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...und mit ihr kam der Schnee

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14.08.2004
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...und mit ihr kam der Schnee

Mit meiner Schwester kam der Schnee, mit meiner Schwester sollte er gehen.

Meine kleine Schwester Mira. Sie kam mit dem Winter. Ich sah sie auf der Straße sitzen, klein und dreckig. Mit großen dunklen Augen sah sie mich an. Ihre schwarzen Locken fielen ihr wirr ins Gesicht und ihre blasse Haut schien so dünn. Schutzlos und alleine saß sie am Straßenrand und wiegte sich hin und her. Sollte ich an ihr vorbeigehen, sie nicht beachten, wie alle anderen? Konnte ich das? Dieses kleine, hilflose Wesen.
Ich schritt auf sie zu, ohne zu zögern, mein Entschluss stand fest. Sie würde meine kleine Schwester sein. Ich wollte immer eine kleine Schwester. Ich wollte jemanden, den ich in meinen Armen halten konnte, streicheln, trösten, so wie es mit mir nie jemand getan hatte. Meine Schwestern hatten mich nie in den Arm genommen.
Ich sprach sie an. Ich lächelte ihr zu. Und sie, sie sah mich verständnislos an. Zuckte mit den Schultern. Schüttelte den Kopf. Ich redete auf sie ein, doch sie verstand mich nicht. Sprach sie eine andere Sprache?
Plötzlich gab es einen furchtbar lauten Knall. Wieder ein Bombeneinschlag. Ich zuckte zusammen, hielt mir die Ohren. Doch sie, sie schien das alles nicht wahr zu nehmen, nicht zu bemerken.

Geräuschlos fällt er zu Boden. Geräuschlos bleibt er dort liegen. Ich starre aus dem Fenster. Der Schnee fällt unaufhörlich und ich fühle mich Mira, meiner kleinen Schwester näher denn je. Der Schnee legte eine dicke weiße Decke über die Welt. Er dämpft die Geräusche um uns herum. Taube und Hörende nehmen ihn gleich wahr.

Ich hatte meine kleine stumme Schwester mit nach Hause genommen, meine Mutter hatte es nicht bemerkt. Ich gab ihr mein Stück Brot und meinen Schluck Milch.
Mit ihr war der Winter ins Land gekommen. An den dünnen Scheiben wucherten riesige Eisblumen. Mira und ich, zwei kleine Schwestern, wir saßen am Fenster und drückten unsere Nasen gegen die kalte Scheibe. Wir sahen wie der Metzgerbursche eilig durch den Schnee rannte und auf die Nase fiel. Ich kicherte und meine Mira kicherte auch. Des Abends nahm ich sie in meine Arme und wiegte sie solange bis sie einschlief. Ich sang für sie, und auch wenn sie mich nicht hören konnte, so schlief sie nicht ein ohne mein Singen. Mira war alles für mich, mein Schatz, mein Kleinod, meine Schwester. Nichts und niemand konnte ihr etwas zu leide tun. Und brüllten mich meine Schwestern auch an und schrieen ihr böse Worte zu, so war sie doch geschützt vor alle dem. Wie oft stellte ich mir vor, wie herrlich es wohl sein musste nichts zu hören. Des Nachts zu schlafen, ohne das Jammern des kranken Kindes im Ohr zu haben, ohne das Knirschen des alten Holzbodens unter dem Kopfkissen zu hören, das Scharren der Ratten auf den kalten Fließen.
Meine Mira mit ihren großen schwarzen Augen und ihren schwarzen Locken. Sie war mein ein und alles. Ich gab ihr so viel ich an Nahrung entbehren konnte. Und doch schien sie immer blasser zu werden, ihre Haut immer durchsichtiger. Die Momente in denen wir miteinander kicherten und in die kalte Welt hinaussahen wurden immer kürzer. Sie schlief so unendlich viel. Und ich hielt Wache. Lies meine Augen nicht von ihr ab.
Ich streichelte sie, hielt sie in meinen Armen. Ich küsste sie und redete mit ihr.

Eines Abends lag sie wieder in meinen Armen und ich sang ihr mein Lied und betete mein Gebet.
Und als ich geendet hatte und sie auf die Stirn küsste sah sie mich aus ihren großen schwarzen Augen an.
„Schwester“, brachte sie mühevoll über die Lippen. Das Wort klang wie aus einer anderen Sprache, verzerrt, unverständlich, doch ich, ich hatte verstanden und Tränen stiegen mir in die Augen.

Am nächsten Morgen fiel kein Schnee mehr. Die Geräusche waren wieder so schrill und laut wie immer. Und als wenn das meine kleine Schwester störte, entschloss sie sich zu gehen.
Sie ließ mich alleine in meiner lauten Welt. Doch ich hatte gelernt. Ich konnte weghören, ich konnte mir auch eine stumme Welt schaffen. Oder war ich taub? War ich jemals nicht taub gewesen? Hörte ich noch oder bildete ich mir diese Geräusche ein? Ich wusste es nicht mehr. Denn in mir herrschte eine tiefe Stille. Ein tiefes Schweigen umgab mich und ich genoss es, nichts zu hören. Nur manchmal, manchmal drang das Lachen eines Kindes zu mir durch und ich hörte es und genoss zu hören.

 
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Hallo frotte,

kannst du zur Abwechslung mal was schreiben, was mir nicht gefällt? ;)
Mir geht's da wie Jo: ich kann an deinen Geschichten einfach nicht mäkeln, die sind zu schön und zu traurig *sniff*

Wieder schaffst du mit wunderbarer Sprache und farbigen Bildern den Eingang zu der Seelen- und Gedankenwelt deiner Prot. Zeitweise fragte ich mich, ob diese Mira da tatsächlich real war, oder etwas, was deine Prot wegen ihrer Einsamkeit erfunden hat. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob ich eine Antwort darauf möchte.

Menno, ich wünschte, ich hätte in deinem Alter auch so geschrieben!

Was mir noch aufgefallen ist:

Doch sie, sie schien das alles nicht wahr zu nehmen, nicht zu bemerken.

Diese Wiederholungen mit Komma machst du oft (ist mir auch schon in "Verlassen" aufgefallen). So ist es in Ordnung, pass nur auf, dass es nicht zu viele werden.

So, und nun schau ich, ob ich nicht einfach deine Geschichten alle in die Empfehlungen bekomme.

Liebe Grüße,

Ronja

P.S. Du wolltest was Trauriges von mir lesen? Versuche es hier oder hier

 

hey mausi

jetz kriegsch von mir auch mal ne "kritik" : bist du denn noch ganz dicht??? du läst mich jahrelang NIX von dir lesen weil du s net gut genug findest un jetz stellst du n haufen texte auf die seite, die ALLE genial sind!! ich will dich jetz ma net zu arg loben, weil des alle andern hier machen :)
aber ich muss zugeben dass ich leicht neidisch bin, dass mir nie sowas gutes einfällt!!!

liebe grüße *kussl* linda

 

so, an alle meine kritiker: ein ganz liebes dankeschön!
bin echt überrascht und natürlich froh, dass ich ein paar "fans" habe :-)
hoffe, dass ich bald mal wieder mit was dienen kann, aber leider lässt sich sowas ja nicht erzwingen!

dankeschön nochmal

liebe grüße,
frotte

 

Hallo frotte,

ich muss sagen, auch mir hat deine Geschichte gut gefallen. Schön ruhig und melancholisch, den Schnee hast du als Symbol gut eingesetzt, er passt zur Taubheit der "Schwester" und bildet einen schönen Gegensatz zum Lärm, zu den Bomben.
Auch ich habe mich gefragt, ob Mira real ist. Ist sie nur Fantasie oder ist sie ein Mensch, auf den das Mädchen all ihre Bedürfnisse projiziert? Das In-den-Arm-genommen-werden z.B.? Will Mira überhaupt in den Arm genommen werden? Ich glaube fast, Schwestern nehmen sich eher selten in den Arm, zumindest kenne ich es so. Ich kam auch deshalb auf die Idee, dass sie vielleicht nur Fantasie ist, weil dieses Einschläusen zuhause sonst doch etwas unrealistisch wäre. Aber Felsenkatze hat Recht - es ist nicht wichtig für die Geschichte, ob real oder nicht. So kann sich jeder seine Gedanken machen.

Soviel zu meinen Gedanken zu deiner Geschichte. Ein paar kleine Fehler hab ich noch gefunden:

Die Momente in denen miteinander kicherten und in die kalte Welt hinaussahen wurden immer kürzer.
hier fehlt ein "wir"
Und als ich geendet hatte und sie auf dir Stirn küsste sah sie mich aus ihren großen schwarzen Augen an.
"die" statt "dir"
Ich wollte jemand, den ich in meinen Armen halten konnte, streicheln, trösten, so wie es mit mir nie jemand getan hatte.
"jemanden" statt "jemand"

Hat mir wie gesagt wirklich gefallen.
Liebe Grüße
Juschi

 

hallo juschi!
erst mal danke für die kritik und das aufmerksame lesen!
was das "in den arm nehmen" angeht. ich glaub dass grade in schweren zeiten, diese körperlichen kontakte für kinder sehr wichtig waren und sind. ich glaube des weiteren, dass es sehr viele familien gibt, in denen sich schwestern sehr nahe stehen, und sich oft gegenseitig tröstn und umarmen...
aber ich bin auch selber der meinung, dass es nicht wichtig ist, ob mira real ist oder nicht, und hoffe, dass ihrs mir nicht überl nehme, wenn ich jett nicht sage: "ja sie ist real" oder "nein sie ist nicht real"
will der fantasie des lesers nicht im weg stehen!

alles liebe
frotte

 

und mit ihr kam der Schnee

Hi frotte,

eine wunderschöne, gefühlvolle Geschichte. :)

Für mich ist die kleine Schwester eine Fantasiegestalt.
Geboren aus der Seele deiner Prot, die in dieser schweren Zeit, nicht hören und sehen will, was ungerechtes um sie herrum geschieht.

Indem sie die imaginere Schwester behütet, behütet sie sich selber.
Sehr deutlich für mich in deinem Satz: Und brüllten m i c h meine Schwestern auch an und schrieen i h r böse Worte zu, so war s i e doch geschützt vor all dem.

Es gibt auch heute noch sehr viele Kinder, die ihre unsichtbaren Freunde haben, wobei die auch woanders herkommen können. :shy:

Am Ende hat deine Prot ihr eigenes "Ich" gefunden.
Sie braucht die kleine Schwester nicht mehr.

Eine wunderschöne, tiefsinnige Geschichte.
Du hast mich neugierig auf dich gemacht. ;)

liebe Grüße, coleratio

 

hy coleratio,
freut mich, dass dir die geschichte gefallen hat!
übrigens eine wunderschöne interpretation, schön, dass dus so verstanden hast!
ich hoffe, ich hör mal wieder was von dir!
liebe grüße
frotte

 

Mira wie miracle. Die Interpretation, im Gegenüber hat sich die Protagonistin ein zweites Ich zugelegt, halte ich für sehr interessant. Eine multiple Persönlichkeit. Die extreme Situation ("Bombeneinschlag") macht so etwas auch denkbar.

Ein schöner Text, traurig auch, aber hoffnungsvoll. Vielleicht stört mich das letzte ein wenig. Nicht, weil ich ewiger Pessimist bin, sondern weil ich es für ein wenig einfach aufgelöst halte.

Dennoch: gerne gelesen.

 

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