- Beitritt
- 02.01.2002
- Beiträge
- 2.441
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Und raus bist du
Der Sommer 1976 war der heißeste Sommer meines Lebens. Die letzten Schulwochen waren eine Qual gewesen und als die Ferien endlich heranbrachen, machte die unerträgliche Hitze uns zunächst lustlos und träge - und wenn man zwölf ist, braucht es schon eine mörderische Hitze, damit sich fünf Jungs in den Ferien lustlos und träge fühlen. Zu diesen Jungs gehörten neben meinem besten Freund Andi noch drei weitere aus der Nachbarschaft. Kevin war so etwas wie unser Anführer, wenn wir je über solche Dinge nachgedacht hätten. Kevins Eltern gehörte das größte Haus und ihrem Sohn die größte Klappe, also war es nur logisch, dass wir uns meist nach ihm richteten. Ralf und Michael sprachen umso weniger und Andi und ich lagen irgendwo dazwischen.
Bis auf die außergewöhnliche Hitze versprach es ein Sommer wie jeder andere zu werden. Die Erwachsenen veranstalteten Grillabende und verfolgten die olympischen Spiele im Fernsehen; wir gingen schwimmen, spielten Fußball, fuhren mit dem Rad ins Nachbardorf und suchten Flohmärkte nach Comics ab. Unsere Mütter brachten uns Eistee, wenn wir in einem der Gärten lagen und unsere älteren Schwestern posierten zu den Klängen von »Dancing Queen« vor dem Spiegel. Dann geschah etwas, das unsere Aufmerksamkeit erregte. Jemand zog in das alte Potter-Haus.
Das alte Potter-Haus stand leer, so lange ich mich zurückerinnern kann. Es lag abgeschieden bei den Feldern in der Nähe eines kleinen Weihers, direkt neben einer Wiese, die uns oft als Fußballfeld diente. Den Erwachsenen gefiel es nicht, dass wir beim Potter-Haus spielten, aber zeigen Sie mir einen Zwölfjährigen, der sich davon beeindrucken lässt und ich zeige Ihnen die Geheimpläne der Kennedy-Verschwörung. Die Wiesen im Park gehörten uns immer nur so lange, bis die älteren Jungs uns vertrieben, während wir beim Potter-Haus ungestört waren. Der Name stand auf einem Schild an der Haustür, aber wer genau »Potter« gewesen war, konnte uns keiner der Erwachsenen sagen.
Eine Zeit lang ging an der Schule das Gerücht um, bei »Potter« handele es sich um einen Wahnsinnigen, der in einer Nacht seine Familie umgebracht und anschließend sich selber das Leben genommen hatte. Seitdem sei das Haus verflucht und niemand wolle mehr darin wohnen. Schulhofgerüchte bergen in der Regel tatsächlich einen wahren Kern, doch in diesem Fall dürfte der wahre Kern kaum die Größe eines Staubkorns besitzen. Man glaubt viel mit zwölf Jahren. Zwölf ist das Alter, in dem man zwar weiß, dass die Zahnfee ihre Groschen aus Mas Geldbeutel holt, aber zwölf ist ebenso das Alter, in dem man abends zur Vorsicht nochmal unter das Bett schaut. Zwölf ist auch das Alter, in dem Eltern ihrem Kind niemals erzählen sollten, dass sich seine Hände schwarz verfärben, wenn man sich »da unten« anfasst, sofern sie ihm keine schlaflosen Nächte bereiten wollen. Man glaubt viel mit zwölf Jahren, verdammt viel. Aber weiß Gott nicht alles.
*
An einem Abend im Juli erwähnte mein Vater beim Essen, dass jemand das Potter-Haus gekauft hatte. Nach dem, was er wusste, handelte es sich dabei um einen älteren, alleinstehenden Herrn.
»Dann ist wohl ab jetzt Schluss mit dem Fußballspielen«, sagte meine Mutter, »ein älterer Herr wird seine Ruhe haben wollen.«
Ich ahnte, dass sie womöglich Recht behalten würde. Solange das Potter-Haus unbewohnt gewesen war, hatte uns niemand von dort vertreiben können. Auch der neue Besitzer würde nicht das Recht dazu haben - aber er konnte sich bei unseren Eltern beschweren. Und das war womöglich noch schlimmer.
Als ich am nächsten Tag die anderen Jungs traf, hatten sie die gleiche Geschichte bereits von ihren Eltern gehört. Einen Moment lang sagte niemand etwas, bis Ralf vorsichtig fragte: »Und wohin gehen wir nun?« Ich öffnete den Mund um einen Vorschlag zu machen, als mich Kevin unterbrach. »Wir gehen zum Potter-Haus, das ist doch klar, oder? Sehen wir uns den alten Knacker erstmal aus der Nähe an. Wegjagen kann er uns immer noch.«
Mir gefiel Kevins Vorschlag nicht und aus den Gesichtern der anderen las ich heraus, dass sie meiner Meinung waren. Aber wenn Kevin Vorschläge machte, klangen sie seltsamerweise eher wie Befehle, obwohl ich nie genau festmachen konnte, woran das lag. Es waren weniger die Worte, als vielmehr die Art wie Kevin sie hervorbrachte, wie gerade er dabei stand, wie offen er jedem von uns dabei in die Augen sah und mit welcher Entschlossenheit er den Ball unter seinen Arm geklemmt hielt. Dieses Bild, wie Kevin damals vor uns stand und uns sagte, dass wir zum Potter-Haus gehen würde, hat sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt.
*
Wenn ich nicht gewusst hätte, dass jemand in das Haus eingezogen war, hätte ich es nach wie vor für unbewohnt gehalten. Das Unkraut wucherte im Vorgarten, die Farbe blätterte vom Gartenzaun. Kein »Willkommen«-Fußabtreter auf der Veranda, keine Blumen auf den Fensterbänken. Lediglich das Potter-Schild hing nicht mehr neben der Tür. Ein neuer Name war nicht zu lesen.
»Scheint keinen Sinn für's Familiäre zu haben, der Typ«, stellte Kevin fest. Michael kicherte. Sein Lachen klang ein wenig höher als sonst. Kevin zuckte die Schultern.
»Niemand zu sehen, niemand zu hören - gehen wir Fußball spielen.« Er grinste uns an. »Jetzt glotzt nicht so blöd. Eigentlich können wir doch gar nicht wissen, dass hier jemand wohnt, oder?«
Das leuchtete ein. Nicht dass wir erwartet hätten, dass uns der neue Besitzer mit Eis und Limonade empfangen würde. Aber wenn er sich nicht in irgendeiner Weise bemerkbar machte, konnte er wiederum auch nicht erwarten, dass wir von seiner Existenz wussten. Diese Erkenntnis stimmte uns froh und wir zogen zu unserem Fußballfeld. In den ersten Minuten jubelten wir nicht so frenetisch über jedes gefallenes Tor und fluchten nicht ganz so vehement wie gewohnt. Doch als sich auch nach einer halben Stunde nichts hinter den dunklen Fenstern des Hauses regte, vergaßen wir unsere Hemmungen. Noch heute höre ich, wie wir lachten.
*
Zuerst hatte es ausgesehen, als würde der Verkauf des Potter-Hauses unseren ganzen Sommer auf den Kopf stellen, jetzt hatte es den Anschein, als ändere sich überhaupt nichts. An jedem freien Nachmittag trafen wir uns an der Wiese zum Fußball spielen. Unseren Eltern ließen wir vorsichtshalber im Glauben, dass wir uns eine Stelle im Park gesucht hätten, doch vor dem neuen Besitzer hatten wir keine Angst mehr. Ab und zu war mir zwar, als bewege sich hinter einem der Fenster etwas, aber spätestens beim nächsten Tor war das wieder vergessen.
Nach etwa zwei Wochen entdeckten wir, dass die Garagentür offenstand.
»Da drin ist jemand«, flüsterte Andi.
»Warum flüsterst du?«, fragte Kevin eine Spur zu laut und trat einen Schritt vor. »Ich glaube, da ist er!«, rief er kurz darauf. Eine schmächtige Gestalt schob sich an einem schrottreifen Audi vorbei und ging ohne uns zu bemerken ins Haus. Aufgrund der gebückten Haltung und der schlurfenden Schritte schätzte ich den Mann auf mindestens Anfang Siebzig. Später am Abend sahen wir ihn nochmal, wie er seinen Müll in die Tonne stopfte.
Drei Wochen nach seinem Einzug passierte, was schon viel früher hätte passieren können - Andi verfehlte einen besonders hohen Schuss von Ralf und der Ball flog über den Zaun auf das Grundstück des ehemaligen Potter-Hauses. Früher war das keine große Sache gewesen. Der Zaun war hoch, aber nicht so hoch, dass nicht jeder von uns in der Lage gewesen wäre, darüberzuklettern. Das ging nun nicht mehr, denn auf den Spitzen hatte der alte Mann Stacheldraht angebracht. Wenn ich heute daran denke, wie wir fünf vor dem Zaun standen, lese ich in unseren Augen eine Mischung aus Betretenheit und Freude. War der Ballverlust auch ein Versehen gewesen, er lieferte uns die Gelegenheit, den Besitzer endlich einmal aus der Nähe zu betrachten.
*
Die Klingel zerriss die Stille, die über dem Haus und dem Garten lag. Ich atmete aus. Weil fünf Jungs auf einen Haufen den alten Mann verschrecken konnten, waren Ralf und ich ausgezählt worden. Bei solchen Aktionen traf es immer mich. Ene mene muh und raus bist du. Die anderen warteten hinter einem der Büsche vor dem Garten und beobachteten uns, während ich ein zweites Mal die Klingel drückte. Wieder schrillte ihr Alarm durch das Haus. So neugierig ich auch war, ein Teil von mir - der Teil, der abends nochmal unter das Bett sah - wünschte sich, dass der alte Mann nicht zuhause war, dass niemand öffnen würde, dass wir ein andermal wiederkommen müssten und dann würde Kevin sicher diese Aufgabe übernehmen wollen und ich könnte aus sicherer Entfernung ... Aus dem Haus erklangen Schritte. Ralf zuckte zusammen, als das erste dumpfe Poltern ertönte, das in ein Schlurfen überging. Immer abwechselnd, Poltern und Schlurfen, Poltern und Schlurfen. Mit einem Quietschen öffnete sich die Haustür einen Spalt. In der Dunkelheit des Flurs erkannte ich die Umrisse des alten Mannes. Seine rechte Hand umklammerte einen Stock.
»Ja?«, krächzte er. Ich fühlte mich unwillkürlich an den Klang der Türklingel erinnert und einen absurden Moment lang fürchtete ich in Gelächter ausbrechen zu müssen. Reiß dich zusammen! hämmerte es in meinem Kopf. Ich räusperte mich.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr ...« Ich gab ihm ein paar Sekunden Zeit, seinen Namen einzufügen, doch er ließ meinen begonnenen Satz in der Luft hängen. Ich nahm einen erneuten Anlauf.
»Wir, das heißt ich und meine Freunde, wir haben auf der Wiese neben Ihrem Grundstück Fußball gespielt und dabei ist uns unser Ball ... Er ist über Ihren Zaun geflogen.«
Der alte Mann starrte mir stumm entgegen. Hilflos drehte ich mich zu Ralf um. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie blass er war. Oder war er das sonst nicht?
»Wir möchten nur unseren Ball holen und dann verschwinden wir sofort«, sagte er mit so leiser Stimme, dass ich fürchtete, der alte Mann würde ihn nicht verstehen. Doch er verstand.
»Verschwindet.« Er spuckte uns das Wort wie eine Verwünschung entgegen. Ich holte tief Luft.
»Aber ...«
»Ich habe gesagt, ihr sollt verschwinden«, zischte es aus dem Dunkel. »Vergesst euren Ball«, fügte er hinzu und schloss die Tür ohne ein weiteres Wort. Ich weiß nicht, wie lange Ralf und ich dastanden, ohne uns zu rühren. Vermutlich dauerte es keine Minute, doch in meiner Erinnerung sind es Stunden. Als wir aus dem Gartentor traten, stürmten die anderen auf uns zu. In knappen Worten berichteten wir von unserem Fehlschlag. Kevin stieß einen Fluch aus.
»Der alte Penner glaubt, er könnte uns damit kleinkriegen! Aber da hat er sich geschnitten! Jetzt werden wir erst recht nicht von der Wiese weggehen. Jetzt erst recht nicht!«
*
Wenn ich sagte, dass Kevins Vorschläge sich bereits wie Befehle anhörten, dann waren seine Befehle Dogmen. Ich kann es nicht beschwören, aber ich bin mir sicher, dass keinem von uns Vieren wirklich wohl war bei Kevins Entschluss, weiterhin zur Wiese zu gehen. Nicht, dass uns der alte Mann Angst eingejagt hätte. Trotz seines feindseligen Verhaltens blieb er ein alter Mann, der einen Stock zum Gehen und vielleicht sogar wie mein Großvater einen Katheter zum Pissen brauchte. Doch in ihm lag genug Boshaftigkeit, um bei der erstbesten Gelegenheit unsere Eltern aufzusuchen, sollte das Schicksal ihm auf irgendeine Weise unsere Namen in die Hände spielen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er an unsere Namen geriet, war zugegebenermaßen gering. Wenn man aber Zwölf ist und seinen Feriensommer genießen möchte, dann kann man fast darauf wetten, dass irgendein Erwachsener daherkommen und es einem versauen wird. Erwachsene finden immer einen Weg.
Zwei Tage hielten wir uns fern vom Potter-Haus, ehe Kevin darauf bestand, wieder hinzugehen. Auf dem Weg redeten wir uns ein, dass wir nichts zu befürchten hatten, wenn wir das Grundstück des Alten nicht betreten würden. Trotzdem sah ich in jedem der Gesichter Erleichterung, als wir an der offenen Garage vorbeikamen. Der Audi war weg, entweder auf dem Schrottplatz, oder, was naheliegender war, mit seinem Besitzer in die Stadt unterwegs.
Erst am Abend kehrte er zurück. Schon von weitem hörten wir das Klappern der Motorhaube und wenige Augenblicke später bog der Wagen in die Straße ein. Sichtgeschützt hinter den Bäumen warteten wir, bis der alte Mann aus dem Auto stieg. Mit quälend langsamen Bewegungen öffnete er den Kofferraum und holte einen Sack hervor, den er unter leichtem Ächzen ins Haus trug. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, liefen wir an dem Haus vorbei.
Das nächste Mal sahen wir ihn zwei Tage später, als er seinen Müll entsorgte. Wieder trug er einen Sack, vielleicht sogar den gleichen, und wieder mühte er sich beim Tragen ab. Nach getaner Arbeit ging er ins Haus, ohne uns zu registrieren und niemand von uns bedauerte das.
Außer bei seinen Einkaufsfahrten und dem Müllentsorgen bekamen wir ihn nicht zu Gesicht. Das genügte zwar nicht, um seine Anwesenheit zu vergessen, aber zumindest von mir kann ich behaupten, dass ich keine Gedanken mehr an den Alten verschwendete. Wären wir älter gewesen, hätte uns vielleicht interessiert, warum er so alleine und zurückgezogen lebte und sich nie blicken ließ; womöglich wäre mit der Zeit so etwas wie Mitleid und später sogar Verständnis für einen Mann aufgekommen, der offenbar weder Familie noch Freunde besaß. Doch wir waren in erster Linie fünf Jungs, die Fußball spielen wollten.
Der Fußball war es auch, der uns zum zweiten Mal einen Strich durch die Rechnung machte. Andi war der Unglücksrabe, dem ein Pass in meine Richtung misslang. Der Ball schoss meterweit an mir vorbei über den Vorgartenzaun des Hauses, prallte von einer Latte ab und rollte vor unseren entsetzten Augen in ein offenstehendes Kellerfenster.
»So eine Scheiße«, murmelte Michael. Andi stöhnte unterdrückt auf. Ich bin sicher, im Geiste verfluchte er die sonst so hochgelobte Schusskraft seines rechten Fußes. Kevin trat gegen einen Baum.
»Scheiße Mann, kannst du nicht besser zielen? Der verdammte Ball ist nicht irgendein Scheiß-Plastikteil aus dem Supermarkt, den hat mir mein Vater von seiner letzten Auslandsreise mitgebracht! Das Scheißding ist aus echtem Leder, wenn so ein Scheiß-Spieler wie du überhaupt weiß, was das ist!«
Glauben Sie mir, ich wollte nicht lachen. Ich verstand dass Kevin wütend war, er hatte allen Grund dazu. Der Ball war tatsächlich ein Geschenk seines Vaters und er war tatsächlich aus echtem Leder. Kevin hatte uns das oft genug auf die Nase gebunden und so wie er mit ihm umging, hätte es mich nicht gewundert, wenn er ihn zuhause in einem gläsernen Schrein aufbewahrte. Und trotzdem, als ich Kevin wie ein aufgebrachtes Rumpelstilzchen, dessen jedes zweite Wort aus »Scheiße« zu bestehen schien, auf der Wiese toben sah, konnte ich nicht anders. Anfangs versuchte ich das Kichern als Husten zu tarnen, doch spätestens als Kevin mir ein verärgertes »Scheiße Mann, was hast du denn?« zurief, war es um mich geschehen. Ich lachte, obwohl ich wusste, dass ich es bereuen würde; ich lachte, obwohl ich die geschockten Mienen der anderen sah; ich lachte, obwohl ich mir vorstellte, ich würde für diesen Ausbruch in der Hölle landen und bis in alle Ewigkeit auf einer Streckbank mit Federn gekitzelt werden. Erst als mir die Tränen über das Gesicht liefen, gelang es mir, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das hysterische Gelächter ebbte ab zu einem atemlosen Glucksen und versiegte schließlich ganz. Die Stille danach war schlimmer als jedes Lachen.
»Du findest das also witzig«, brach Kevin das Schweigen. Ich schüttelte den Kopf und wollte widersprechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Du findest das verdammt witzig, dass mein Ball jetzt bei dem alten Pisser im Keller verfaulen wird, ja?« Er spuckte aus. Zwei, drei Sekunden lang durchbohrte er mich mit seinem Blick, ehe er herumschnellte und ihn auf Andi richtete.
»Und du Blödmann bist Schuld daran, dass mein Ball durch dieses verdammte Fenster gerollt ist. Scheiße, so viel Taschengeld bekommst du nicht in hundert Jahren, dass du mir den ersetzen kannst. Aber ...« Seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. »Aber du hast Glück. Du musst ihn mir nicht ersetzen.« Er wartete einen Moment. »Du wirst ihn mir zurückholen.« Die Schärfe des letzten Wortes jagte mir einen Schauer über den Rücken. Andis Augen weiteten sich.
»A-aber ... Kevin, ich kann doch nicht einfach ...«
»Der Typ ist vor einer Stunde weggefahren und kommt nie vor zwei Stunden zurück. Außerdem hört man seine Schrottkarre schon, wenn er noch auf der Hauptstraße ist.« Er sah zum Haus hinüber. »Das Fenster steht offen und du bist dünn genug, um dich da durchzuquetschen. Wahrscheinlich steht im Keller genug Gerümpel herum, damit du nachher wieder zum Fenster hochkommst.« Er fixierte Andi. »Mit dem Ball natürlich.«
Andi sagte keinen Ton. Sein Gesicht war blass geworden. Er war kein Feigling, aber ich kannte seine Eltern, kannte sie nach all den Jahren sogar gut. Wenn ihr Sohn in einem fremden Gebäude erwischt werden würde, wäre der Sommer für ihn gelaufen. Dann wäre der Rest des Jahres für ihn gelaufen. Während ich noch fieberhaft überlegte, wie man Kevin von seinem Beschluss abbringen konnte, wandte sich dieser an mich.
»Du wirst ihn begleiten«, sagte er in selbstverständlichem Tonfall. Ich starrte ihn an. Kevin grinste böse. »Er ist doch dein bester Freund, oder?« Ich hörte, wie Andi scharf einatmete. Ich straffte die Schultern und sah Kevin in die Augen.
»Wenn du keinen Mumm hast, selber zu gehen - okay.« Ich wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte mich zu dem Haus. Andi stolperte hinter mir her. Ich spürte die Blicke der anderen im Rücken, aber für mich zählte nur, den Ball so schnell wie möglich zurückzuholen, ehe der alte Mann womöglich auf die Idee kam seine Einkäufe abzukürzen, weil er den Keller noch aufräumen musste. Auf dem Weg zum Haus sprach Andi ununterbrochen auf mich ein.
»Tommy, was machen wir, wenn im Keller nichts zum Draufklettern ist und wir nicht wieder zum Fenster rauskommen? Was ist, wenn der Alte eine Alarmanlage hat? Scheiße, kann es nicht sein, dass trotz allem doch noch irgendjemand in diesem Haus wohnt und wir ihm über den Weg laufen? Tommy, meine Eltern bringen mich um, wenn ...«
»Wenn, wenn, wenn! Wir können es auch sein lassen und Kevin sagen, dass er sich von seinem Vater einen neuen Ball wünschen soll! Ist dir das lieber?«
Andi schluckte und schüttelte stumm den Kopf.
*
Das Kellerfenster war klein, doch nicht so klein, wie ich befürchtet hatte. Mit ein paar Handgriffen hatte ich das Rollo davor so weit zurückgebogen, dass es für Andi und mich reichen musste. Es war das einzige Kellerfenster, das ich entdecken konnte. Das war natürlich typisch. Kevin hatte Andi vorgeworfen, nicht richtig gezielt zu haben? Von wegen. So genau musste man erstmal in die Scheiße treffen können.
»Meinst du, wir passen da durch?«, kam es von Andi hinter mir.
»Ja, wir passen durch. Und du machst gleich den Anfang, du Super-Fußballer.«
Ich schubste Andi vor das Fenster. Einen Moment lang stand er mit zweifelndem Blick davor, ehe er sich seufzend auf den Boden setzte und mit den Füßen zuerst durch das Fenster rutschte. Als er bis zur Hüfte verschwunden war, hielt er kurz inne. »Ich glaub, da ist etwas ...« Mein Herz setzte für eine Sekunde aus. »... ich glaub, da ist ein Tisch unter mir!«
Ich atmete auf. »Versuch dich mit den Füßen draufzustellen!«, rief ich ihm zu. Andi nickte und glitt durch das Loch in den Keller wie in einen schwarzen Schlund. Ich hörte ein Poltern und gleich darauf einen unterdrückten Schrei.
»Andi!«
Ich stürzte zum Fenster.
»Tommy ...«, klang es schwach aus dem Keller, »ich bin umgeknickt ...«
Ohne zu Zögern rutschte ich hinterher. Dabei blieb ich mit dem Arm an dem Rollo hängen, das mit einem Knall herunterrasselte. Ich wollte es wieder hochschieben, doch es war so fest eingerastet, dass es mir nicht auf Anhieb gelang.
»Tommy ...?«
Andis Umrisse waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Ich kniete mich neben ihn. Seine Hände umklammerten seinen Fuß.
»So ein Mist«, murmelte er mit gepresster Stimme, »es tut höllisch weh, wenn ich ihn bewege.« Er sah auf. »Wie soll ich da wieder hochkommen?«
»Das geht schon«, sagte ich. »Wird ein bisschen wehtun und ich muss dich dabei tragen, aber so schwer bist du nicht.«
Ich klang zuversichtlicher, als ich mich tatsächlich fühlte. Aber wir mussten ruhig bleiben. Der Alte würde noch mindestens eine Stunde wegbleiben und bis dahin hatten wir den Ball sicher längst gefunden. Irgendwo an der Wand musste ein Lichtschalter sein. Während Andi seinen Knöchel hielt, tastete ich mich durch den Raum. Die stickige Luft roch nach dem Moder verschimmelter Wände und etwas anderem, undefinierbarem. Leichen wisperte meine Phantasie und fast hätte ich grinsen müssen. Nein, Leichen waren es nicht. Der Geruch erinnerte mich vielmehr an das Brötchen, das meine Mutter mal nach vier Wochen in meinem Rucksack gefunden hatte. Nur dass es sich hier um mindestens ein Dutzend Brötchen handeln musste. Meine Finger glitten suchend über die feuchte Wand. Der Raum war groß, aber nicht so groß, dass sich der verdammte Schalter eine Ewigkeit vor mir verstecken konnte. Und es musste einen Schalter geben, es musste einfach, der Alte konnte unmöglich in der Dunkelheit herumtappen, wenn er in den Keller ging ...
»Tommy?«
Ich drehte den Kopf. »Was gibt's?«
Andi senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern: »Ich hab eben was gehört!«
»Was gehört?«
»Schritte. Ein Poltern. Irgend so etwas.«
»Kann nicht sein«, gab ich schärfer zurück als beabsichtigt. »Den Wagen des Alten hört man kilometerweit und er wird ja wohl kaum zu Fuß zurückgedackelt kommen.« Ganz zu schweigen davon, dass ich trotz allem darauf vertraute, dass die anderen Jungs uns nicht im Stich lassen und rechtzeitig warnen würden.
»Aber irgendetwas war da«, sagte Andi. Wir schwiegen. Ich hörte nichts außer meinen Atemzügen. In der Ferne hupte ein Auto. Alles in Ordnung. Andi hatte sich geirrt. Meine Hand tastete weiter die Wand entlang. Gleich würde ich auf einen Schalter stoßen, gleich würde das Licht angehen und gleich würden wir den Ball sehen, wahrscheinlich direkt vor unseren Nasen. Andi würde erleichtert auflachen und ...
... und ich hörte es auch. Es war so leise, dass man es kaum wahrnahm. Aber es war da. Ein Poltern. Aus einem der anderen Kellerräume oder von oben. Aus diesem Haus. Gott, aus diesem Haus!
»Tommy, da war es wieder ...«
»Schsch«, machte ich. Die Haare auf meinen Armen stellten sich auf. Ein Kribbeln lief über meine Haut. Bitte Gott, mach dass es still bleibt oder dass einer der Jungs von draußen ruft, dass alles okay ist, bitte, lieber Gott.
Es polterte wieder. Diesmal lauter. Nicht viel, nur ein bisschen. Ein bisschen lauter. Ein bisschen näher.
»Tommy, wir müssen hier raus! Igendjemand ist in diesem verdammten Haus und wir müssen ...« Andi stöhnte auf. »Scheiße ... ich kann den Fuß nicht bewegen.«
Ein Schauer lief über meinen Rücken. »Reiß dich zusammen Andi, ich trag dich zum Tisch und dann müssen wir das Rollo herunterreißen und ...«
Ein erneutes Poltern schnitt mir das Wort ab. Es war lauter als das zweite und viel lauter als das erste Poltern. Und mit einem Mal war ich mir sicher, dass es nicht von oben kam. Es kam aus einem der Kellerräume.
Wir hatten keine Chance, rechtzeitig aus dem Fenster zu klettern. Mir wäre es vielleicht noch gelungen, aber Andi würde es niemals schaffen und ich dachte keine Sekunde daran, ihn im Stich zu lassen. Mein Blick hastete durch den Raum. Die Augen hatten sich in den letzten Minuten so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich einzelne Umrisse erkennen konnte. Auf dem Boden standen Kisten und Eimer, alle zu klein um sich darin zu verstecken. In einen Schrank hätten wir hineingepasst, doch ich sah keinen. Stattdessen standen an den Wänden Regale.
»Komm!«, zischte ich und zerrte den wimmernden Andi hinter das größte Regal, das ich in der Finsternis ausfindig machen konnte. Gerade als ich eine hüfthohe Kiste vor uns stellte, polterte es im Kellerflur. Nicht in einem der anderen Kellerräume. Im Flur.
Mein Herz setzte eine Sekunde aus, ehe es mit rasender Geschwindigkeit weiterklopfte. Ich presste mich so nah wie möglich an die Wand. Mit jedem Atemzug inhalierte ich abgestandenen Schimmelgeruch. Ich würgte. Lieber Gott, wer auch immer da draußen ist, lass ihn kein Licht anmachen, lass ihn einfach vorbeigehen und uns nicht bemerken, bitte, ich tu auch alles was du willst ...
Es war nicht nur ein Poltern, jetzt waren es auch Schritte. Richtige Schritte, die sich den Flur entlangbewegten und vor der Tür zum Stehen kamen. Meine Beine zitterten. Gott, lass mich nicht zusammenbrechen. Die Tür öffnete sich mit einem Knarren. Kein Licht fiel in den Raum, ich sah noch nicht einmal einen Schatten, doch ich spürte, dass jemand bei uns war, spürte seine Bewegungen und als ich die Augen schloss, hörte ich ihn wieder. Keine Schritte. Ich hörte ihn atmen. Mein Herz klopfte so laut, dass ich fürchtete, es würde uns verraten. Er atmete und bei Gott, es war ein Atmen, wie ich es nie zuvor gehört habe, dumpf und rasselnd wie das Echo einer Lawine. Dann setzten die Schritte wieder ein und tapsten durch den Raum wie die eines Fremden, der sich erst zurechtfinden muss. Mit jedem Schritt in meine Richtung biss ich fester auf die Lippen. Da war kein Schmerz, da war nur bitteres Blut, das sich in meinem Mund sammelte. Er kam näher, immer näher. Ich hörte, wie Kisten und Eimer verschoben wurden und Gott, gleich war er an der Kiste die vor mir stand und jetzt war er vor ihr und drückte dagegen, er schob sie zur Seite und ich fühlte seinen heißen Atem und gerade als ich glaubte, das Bewusstsein verlieren zu müssen, stießen meine Finger an etwas Weiches. Andis Hand! Ich fasste nach der warmen Hand des Freundes und drückte, drückte so fest ich konnte und klammerte mich an das einzige, was mich in diesem Keller vor einer Ohnmacht bewahrte. Mein Kopf dröhnte, in meinen Ohren rauschte es und ich krallte meine Nägel in Andis Hand, im Vertrauen darauf, dass die Angst auch seine Lippen versiegelte. Die Zeit stand still an jenem Tag im Keller und niemals hätte ich geglaubt, dass es nur Sekunden waren, in denen dieses Wesen, von dem ich nie erfahren wollte was es war, vor mir stand und mir Unrat, Tod und Verwesung ins Gesicht atmete. Quälende Momente verstrichen und als ich befürchtete, nicht mehr an mich halten zu können, riss mich ein Klopfen von draußen aus meiner Versteinerung.
»Andi? Tommy? Beeilt euch, der Alte kommt zurück!«
Nie war ich glücklicher gewesen Kevins Stimme zu hören. Andi hörte sie auch, denn seine Hand zuckte in der meinen und in grenzenloser Erleichterung gab ich sie frei.
»Macht schon, er biegt gleich in die Straße ein!«
Und tatsächlich klapperte in der Ferne der alten Audi. Das Wesen sog rasselnd die Luft ein, hauchte mir ein letztes Mal entgegen, ehe es sich abwandte und über den Boden zur Kellertür schob. Nach einer Sekunde, in der ich so fest betete wie nie zuvor in meinem Leben, ließ es sie hinter sich ins Schloss fallen.
Vom Fenster erklang ein Poltern. »Tommy!« Ein Lichtstrahl schoss in den Keller und blendete mich, ich blinzelte und erkannte Kevin und die anderen, denen es gelungen war, das Rollo herunterzureißen. All meine Anspannung löste sich in einem Lachen auf, als ich die Freunde sah, wie sie nach mir Ausschau hielten.
»Ich bin hier!«
Ich schnellte zu Andi herum.
»Andi, sie sind ...«
Mein Lachen erstarb auf meinen Lippen. Andi stand nicht neben mir. Andi lag in einer Ecke. Mit zwei Schritten war ich bei ihm. Zitternd fühlte ich seinen Puls. Er lebte. Er war bloß ohnmächtig. Als ich sein Gesicht berührte, wachte er auf. Benommen sah er um sich und murmelte etwas.
»Beeilt euch, der Alte fährt vor!«, schrie Kevin und jagte mit den anderen davon. Ich fasste Andi unter den Armen und zog ihn zum Tisch, ohne auf sein Gejammer zu achten. Ich hörte, wie der Wagen des Alten auf das Grundstück einbog und zum Stehen kam. Er stieg aus und schlurfte zum Haus. Kaum dass er die Tür hinter sich zuschlug, hatte ich Andi auf den Tisch gezerrt. Meine Arme bebten vor Anstrengung, als ich meinen halb besinnungslosen Freund durch das Fenster schob. Wären Michael, Ralf und Kevin nicht zurückgekommen um mir zu helfen, wäre ich womöglich auf dem Tisch zusammengebrochen. Mit vereinten Kräften holten sie uns aus dem Keller heraus. Ohne Zeit zu verlieren, humpelten wir vom Grundstück des Alten zur Wiese. Wir hatten es geschafft.
*
Andi kam bald zu sich. Die anderen bestürmten uns pausenlos mit Fragen, was im Keller passiert sei. Ich setzte an zu berichten und brach wieder ab. Hier draußen in der Sommersonne erschien mir unser Erlebnis auf einmal unwirklich. Andi übernahm das Erzählen.
»Im Keller war es stockdunkel, wir konnten nicht die Hand vor Augen sehen. Geschweige denn den Ball«, fügte er hinzu und warf einen bittenden Blick auf Kevin, der ungeduldig abwinkte. »Tommy suchte die Wände nach einem Schalter ab und plötzlich hörten wir Schritte.« Er schwieg.
»Und dann?«, hakte Michael nach. Andi räusperte sich verlegen.
»Und dann muss ich ohnmächtig geworden sein.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das kam erst später. Verdammt, Andi, du musst doch noch wissen, was im Keller ...« Ich sah ihn hilfesuchend an. Andi schlug die Augen nieder.
»Tur mir Leid, dass ich einfach weggesackt bin, Mann. Hast die ganze Scheiße da alleine durchstehen müssen. Der verdammte Knöchel, die Schmerzen, die Aufregung ... konnte einfach nicht mehr. «
»Kam jemand in den Raum? War da jemand?«, fragte Kevin aufgeregt. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Andi«, sagte ich mit rauher Stimme, »du musst dich doch erinnern. Ich hab deine Hand gedrückt, als ...«
»Mann, ich sag doch, ich bin weggesackt, kaum dass ich die Schritte hörte. Hab nichts mehr mitbekommen.« Er lächelte mich schief an. »Hätte dir ja gerne die Hand gehalten, wenn ich noch irgendwie klar gewesen wäre.«
Ich konnte ihn nur anstarren.
*
Andis Knöchel kam wieder in Ordnung. Seinen Eltern erzählte er, er sei beim Fußballspielen umgeknickt. Keine große Sache.
Ich dagegen hielt meinen Mund. Andi gab an, nur Schritte gehört zu haben und ich schloss mich ihm an. Was sollte ich auch anderes sagen?
Wir gingen nicht mehr zum Potter-Haus und bekamen den alten Mann nicht mehr zu Gesicht. Es bekam ihn überhaupt niemand mehr zu Gesicht. Irgendwann hieß es, er sei ausgezogen. Niemand wusste, wohin. Wir gingen trotzdem nicht mehr zur Wiese.
Hin und wieder dachte ich später noch daran, den anderen zu erzählen, was im Keller passiert war. Aber immer, wenn ich das Thema anschnitt, legte sich ein Schleier vor mich, als wolle er bestimmte Dinge zurückhalten. Vielleicht war es besser, nichts zu sagen. Ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden und wenn, hätte ich sie womöglich selbst nicht mehr geglaubt. Denn manchmal hielt ich es für denkbar, dass ich genauso ohnmächtig gewesen war wie Andi. Nur mit lebhafteren Träumen.
Doch wenn ich abends im Bett liege und in die Dunkelheit lausche, höre ich es manchmal wieder. Ich liege da und höre das Atmen, das mich in jenem Sommer fast den Verstand gekostet hätte. Und kurz bevor ich einschlafe, fühle ich für einen Moment die Hand, die mir half ihn zu bewahren. Hätte ich jemals erfahren, wem sie gehörte, hätte ich ihn vermutlich verloren.