Nun stand sie mit eingezogenem Kopf, ihre Hände zu blutleeren Fäusten verkrampft, in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, traute sich nicht, sich zu bewegen, denn jeder Schritt in dieser Finsternis konnte ihr letzter sein. Ihre Gedanken sprangen. Bilder schossen durch ihren Kopf und verschwanden wieder. Sie atmete stärker und ihr Gesicht verformte sich zu einer grotesk wirkenden Grimasse.
„Mary! Maaaaaarrriiiii!“ stöhnte die röchelnde Stimme ihren Namen in die Finsternis. „Ich bring dich uuuuuuuuuuum!“
Dann wurde ihr alles klar. Sie befand sich in einer anderen Realität. Es war nicht mehr die Welt der Zahlen und Fakten, der Politik und der Wissenschaft. Wie ein Fisch der über die Wasseroberfläche hinaus aus dem Aquarium springt und zum ersten Mal sieht, dass es auch eine Welt außerhalb der sechzig Liter Süßwasser gibt, eine, erkannte nun auch Maria, dass es neben der Welt der Erwachsenen, auch eine Welt der Monster und Ungeheuer gibt, eine, vor der sie immer gewusst hatte, dass sie existierte. Und ähnlich wie die Welt außerhalb des Aquariums den Fisch langsam erstickt, würde auch Maria diese Welt nicht überleben.

Das Röcheln wurde lauter. Es kam näher.
Unfähig sich zu rühren - geschweige den sich zu wehren - presste sie beim Ausatmen die sauerstoffleere Luft durch ihren Kehlkopf und wimmerte dabei leise. Obwohl ihre Augen weit aufgerissen waren, sah sie nichts durch die zähe Dunkelheit hindurch.
„Mariiiiiiiiee!“ Sie zitterte. „Ich sehe deinen Tod schon vor mir!“ Das Etwas war schon ganz nahe bei ihr, sie konnte schon seine Wärme auf ihren mit Gänsehaut überzogenen Schultern spüren. Bitte nicht, wollte sie sagen, doch sie brachte nicht mehr heraus, als ein halbwegs lautes Wimmern.
Doch keine Worte hätten ihr mehr genützt. Das röchelnde Etwas berührte sie, griff sie an und umfasste sie schließlich, als wolle es sie zerquetschen, damit ihr Schädel platzte und ihr Gehirn bis an die Decke spritze.
Mit dem Monster wurde sie nun auch von ihrer Panik umschlungen. Ihre alte Begleiterin auf all ihren Wegen füllte sie nun vollends aus und übernahm das Kommando. Sie schrie und trat um sich, und verlor nun restlos den Bezug zu Raum und Zeit.

Das Nächste, an das sie sich erinnern konnte, war, dass das Licht wieder anging, sie mitten im Schlafzimmer stand und ihr Ehemann Robert sich halb an der Wand lehnend, halb am Boden liegend den Schritt hielt und erschrocken, mit Schmerz verzerrtem Gesicht zu ihr hoch starrte.
„Bist du wahnsinnig?!?“, fragte er sie trotzend, so als hätte sie gerade absichtlich sein Lieblingsspielzeug kaputt gemacht. „Du hast mir genau in die Eier getreten, Maria!“
Es brauchte lange, bis sie realisierte, was geschehen war. Zuerst dachte sie, dass das Monster auch ihren Freund angegriffen hatte, doch schließlich musste sie erkennen, dass es nie ein Monster gegeben hat. Außer Robert.
Das Licht zeigte nun das Schlafzimmer, es sah kalt aber vertraut aus. Ihr eheliches Doppelbett stand in der Mitte und war mit ihrer schwarzen Satinbettwäsche überzogen. Über dem Bett hing ein Bild einer nackten Frau. Sie stand auf dem weichen, rosa Teppich, den sie so gern hatte. Alles war wie immer. Die Welt der Erwachsenen, in der sich Herr und Frau Faltinger ein Dach und ein Bett teilten, existierte wieder.
„Du verrückte...“, sagte Robert, doch stockte, so als ob er sich das, was er sich dachte, nicht auszusprechen wagte. „Musst du mir gleich so weh tun?“
„Aber du hast mich erschreckt“, antwortete Maria zögerlich und wusste, dass Robert dieses Argument nicht gelten lassen würde. Was solle man einen HTL Absolventen schon großartig von Monstern und Geistern erzählen? Wie konnte man einen Elektrotechniker etwas von der anderen Welt erzählen, ohne ihm ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen? Erst jetzt merkte sie, wie sie der Schweiß durchnässt hatte. Ihre Muskeln schmerzten und sie fühlte sich heißer an.
„Erschreckt?“, fuhr Robert sie an und wie erwartet lächelte er zynisch. „Diese Monsternummer hat dich erschreckt? Wie alt bist du? Fünf?“
Maria senkte den Kopf. Sie schämte sich und hatte im Moment nicht die Kraft, ihrem Ehemann etwas entgegenzubringen.
„Andere Frauen hätten gelacht, hätten mitgespielt und irgendwann wären wir dann im Bett gelandet. Doch mit dir hat das alles keinen Sinn!“
„Dann such dir doch eine, die mitspielt“, flüsterte Maria scharf und Roberts Redeschwall brach ab. Auf solche Argumente wusste er nie, was er sagen sollte. Er stand in seinem grau-weiß gestreiften Flanellpyjama im Schlafzimmer wie ein Kind, das sich die Eier haltend Erwachsener spielen wollte.
„Ach komm schon, du kannst mir doch nicht einreden, dass du ganz normal bist!“ Robert schlürfte zu seiner Seite des Bettes, schob die schwarze Decke zurück und setzte sich auf das Leintuch. „Du bist eine von Angst zerfressene Person. Vor was hast du alles Angst? Vor dem Fliegen, vor langen Autofahrten, vor Mäusen, Hunden... Vor was noch...?“ Theatralisch umfasste er sein Kinn und blickte hoch, als hoffe er, die Antwort stünde am Plafond geschrieben. Dann fand er sie: „Ach ja, vor Spinnen ganz zu schweigen. Sogar vor den klitzekleinen Spinnen. Sogar vor kleinen Käfern, bei denen man nicht ganz klar sehen kann, ob es sich nicht vielleicht doch um eine Spinne handeln könnte. Wo willst du hin?“
Maria konnte seine Anschuldigungen einfach nicht mehr hören. Sie war eben ängstlich, na und? Und wer sollte sie vor all den Bösen auf der Welt beschützen, wenn nicht ihr Ehemann? Sie war immer noch schwach und ihre Stimme hätte bestimmt gezittert, wenn sie etwas erwidert hätte und so zog sie es vor, ihm diese Befriedigung nicht zu gewähren und sich ins Badezimmer zu versperren.
„Was soll das?“, hörte sie seine Stimmer, gedämpft und wie aus weiter Ferne. Das tat gut.
Das Badezimmer war hell und freundlich und sicherheitshalber schaltete sie auch das Licht über dem Waschbecken ein, das normalerweise dazu diente, die überflüssigen Haare auf der Oberlippe besser zu sehen und eliminieren zu können.
Spinnen, hatte Robert gesagt und hatte natürlich recht. Auch wenn er Monster und Geister, Höhe und große Ansammlungen von Menschen in seiner Aufzählung vergessen hatte, waren es die Spinnen, an die sie im Moment dachte. Mit hochgezogenen Schultern – dieser Teil ihres Körpers hatte sich nicht entspannt – spähte sie vorsichtig in die Ecken.
„Lass mich raten, was du tust?“, drang Roberts gedämpfte Stimme an ihr Ohr. „Spinnensuchen, stimmt’s?“
Woher wusste er das? fragte sie sich, ohne sich eine Antwort geben zu müssen. Natürlich wusste er das, er kannte sie nur zu gut.
„Weißt du Schatz“, plapperte er im Plauderton, „manchmal kommt es mir so vor, als wärst du nur noch bei mir, damit dich jemand vor den ganzen Monsterchen und Ungeheuerchen beschützt. Dir liegt in Wirklichkeit gar nichts an mir, ich könnte jeder X-beliebige sein, der neben dir liegt, mit dem du schläfst und mit dem du einmal Kinder großziehen und alt werden wirst. Wie glaubst du fühl ich mich dabei, hä?“
Sie schaute unter dem Waschbecken nach. Keine Spinne. Roberts Frage war sehr schmerzhaft. Zum einem weil sie wusste, dass sie ihn liebte und er das auch wissen sollte. Zum anderen hatte sie Angst darüber nachzudenken um festzustellen, dass sie vielleicht anders fühlte, als sie es wusste.
„Ich könnte dich umbringen“, zischte sie.
„Ehrlich? Ich denke, davor hast du viel zu viel Angst.“ Seine überheblich lässige Art brachte sie fast zur Weißglut. Manchmal hasste sie ihn.
Das Badezimmer war anscheinend spinnenfrei und je weiter sich ihr Verstand von den haarigen, achtbeinigen Monstern entfernte, desto näher kam er ihrem Hass auf Robert. Ja, manchmal hasste sie ihn sogar sehr.
„Schatz?“, seine Stimme klang ruhig und einfühlsam.
„Was ist?“, zischte sie und hoffte dabei so viel Wut wie nur möglich in ihre Stimme zu verpacken.
„Kannst du bevor du schlafen gehst meine Freundin unter dem Waschbecken füttern? Das wäre sehr nett von dir.“
Diese Worte trieben das Blut aus ihrem Kopf und beschleunigten ihren Herzschlag. Sie wusste was er meinte, wusste, dass seine Freundin nur eine Spinne (hässliches, haariges Monster) sein kann. Langsam blickte sie unter das weiße Waschbecken. Sie sah nichts, nur Fließen, weiß mit hellblauen Muster, so wie man sie manchmal in Schwimmbäder finden konnte. Ihr Körper juckte. Überall auf ihrer Haut schienen Spinnen zu krabbeln und obwohl sie wusste, dass das nur Einbildung war, versuchte sie sich so schnell wie möglich, am ganzen Körper zu kratzen.
Und dann sah Maria die Spinne. Wartend saß sie auf einem unsichtbaren Faden und lauerte nur darauf, auf die Frau des Hauses zu springen und sich in ihrer Kleidung zu verstecken. Vielleicht würde sie ja auch unter die Haut krabbeln, sich mit ihren acht Beinen durch die Venen und Arterien fortbewegen und irgendwo in ihren Eingeweiden kleine Eier legen, sodass das Opfer irgendwann einmal in der Früh aufwachte, um festzustellen, dass sich überall auf ihrer Haut kleine Löcher befinden, aus denen unzählige, achtbeinige Spinnen strömen, und es aussah, als wäre sie ein Vulkan, aus dem sich Lava artig Spinnen in das Land ergossen...
Maria begann wieder zu schreien. Die Panik war wieder da und trieb sie fort, trieb sie aus dem Badezimmer in die Arme ihres Ehemannes. Dort begann sie zu schluchzen und beruhigte sich erst wieder, als Robert - den sie so dringen brauchte und über alles liebte - die Spinne ermordete und sie beide im Bett lagen.
„Ich liebe dich!“, flüsterte Robert im Dunklen und hielt ihre Hand fest.
„Ich liebe dich auch!“, antwortete Maria. Sie fühlte sich geborgen und beschützt, so wie sie es sich als Kind immer gewünscht hatte. Sie hätte es gern gehabt, wenn ihr Vater sie manchmal in den Arm genommen hätte, wenn sie in der Nacht im elterlichen Ehebett hätte schlaffen dürfen und wenn... Aber diese Tage waren vorbei, nun fühlte sie sich von ihrem Ehemann geborgen, beschützt und nichts in der Welt konnte ihr das nehmen. Sie würde ihn halten und nie wieder los lassen, würde alles tun, damit er sie weiterhin beschütze.
Sie schliefen miteinander.

Irgendwann in der Nacht wachte sie auf. Irgendetwas war geschehen, sie wusste nicht mehr genau, was es war. Ihr Herz raste und sie fühlte sich erschöpft und matt. Nun war das nichts Ungewöhnliches, schließlich verhält es sich so, nachdem man eine Panikattacke gehabt hatte. Aber irgendetwas schwebte in ihrem Kopf, das sich von der allgemeinen Postpanik abhob. Ein Tram, dachte sie, wahrscheinlich ein Traum. Die Ahnung verblasste und zurück blieb ein brennender Durst, der ihre Kehle plagte. Sollte sie aufstehen? Sie dachte an all die schlaflosen Nächte, in denen ihre Blase so bestimmt verlangte, entleert zu werden, sie ihren Wunsch aber nur nachkam, wenn Robert zufällig wach wurde, um seinerseits aufs Klo zu gehen. Dann huschte sie ihm nach und erfüllte den Wunsch ihrer Blase. Sie legte sich auf die andere Seite und schloss die Augen.

Aber der Durst war brennend, ihre Kehle war ausgetrocknet und sie befürchtete in der Nacht zu ersticken, wenn sie nichts dagegen unternahm.
Sie griff hinüber zu ihrem Ehemann, fühlte seine warme Hand und stand auf. Lautlos huschte sie durch die Dunkelheit aus dem Schlafzimmer auf den Gang und schaltete sofort das Licht ein. Geschafft, dachte sie. Sie war im Obergeschoß ihres gemeinsamen Hauses. Vorbei an drei Türen, die zu einem zweiten Badezimmer und zwei zukünftigen Kinderzimmer führten, gelangte sie zur Treppe. Sie hasste diesen Weg, vor allem deshalb, weil sich der Lichtschalter für das Wohnzimmer erst am unterem Ende der Treppe installiert war.
Ihr Herz klopfte wieder ein wenig schneller. Sie setzte einen Fuß an den Anfang der Treppe, ließ die Dunkelheit im Erdgeschoß nicht aus den Augen, und wagte es dann, den zweiten Fuß auf die zweite Stufe zu setzen. Es gab soviel, das in der Dunkelheit lauern könnte. Einbrecher wären da noch das Harmloseste. Was ist mit Mördern? Nicht das es irgendjemanden gab, der einen rationalen Grund gehabt hätte, Maria Faltinger zu töten. Aber was war mit denen, die aus Spaß Menschen abschlachteten? Sie wagte einen weiteren Schritt. Was war, wenn...
Sie schrie auf. Ihr Schrei hallte durch den Gang und hinunter ins Wohnzimmer und machte ihr noch mehr Angst. Sie rührte sich nicht und lauschte. Da war etwas, unten im Wohnzimmer. Etwas hatte sich für kurze Zeit von der Dunkelheit abgehoben und war aus ihrem Blickfeld gehuscht. Es war schnell und schwer zu erkennen gewesen, aber was war da. Robert hätte sicher von einem elektrischen Dingsbums in der Netzhaut des Auges gesprochen, das das Gehirn täuschte. Aber es war kein elektrisches Dingsbums, irgendetwas war da.
Vergessen war ihr Durst, sie drehte sich um und lief die Treppen hinauf. Doch irgendetwas ging schief während ihrer Flucht. Vor der letzten Stufe rutschte ihr linker Fuß weg und sie stürzte die Treppen hinunter, hinein in die Dunkelheit. Hinein in das Revier des vorbeihuschenden Etwas.
Glücklicherweise schlug sie nicht mit dem Kopf auf, aber trotzdem schmerzte der Aufprall am Ende der Treppe. Aber das bemerkte sie kaum. Sie nahm nur die alles einnehmende Dunkelheit wahr und schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, die in schwarzem Wasser versunken war. Sie ruderte mit den Armen, strampelte mit den Füßen, bis sie mehr durch Zufall als durch Körperkontrolle den Lichtschalter traf und das dunkle Meer abfloss und Licht Platz machte.
Als sich Maria beruhigte, begann sie zu weinen. Ihr Rücken schmerzte von der schleifenden Bekanntschaft mit den Treppen und ihr Körper war erschöpft und ausgelaugt. Und sie schämte sich für ihr Verhalten, schämte sich vor sich selbst und wenn sie Robert aufgeweckt hatte und er zu ihr kommen würde, um zu sehen, was vorgefallen war, dann würde sie im Erdboden versinken. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, stimmte ganz und gar nicht mit ihr.
Nach einer Zeit rappelte sie sich hoch, atmete tief durch und ging in die Küche, um endlich ihren Durst zu stillen. Es gab keine Monster, keine, keine Monster! Böse Maria!, hörte sie die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Ja, es gab keine Monster und nicht überall lauerten Mörder, um sie zu töten. Und es gab auch kein vorbeihuschendes Etwas, das in der Nacht in ihrem Wohnzimmer wohnte.
Trotzdem beeilte sie sich den Lichtschalter zu betätigen, als sie in der Küche angekommen war. Sie brauchte jetzt ein wenig Ablenkung und beschloss den Fernseher anzumachen, der neben der Abwasch stand. Natürlich war er wasserfest, darauf hatte Robert geachtet. Schließlich könnte sie sich beim Abwaschen des Geschirrs einen elektrischen Schlag einfangen und umkommen.
Sie suchte kein bestimmtes Programm, schließlich wusste sie nicht, was es um halb drei Uhr nachts spielte, und blieb schließlich bei der Wiederholung einer Talkshow. Das war gut, das erinnerte sie an die Nachmittage, an denen sie bügelte und vor allem, an denen es hell draußen war. Das Thema war „Körperkult“, oder so etwas und viele, seltsam aussehende Gäste hatten sich im Studio versammelt.
Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, nahm sie ein Glas aus dem Schrank, hielt es unter den Hahn und drehte das Kaltwasser auf. Doch nichts geschah.
Ein Löwenmann, der durch angespitzte Zähne und Schnurrhaarimplantate verschönert worden war, erklärte in der Zwischenzeit, dass er am liebsten rohes Fleisch aß. Die Zuschauer ließen ein einheitliches „Pfui!“ von sich, um mitzuteilen, dass es ihnen vor den Essgewohnheiten des Löwenmannes graute.
„Komm schon!“, murmelte Maria halb abwesend dem Wasserhahn zu. In letzter Zeit hat es Probleme mit den Wasserleitungen gegeben und natürlich bräuchten sie keinen Installateur, Robert wollte es selbst reparieren, mit dem Ergebnis, dass seine Frau in der Nacht ihren Durst nicht stillen konnte.
Ein weiterer Gast war ins Studio der Talkshow gekommen. Ein Kannibale, der angeblich wirklich einmal Menschenfleisch gegessen hatte. Maria rümpfte die Nase. So ein Blödsinn, dachte sie. Was taten die Fernsehmacher nicht alles, um Einschaltquoten zu erzielen. Während sich der Kannibale vor dem Publikum rechtfertigte („Die Leiche war natürlich schon tot, also umgebracht hab ich keinen, mein ich!“) hörte sie, dass Wasser aus dem Hahn floss und füllte ihr Glas, ohne den Blick von dem Kannibalen nehmen zu können. Ob es noch mehr solche Menschen geben könnte?
Sie führte das Glas zum Mund und spuckte das Wasser sofort wieder aus. Es war warm und schmeckte irgendwie nach altem Eisen. Damit konnte sie das Kratzen in ihrem Hals nicht loswerden. Sie schaltete den Fernseher ab, nahm das Glas und ging aus der Küche. Oben im Badezimmer funktionierte das Wasser einwandfrei.
Als sie das Wohnzimmer betrat, brannte noch Licht. Doch nun bot sich nicht ein Anblick der Vertrautheit und Ruhe, die ganze Szenerie schien nun falsch, grotesk und abartig zu sein. Von diesem Anblick war Maria so überrascht, dass sie einige Momente lang keine Angst verspürte. Beinahe mit perverser Faszination beobachtete sie das Spektakel, das im Wohnzimmer von Herr und Frau Faltinger vollzogen wurde.
Überall waren Spinnen. Sie krochen über den Boden in alle Richtungen, sie saßen auf dem Fernseher und auf der Couch, sie hingen von der Decke und krabbelten in den Stoffen der Vorhänge. Große und kleine, Kreuz- und Vogelspinnen, alle wuselten sie in der Wohnung herum, so als hätte ein verrückter Zoologe alle Spinnen der Welt in Marias Wohnzimmer gesperrt.
Und so als wollten sie nun Rache für ihr böses Schicksal nehmen, wurden sie plötzlich still und starrten sie mit einem scharfen Blick an.
Maria trat vorsichtig zurück. Sie wusste nicht, woher ihre momentane Ruhe kam, aber sie behielt die Fassung, und wollte zurück in die Küche.
Da stießen die haarigen, achtbeinigen Monster einen schrillen Schrei aus, fuhren ihre Zähne aus und liefen auf den Menschen zu. Dann kam die Panik. Ungestüm stolperte Maria zurück in die Küche und schloss hinter sich die ab.
Geschafft lehnte sie sich gegen die Tür. Kann das denn sein? überlegte sie. Das ist nicht wahr, das ist nur ein Traum. Sie atmete langsam und beruhigte sich bald wieder. Das war zu absurd, dachte sie sich. Woher sollten so viele Spinnen kommen? Sie einigte sich auf Einbildung und atmete tief ein und aus.

„Okay, ich habe ihn doch ermordet und sein Blut aus dem noch warmen, toten Körper getrunken“, sagte der Kannibale im Fernsehen. (Hatte sie ihn nicht abgeschalten?) „Und es war gut.“
Der Mann mit den langen Zähnen, stand plötzlich auf und ging auf den Showmaster zu. „Es ist ganz leicht und furchtbar lecker.“
Mit diesen Worten biss der Kannibale in den Hals des Talkmasters. Blut spritzte aus der Hauptschlagader und ergoss sich über einige der Zuschauer. Der Mann gab gurgelnde Laute von sich und verstummte dann. Der Kannibale aber ließ von ihm ab, wischte sich mit dem Handrücken über den blutverschmierten Mund und lachte bösartig. Das Publikum buhte.
Maria griff zur Fernbedienung, die noch neben dem Waschbecken lag und betätigte die taste mit der Aufschrift „Power“.
Doch nichts geschah. Der Kannibale lachte noch lauter und sah in die Kamera. Irgendein perverser Regisseur zoomte auch noch auf sein Gesicht, sodass es das Bild komplett ausfüllte. Die Augen des Blut trinkenden Mannes leuchteten rot.
„Viele Leute haben schon einmal Menschenblut getrunken, und wissen es nicht einmal.“ Er blinzelte und sah dann wieder aus dem Fernseher, direkt auf Maria. „Nicht wahr, Frau Faltinger.“
Eine böse Vorahnung erfüllte ihr Denken und sie übergab sich, noch bevor sie den Beweis mit eigenen Augen sah.
Erbrochenes ergoss sich auf den Küchenboden.
Es war rot.

Sie rannte nun aus der Küche, aus deren Wasserleitungen Blut floss, ins Wohnzimmer. Vergessen waren die Spinnen. Ihr graute nur noch von dem Gedanken, warmes, nach Eisen schmeckendes Blut getrunken zu haben. Woher es kommen möge, mochte sie erst gar nicht wissen.
Als sie das Wohnzimmer nun betrat, war es leer. Keine Spinnen, kein Schrei, keine Rache kleiner Kriechmonster. Nur Robert, der die Treppen herunter kam.
„Ist etwas passiert?“, fragte er besorgt. „Ich habe Schreie gehört.“
Da brach Maria in Tränen aus, lief auf ihren Mann zu und vergrub sich in seiner Brust. Sie roch Vertrautheit und fühlte Wärme.
„Es tut mir leid“, schluchzte sie, „Ich muss wohl noch geträumt ha...“
Der unvollendete Satz blieb im Raum hängen, wie eine schwere Gewitterwolke, die bald über das Land hernieder gehen wird. Maria schrie, schlitterte über den Holzboden des Wohnzimmers und prallte schließlich mit dem Rücken gegen die Eingangstür.
„Ich hasse dich, du verdammte Hure!“, wütete Robert, der nicht Robert war. „So lange musste ich deine bescheuerte Art schon ertragen. Hättest du nicht so viel, wohlschmeckende Angst, hätte ich dich schon viel früher umgebracht!“

Das Wesen, das seit Jahren an ihrer Seite gelebt hatte und das sie für einen Mann gehalten hatte, riss sich die Haut vom Körper und entblößte eine graue, pulsierende Masse. Das war also das Robert-Monster, dachte sie.
„Jahre lang habe ich mich von deiner Angst ernährt und schau, wie fett sie mich gemacht hat“, das Wesen umfasste mit dicken, grauen Wurstfingern seinen Bauch. „Aber es war lecker. Ich ließ so viele Kreaturen für mich arbeiten. Spinnen, Mäuse,... selbst die Dunkelheit leistete mir Dienste. Und das alles, nur damit ich zu essen habe. Doch nun ist die Zeit gekommen. Ich muss schlafen. Und dafür brauche ich auch noch den letzten Rest von dir.“
Das Robert-Monster schlenderte auf Maria zu und erst im letzten Moment, als es schon ganz nahe war und sie seinen Atem riechen konnte (er war faulig und roch nach verdorbenen Eiern), löste sie sich von ihrer Starre und trat der Kreatur ins Gesicht. Es fiel Rückwärts auf den Boden und stieß einen unnatürlich röchelnden Schrei aus.
Die Eingangstüre, dachte sie, stand auf und ergriff die Klinke. Doch sie war verschlossen. Sie selbst hatte zugesperrt, damit keine Einbrecher oder Mörder im Dunklen auf sie lauern konnten. Doch ein Mensch wäre ihr als Gegner nun viel lieber gewesen.
Graue, pulsierende Arme umschlossen ihre Hüften und hielten sie in einem unbarmherzigen Griff.
„Du entkommst mir nicht. Du wirst mir nie entkommen!“
Maria sah, wie sich das Gesicht des Robert-Monsters in ein riesiges Maul verwandelt hatte. Endlose Reihen von Zähnen drängten sich aneinander. Speichel floss in einen schwarzen Abgrund hinunter.
Das letzte, das Maria sah, bevor sie die Panik betäubte, waren winzige Würmer, die zwischen den Zähnen Speisereste heraus klaubten. Selbst sie schienen riesige Zähne zu besitzen.
Das Robert-Monster hob sie an und steckte sie in den Mund. Sie schrie und trat um sich, und verlor nun restlos den Bezug zu Raum und Zeit.

Das Nächste, an das sie sich erinnern konnte, war, dass das Licht wieder anging, sie mitten im Schlafzimmer stand und ihr Ehemann Robert sich halb an der Wand lehnend, halb am Boden liegend den Schritt hielt und erschrocken, mit Schmerz verzerrtem Gesicht zu ihr hoch starrte.
„Bist du wahnsinnig?!?“, fragte er sie trotzend, so als hätte sie gerade absichtlich sein Lieblingsspielzeug kaputt gemacht. „Du hast mir genau in die Eier getreten, Maria!“
Es brauchte lange, bis sie realisierte, was geschehen war.
Alles war wie immer. Die Welt der Erwachsenen, in der sich Herr und Frau Faltinger ein Dach und ein Bett teilten, existierte wieder.

Doch diesmal war es anders. Es war nicht einfach ausschließlich die Welt der Rationalität. Diesmal hatte sie etwas mitgenommen. Eine Erinnerung. Aber welche?
„Du verrückte...“, sagte Robert, doch stockte, so als ob er sich das, was er sich dachte, nicht auszusprechen wagte. „Musst du mir gleich so weh tun?“

„Aber du hast mich erschreckt“, antwortete Maria leer. Das Gefühl, dass das alles schon einmal passiert war wurde stärker. Ihre Muskeln schmerzten und sie fühlte sich heißer an.

„Erschreckt?“, fuhr Robert sie an und wie erwartet lächelte er zynisch. „Diese Monsternummer hat dich erschreckt? Wie alt bist du? Fünf?“
Dann sagten Robert und Maria gleichzeitig: „Andere Frauen hätten gelacht, hätten mitgespielt und irgendwann wären wir dann im Bett gelandet!“
Beide erschraken und sahen sich einen Moment lang verdutzt an. Du bist ein Monster, dachte Maria. Du ernährst dich von meiner Angst und wartest nur, mich endgültig umzubringen.
Roberts Miene bekam wieder ihr gewohnt gelangweiltes Aussehen. „Ach komm schon, du kannst mir doch nicht einreden, dass du ganz normal bist!“ Robert schlürfte zu seiner Seite des Bettes, schob die schwarze Decke zurück und setzte sich auf das Leintuch. „Du bist eine vor Angst zerfressene Person. Vor was hast du alles Angst? Vor dem Fliegen, vor langen Autofahrten, vor Mäusen, Hunden... Vor was noch...?“

Maria wusste was nun käme und übersprang den Teil. Sie brauchte eine Gelegenheit um das Robertmonster zu vernichten, bevor es sie vernichten würde. Und das würde es.
Sie ging ins Badezimmer.

„Was soll das?“, hörte sie seine Stimme, gedämpft und wie aus weiter Ferne.
Maria sah unter das Waschbecken und zerquetschte mit der flachen Hand die dort ansässige die Spinne.
„Lass mich raten, was du tust?“, drang Roberts gedämpfte Stimme an ihr Ohr. „Spinnensuchen, stimmt’s?“
Leck mich, dachte Maria. Was sollte sie denn nun machen? Sie durfte sich nichts anmerken lassen.
„Weißt du Schatz“, plapperte er im Plauderton, „manchmal kommt es mir so vor, als wärst du nur noch bei mir, damit dich jemand vor den ganzen Monsterchen und Ungeheuerchen beschützt. Dir liegt...“ Sie hörte ihm nicht zu. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, eine Lösung zu finden, um das Monster vor der Badezimmertür zu töten. Irgendwie hatte sie einen Zeitsprung geschafft, war einige Stunden in die Vergangenheit gereist und bekam eine zweite Chance.
„Kannst du bevor du schlafen gehst meine Freundin unter dem Waschbecken füttern. Das wäre sehr nett von dir.“
Scheiße, dachte sie. Das war der Spinnentrick. Sie musste sich normal verhalten. Verdammt!
Maria begann zu schreien. Sie lief aus dem Badezimmer in die Arme ihres Ehemannes. Dort begann sie zu schluchzen und beruhigte sich aber gleich wieder. Er durfte nur nicht ins Badezimmer gehen, wo die zerquetschte Spinne an der Wand klebte.
„Ich liebe dich!“, flüsterte Robert im Dunklen und hielt ihre Hand fest.
„Ich liebe dich auch!“, antwortete Maria.
Sie schliefen miteinander.

Irgendwann in der Nacht wachte sie auf. Irgendetwas war geschehen, sie wusste nicht mehr genau, was es war. Ihr Herz raste und sie fühlte sich erschöpft und matt. Nun war das nichts Ungewöhnliches, schließlich verhält es sich so, nachdem man eine Panikattacke gehabt hatte. Aber irgendetwas schwebte in ihrem Kopf, das sich von der allgemeinen Postpanik abhob. Ein Tram, dachte sie, wahrscheinlich ein Traum.
Aber sofort meldete sich eine andere Stimme in ihr. Was wenn all das kein Traum war?
Ein brennender Durst quälte ihre Kehle. Noch immer? Schon wieder?
Natürlich war es möglich, dass sie schon einmal aufgewacht war, ihren Durst bemerkte aber wieder eingeschlafen war und alles, der Gang in die Küche, der Kampf mit dem Robert-Monster, das Deja-vu.. einfach alles nur geträumt und seit dem letzten Aufwachen nur kurze Zeit vergangen war.
Sie blickte sich im Schlafzimmer um. Es war dunkel, nur durch das Schlafzimmerfenster schien Licht herein. Der Wind bewegte den davor stehenden Baum und malte bewegende Schatten in grotesken Formen an die Decke. Die Welt war schlecht und jederzeit konnte ein Mörder bei der Tür hereinsehen, ein Gespenst sie in die tiefe Welt des Jenseits ziehen oder ein Monster, das jahrelang getarnt als liebender Mensch auf sie lauerte, unerwartet zuschlagen.
Sie stand auf, um in die Küche zu gehen. Sie musste etwas gegen ihren Durst tun.

Lange Zeit blieb sie fort und als sie wieder kam, fügte sich ein anderer, ebenso grotesker Schatten zu denen an der Decke hinzu. Mit viel Fantasie konnte man etwas sinnvolles in dem größten aller schwarzen Flecken erkennen. Entfernt sah er wie eine Frau aus, die etwas langes, spitzes, ein Messer vielleicht in der Hand hielt. Man konnte erkennen, wie sich der Schatten bewegte und schließlich verharrte.

Robert wachte kurz auf und durch einen Schleier an abschwellenden Träumen sah er seine Frau Maria. Er lächelte dem vertrauten Gesicht zu, doch seine Gesichtsausdruck änderte sich, als er bemerkte, dass sie ein Messer mit beiden Händen an seine Brust hielt.
„Sicher ist sicher“, sagte sie und stach das Messer tief in sein Herz.

 

Zur Geschichte:

Diese Geschichte hat ihre Wurzeln in einem der Momente, in denen ich schlaftrunken aus meinem warmen, weichen Bett wankte, um eine Spinne aus dem Badezimmer durch die ganze Wohnung und schließlich beim Balkon hinaus zu befördern. Auch wenn meine Freundin panische Angst vor den Achtbeinern hat, ist es mir nicht gestattet, die ungeliebten Gäste mit der Tageszeitung Bekanntschaft schließen zu lassen.
In genau diesen Momenten habe ich mich teils wie Robert verhalten. Ich habe sie aufgezogen und - harmlos, aber bestimmt - beschimpft. Das war nicht nett und so dürfte sich kein Freund verhalten, aber manchmal macht man eben Sachen, die man nicht soll.
Zurück im Bett überlegte ich einsichtig, was wohl geschehen würde, wenn ich meine Hänseleien auf die Spitze trieb. Wenn ich so richtig gemein und fies wäre. So entstand Herr und Frau Faltinger.

Auch wenn Maria die eigentlich Verrückte in dieser Geschichte war, finde ich Robert noch viel, viel schlimmer. Und irgendwie hab ich es genossen, als Maria zustach.

Auf das, dass auch der Robert in mir gestorben ist!

 

Hallo Peter,

bist du denn des Wahnsinns, so eine Geschichte zu schreiben, wegen der ich jetzt bestimmt die ganze Nacht nicht pennen kann?

Wenn du Zeit hast, dann geh mal auf Humor und les mal die KG "Die Ausgeburt der Hölle", vielleicht kannst du dir dann ausmalen, was gerade beim Lesen deiner KG in mir vorgegangen ist.

Bohh neee Spinnen *schüttel*

Nun an meiner Reaktion, kannst du sicherlich erkennen, das mich die Geschichte gefesselt hat und ich mir alles vor Augen vorstellen konnte. :thumbsup:

Obwohl ich anfangs beim Lesen dachte, ahja ich weiss was passiert, Robert ist es, der sie erschrecken will, was dann ja auch eintrat. Allerdings nahm dann alles noch einen anderen Lauf und dann wieder einen anderen. Da kann ich nur sagen: :thumbsup:

Weiter so, aber bitte bitte nicht mehr mit Spinnen :D

Lieben Gruss Melle

 

Heyho Peter,

guter Plot, nette Pointe, schwache Ausführung.

Die gröbsten Schnitzer:

- Länge

Nix gegen lange Geschichten, aber diese könnte man problemlos um ein gutes Drittel (und viel unnötiges Geschwafel) kürzen, ohne ein wichtiges Element zu vernachlässigen. Beispiele:

presste sie beim Ausatmen die sauerstoffleere Luft durch ihren Kehlkopf und wimmerte dabei leise

Ist das eine Biologiestunde oder eine Horrorgeschichte? "und wimmerte leise" genüg völlig. Raus mit dem Rest.

Ihr eheliches Doppelbett stand in der Mitte und war mit ihrer schwarzen Satinbettwäsche überzogen

Mal davon abgesehen, dass Betten nicht über- sondern bezogen sind, musst du mir wirklich nicht erklären, wo das Bett steht und welche Farbe denn nun die Bettwäsche hat. Unwichtig für die Story, also streichen.

Maria griff zur Fernbedienung, die noch neben dem Waschbecken lag und betätigte die taste mit der Aufschrift „Power“.

Umständlich. Was ist denn gegen "Maria schaltete den Fernseher aus" einzuwenden?

- Dialoge

Adverbien in der direkten Rede sind ein böses Foul. Sie nehmen dem Leser das Denken ab und lassen dich unsicher wirken. Wie etwa hier:

„Bist du wahnsinnig?!?“, fragte er sie trotzend

Dass Robert nicht gerade begeistert ist, wenn ihm seine Frau in die Eier tritt, kann ich mir selbst denken. Dazu brauche ich das "trotzend" nicht. Außerdem ist die wörtliche Rede (hier also: "Bist du wahnsinnig?") alleine aussagekräftig genug. Gute Dialoge brauchen keine Adverbien, sondern verlieren durch diese viel von ihrer Wirkung. Weg damit!

Ganz schlimm ist auch sowas:

„Weißt du Schatz“, plapperte er im Plauderton

Schlage mal ein x-beliebiges (gutes) Buch auf und schaue dir die Dialoge an. Gute Autoren arbeiten fast ausschließlich mit "sagte er" bzw. "sagte sie". Ab und an ist sowas wie "plappern", "flüstern" etc. ja okay, aber du übertreibst damit maßlos. Auch so verlieren deine Dialoge ihre Wirkung.

- Unpräzise Formulierungen

Du drückst dich in vielen Fällen leider viel zu vage aus. Ein Beispiel:

und ihr Gesicht verformte sich zu einer grotesk wirkenden Grimasse

Klingt ängstlich. Wenn du was zu sagen hast, dann sag es auch und schreibe: "...zu einer grotesken Grimasse..."

Ein zweites Beispiel:

Es war warm und schmeckte irgendwie nach altem Eisen

Was soll das "irgendwie"? Es erfüllt keinen Zweck, außer dich unsicher wirken zu lassen. Du vermittelst damit dem Leser den Eindruck, du wüsstest selbst nicht so recht, was in deiner Geschichte vor sich geht. Gerade in einer Horrorstory ist so etwas tödlich.

Lass Dich von meiner Kritik bitte nicht entmutigen. Deine Probleme liegen im "handwerklichen" Bereich und daran kann man arbeiten.

Auf den Plot kann man auf jeden Fall aufbauen. Vielleicht solltest du die Idee, dass sich Robert von ihrer Angst ernährt (nicht unbedingt neu, aber großartig eingesetzt), noch ein wenig ausbauen. Gerade hier sehe ich Potenzial, um deine Geschichte von vielen anderen 0815-Stories abzuheben.

Cheers

 

Hallo Melle!

Dankeschön für deine nette Kritik.


Hallo Wendigo!

Fantastische Kritik, wirklich, hat mir sehr gefallen. Du hast dich so ausgedrückt, dass ich es auch verstanden habe und viele Beispiele angeführt.
Wirklich eine beispielhafte Kritik, die sicher viel Mühe gekostet hat.
Danke dafür!

Ich möchte deine Kritikpunkte noch gerne kommentieren und dir meine Argumente darlegen. Vieles was du sagst hat mich wirklich auf neue Ideen gebracht.
Nochmals danke.

Melde mich später noch einmal.

Peter

 

Heyho Peter,

freut mich, dass du mit meiner Kritik etwas anfangen kannst. Für weitere Kommentare, Argumente und eine Diskussion bin ich immer zu haben.

Bis später.

 
Zuletzt bearbeitet:

Seas Wendigo!

Gut, jetzt habe ich etwas Zeit, um zu deiner Kritik Stellung zu nehmen.

Wendigo schrieb:
Ist das eine Biologiestunde oder eine Horrorgeschichte? "und wimmerte leise" genüg völlig. Raus mit dem Rest.
Dank deinem Kommenrtar ist mir zum ersten mal aufgefallen, dass man "sauerstoffleer" allein schon wegen der Bezeichnung "Sauerstoff" als sehr wissenschaftlich verstehen kann. Bei mir erzeugt das Wort ein beklemmendes, erstickendes Gefühl, und das wollte ich auf den Leser übertragen. Hm. Darf wohl nicht immer von mir auf andere schließen.

Wendigo schrieb:
Mal davon abgesehen, dass Betten nicht über- sondern bezogen sind, musst du mir wirklich nicht erklären, wo das Bett steht und welche Farbe denn nun die Bettwäsche hat. Unwichtig für die Story, also streichen.
Hehe. Also, in meinem Wörterbuch steht, dass man Betten "überziehen" kann. Aber wahrscheinlich deshalb, weil über meinem "österreichisches" und über deinem "deutsches" steht.
Hm... Das Bett als Symbol für Frieden und Behutsamkeit einfach weglassen...? Tja, wahrscheinlich ist kürzer wirklich noch besser, als was das Weglassen des Symbols schlecht ist. Werd´s mir überlegen.

Umständlich. Was ist denn gegen "Maria schaltete den Fernseher aus" einzuwenden?
Bei einer Internetgeschichte gebe ich dir recht. Wieder ist kürzer besser, als der Ausdruck von Nähe in meiner Formulierung gut ist.

Adverbien in der direkten Rede sind ein böses Foul. Sie nehmen dem Leser das Denken ab und lassen dich unsicher wirken.
Ach, ist das so? Mir gefallen Adverben und Adjektive eigentlich sehr gut. Er hätte es auch beleidigt, wütend oder gar tobend sagen können. Das "trotzig" ersetzt eine Formulierung, die die Geschichte unnötig verlängerte.

Schlage mal ein x-beliebiges (gutes) Buch auf und schaue dir die Dialoge an. Gute Autoren arbeiten fast ausschließlich mit "sagte er" bzw. "sagte sie". Ab und an ist sowas wie "plappern", "flüstern" etc. ja okay, aber du übertreibst damit maßlos. Auch so verlieren deine Dialoge ihre Wirkung.
Das ist mir auch erst kürzlich beim Lesen aufgefallen, dass ein Autor nur "sagte" verwendete. Dann hab ich zurückgeblättert und bin draufgekommen, dass er das schon die ganze Zeit gemacht hatte, ohne dass es mir störend vorgekommen war. In der Schule habe ich immer gelernt, dass viele "sagte" eine Wortwiederholung sind. Anscheindend wusste meine Deutschprofessorin nicht, was gute Romane sind. :)
Werd ich mal ausprobieren.

Klingt ängstlich. Wenn du was zu sagen hast, dann sag es auch und schreibe: "...zu einer grotesken Grimasse..."
Stimmt, gefällt mir nun auch nicht mehr.

Was soll das "irgendwie"? Es erfüllt keinen Zweck, außer dich unsicher wirken zu lassen. Du vermittelst damit dem Leser den Eindruck, du wüsstest selbst nicht so recht, was in deiner Geschichte vor sich geht. Gerade in einer Horrorstory ist so etwas tödlich.
Da kann ich dir nicht zustimmen. Irgendwie passt irgendwie immer...
Natürlich nicht :D, aber in Geschichten, in denen der Autor zwar in der dritten person erzählt, dennoch ein besonders nahes Verhältnis zu seinem Protagonisten ausdrücken möcte, finde ich den Einsatz in Ordnung. Hier spielen nämlich die Gedanken von Maria mit, die sich denkt "Irgendwie schmeckt das nach altem Eisen." Da altes eisen wohl kaum ihre Leibspeise ist und sie den Geschmack nicht genau kennt, denkt sie "irgendwie". der Erzähler nutzt sein nahes Verhältnis zur Protagonistin auf, und benutzt das Wort. Klingt kompliziert, sollte aber intuitiv rüberkommen.

Lass Dich von meiner Kritik bitte nicht entmutigen.
Nein, nein! Dann dürft ich schon seit 5 jahren kein einziges Wort mehr schreiben :D

Nochmals vielen Dank für die ausführliche und interessante Kritik.

Peter

 

Heyho Peter,

schauen wir mal:

Dank deinem Kommenrtar ist mir zum ersten mal aufgefallen, dass man "sauerstoffleer" allein schon wegen der Bezeichnung "Sauerstoff" als sehr wissenschaftlich verstehen kann. Bei mir erzeugt das Wort ein beklemmendes, erstickendes Gefühl, und das wollte ich auf den Leser übertragen. Hm. Darf wohl nicht immer von mir auf andere schließen.

Ja, klingt mir in der Tat zu wissenschaftlich. An dieser Stelle würde ich es wirklich beim Wimmern belassen, auf das erstickende Gefühl kommst du ja später noch.

Hehe. Also, in meinem Wörterbuch steht, dass man Betten "überziehen" kann.

Hmm. Ich denke bei diesem Wort unwillkürlich an Schimmelpilz. Vielleicht ist "beziehen" besser, weil es Missverständnissen vorbeugt?

Das Bett als Symbol für Frieden und Behutsamkeit einfach weglassen...? Tja, wahrscheinlich ist kürzer wirklich noch besser, als was das Weglassen des Symbols schlecht ist. Werd´s mir überlegen.

Das Bett als Symbol? Ist mir beim Lesen gar nicht aufgefallen. Die Idee ist nicht schlecht, müsste aber detaillierter herausgearbeitet werden, damit die Symbolik deutlich wird.

Bei einer Internetgeschichte gebe ich dir recht. Wieder ist kürzer besser, als der Ausdruck von Nähe in meiner Formulierung gut ist.

Was meinst du mit dem "Ausdruck von Nähe"? Stehe ich auf dem Schlauch?

Ach, ist das so? Mir gefallen Adverben und Adjektive eigentlich sehr gut. Er hätte es auch beleidigt, wütend oder gar tobend sagen können.

Um Gottes willen, das wäre ja noch schlimmer. Ich gebe dir mal ein fiktives Beispiel:

- "Du Arschloch!"
- "Du Arschloch!", brüllte Tom wütend.

Welche der beiden Varianten ist aussagekräftiger? Die erste Version kommt ohne Schnörkel zum Punkt, während die zweite durch das unnötige "brüllte" (dass hier nicht geflüstert wird, macht das Ausrufezeichen deutlich) sowie das redundante "wütend" (wenn man jemanden als Arschloch beschimpft, ist man in der Regel wütend) deutlich schwächer ausfällt.

Anderes Beispiel:

"Ich will doch nur nach Hause."
"Ich will doch nur nach Hause", greinte Sally weinerlich.

Merkst du, worauf ich hinauswill? Ein guter Dialog benötigt diese Adverbien nicht, weil er die relevante Aussage auch alleine vermittelt.

Das ist mir auch erst kürzlich beim Lesen aufgefallen, dass ein Autor nur "sagte" verwendete. Dann hab ich zurückgeblättert und bin draufgekommen, dass er das schon die ganze Zeit gemacht hatte, ohne dass es mir störend vorgekommen war

Genau das ist der springende Punkt. Verwendet ein Autor übermäßig häufig "flüsterte", "brüllte", "kreischte" etc. ist es, als würde er dem Leser mit einem Holzhammer auf den Kopf hauen und schreien: Hey, ich bin auch noch da! Im Idealfall sollte mich eine Geschichte aber so in ihren Bann ziehen, dass ich den Autor völlig vergesse. Und "sagte" ist ein blendendes Mittel, um genau das zu erreichen. Man liest nämlich einfach darüber hinweg.

Hier spielen nämlich die Gedanken von Maria mit, die sich denkt "Irgendwie schmeckt das nach altem Eisen." Da altes eisen wohl kaum ihre Leibspeise ist und sie den Geschmack nicht genau kennt, denkt sie "irgendwie".

Würde es sich bei der betreffenden Stelle um Marias Gedanken handeln, wäre das "irgendwie" völlig okay. Die Sache ist nur die, dass wir es hier mit einer erzählenden Passage zu tun haben, in der nicht Maria das "irgendwie" benutzt, sondern der Erzähler (also du).

Nochmals vielen Dank für die ausführliche und interessante Kritik.

Gern geschehen. Macht immer sehr viel Spaß, sich mit einem Autor zu unterhalten, der für Anregungen und Kritik offen ist.

Cheers

 

Hm... Hab deine Antwort gelesen und muss sagen, dass wir punkto Adverbien einfach auf zwei verschiedenen Standpunkten stehen.

Mir gefällt bei deinen Beispielen beide Male die zweite, die adverbien Version besser (außer "greinte", das Wort ist ja schrecklich!).
"Du Arschloch!", könnte auch geflüstert sein, gezischt wäre das dann. Oder es könnte belustigt gesagt sein. Oder einfach zum spaß unter Freunden. Tja, aber so sind die Meinungen verschieden. :)

Das mit der Nähe: Der Erzähler kann durchaus die Entfernung zu seinem Protagonisten verändern.
"Es schmeckt irgendwie nach Blut", dachte sie.
Es schmeckt irgendwie nach Blut, dachte sie.
Irgendwie schmecke es nach Blut.

Drei Beispiele, bei denen sich der Abstand zwischen Erzähler und Protagonist verringert. Für mich ein legitimes Mittel!

Thx, Peter

 

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