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...und mit ihr kam der Schnee
Mit meiner Schwester kam der Schnee, mit meiner Schwester sollte er gehen.
Meine kleine Schwester Mira. Sie kam mit dem Winter. Ich sah sie auf der Straße sitzen, klein und dreckig. Mit großen dunklen Augen sah sie mich an. Ihre schwarzen Locken fielen ihr wirr ins Gesicht und ihre blasse Haut schien so dünn. Schutzlos und alleine saß sie am Straßenrand und wiegte sich hin und her. Sollte ich an ihr vorbeigehen, sie nicht beachten, wie alle anderen? Konnte ich das? Dieses kleine, hilflose Wesen.
Ich schritt auf sie zu, ohne zu zögern, mein Entschluss stand fest. Sie würde meine kleine Schwester sein. Ich wollte immer eine kleine Schwester. Ich wollte jemanden, den ich in meinen Armen halten konnte, streicheln, trösten, so wie es mit mir nie jemand getan hatte. Meine Schwestern hatten mich nie in den Arm genommen.
Ich sprach sie an. Ich lächelte ihr zu. Und sie, sie sah mich verständnislos an. Zuckte mit den Schultern. Schüttelte den Kopf. Ich redete auf sie ein, doch sie verstand mich nicht. Sprach sie eine andere Sprache?
Plötzlich gab es einen furchtbar lauten Knall. Wieder ein Bombeneinschlag. Ich zuckte zusammen, hielt mir die Ohren. Doch sie, sie schien das alles nicht wahr zu nehmen, nicht zu bemerken.
Geräuschlos fällt er zu Boden. Geräuschlos bleibt er dort liegen. Ich starre aus dem Fenster. Der Schnee fällt unaufhörlich und ich fühle mich Mira, meiner kleinen Schwester näher denn je. Der Schnee legte eine dicke weiße Decke über die Welt. Er dämpft die Geräusche um uns herum. Taube und Hörende nehmen ihn gleich wahr.
Ich hatte meine kleine stumme Schwester mit nach Hause genommen, meine Mutter hatte es nicht bemerkt. Ich gab ihr mein Stück Brot und meinen Schluck Milch.
Mit ihr war der Winter ins Land gekommen. An den dünnen Scheiben wucherten riesige Eisblumen. Mira und ich, zwei kleine Schwestern, wir saßen am Fenster und drückten unsere Nasen gegen die kalte Scheibe. Wir sahen wie der Metzgerbursche eilig durch den Schnee rannte und auf die Nase fiel. Ich kicherte und meine Mira kicherte auch. Des Abends nahm ich sie in meine Arme und wiegte sie solange bis sie einschlief. Ich sang für sie, und auch wenn sie mich nicht hören konnte, so schlief sie nicht ein ohne mein Singen. Mira war alles für mich, mein Schatz, mein Kleinod, meine Schwester. Nichts und niemand konnte ihr etwas zu leide tun. Und brüllten mich meine Schwestern auch an und schrieen ihr böse Worte zu, so war sie doch geschützt vor alle dem. Wie oft stellte ich mir vor, wie herrlich es wohl sein musste nichts zu hören. Des Nachts zu schlafen, ohne das Jammern des kranken Kindes im Ohr zu haben, ohne das Knirschen des alten Holzbodens unter dem Kopfkissen zu hören, das Scharren der Ratten auf den kalten Fließen.
Meine Mira mit ihren großen schwarzen Augen und ihren schwarzen Locken. Sie war mein ein und alles. Ich gab ihr so viel ich an Nahrung entbehren konnte. Und doch schien sie immer blasser zu werden, ihre Haut immer durchsichtiger. Die Momente in denen wir miteinander kicherten und in die kalte Welt hinaussahen wurden immer kürzer. Sie schlief so unendlich viel. Und ich hielt Wache. Lies meine Augen nicht von ihr ab.
Ich streichelte sie, hielt sie in meinen Armen. Ich küsste sie und redete mit ihr.
Eines Abends lag sie wieder in meinen Armen und ich sang ihr mein Lied und betete mein Gebet.
Und als ich geendet hatte und sie auf die Stirn küsste sah sie mich aus ihren großen schwarzen Augen an.
„Schwester“, brachte sie mühevoll über die Lippen. Das Wort klang wie aus einer anderen Sprache, verzerrt, unverständlich, doch ich, ich hatte verstanden und Tränen stiegen mir in die Augen.
Am nächsten Morgen fiel kein Schnee mehr. Die Geräusche waren wieder so schrill und laut wie immer. Und als wenn das meine kleine Schwester störte, entschloss sie sich zu gehen.
Sie ließ mich alleine in meiner lauten Welt. Doch ich hatte gelernt. Ich konnte weghören, ich konnte mir auch eine stumme Welt schaffen. Oder war ich taub? War ich jemals nicht taub gewesen? Hörte ich noch oder bildete ich mir diese Geräusche ein? Ich wusste es nicht mehr. Denn in mir herrschte eine tiefe Stille. Ein tiefes Schweigen umgab mich und ich genoss es, nichts zu hören. Nur manchmal, manchmal drang das Lachen eines Kindes zu mir durch und ich hörte es und genoss zu hören.