- Anmerkungen zum Text
Ich habe diesen Text schon auf einigen Lesebühnen vorgetragen und überwiegend positive Resonanz erhalten. Jetzt möchte ich versuchen, ihn bei Zeitschriften einzureichen (vielleicht auch in meiner Autorenmappe für eine Bewerbung zum Studium für kreatives Schreiben) und würde ihn demnach gerne noch einmal unter die Lupe nehmen und mit eurem Feedback anpassen. Die Erzählung ist kurz und abgeschlossen, mein Fokus liegt auf der Wirkung des Textes und wie er sie beim Lesen entfaltet. Manche Passagen haben auch etwas Poetry-Slam-haftes finde ich, weshalb ich diesen Text sehr sehr mag.
Und sie schreien in die Nacht
Und sie schreien in die Nacht. Jung, dumm und vielleicht auch naiv, schreien sie, heulen mit den Wölfen, die eigentlich keine Wölfe sind, sondern Wellen und Wind.
Lorenzo und Raffael überspringen die Absperrungen und rennen voraus. Wie Kinder tollen sie die, in den Felsen geschlagenen, Stufen herunter. Sie lachen, scherzen und rufen den Zweien zu, die noch an der obersten Schwelle harren.
Giulia drängt sich an Mattheo. Sie spürt seinen Herzschlag und unter ihren Fußsohlen den nackten Stein, darin das letzte Kribbeln der Mittagshitze. Ein Salamander schießt aus dem Gestrüpp. Er huscht vorbei, überquert die von der Zeit geblichenen Fliesen, und taucht in eine fingergroße Höhle am Wegesrand, aus der die Gischt, hunderte Meter unter ihnen, heraushallt.
Am anderen Ende der Bucht erlöschen die Lichter der Stadt, eines nach dem anderen. Nur Diskothek und Sternenhimmel halten sich. Das Meer liegt schwarz. Es riecht nach Salz und Sonne.
Mattheo setzt einen Fuß in die Luft. Einen Weiteren und er steht auf der nächsten Stufe. Hunderte folgen. Giulia lässt ihn los und geht als Letzte. Sie streckt die Arme aus und streift mit der Linken den rauen Felsen entlang, streichelt mit der Rechten Blumenköpfe, Rinde und Gräser. Bevor ihre Hand sich in einem Kaktus verfängt, reißt Mattheo sie weg. Er hält sie fest umschlossen, bis sie das Ende der Treppe erreichen.
Wo Sandstrand und Steilklippe sich treffen, prickelt die Luft. Giulia atmet ein, bis ihre Nasenflügel beben. Es fühlt sich an, als trinke sie Mineralwasser. Sie befreit sich aus Mattheos Griff und vergräbt ihre Füße im Sand.
Lorenzo folgt ihr. Er erzählt Etwas vom Feiern des Erfolgs, von Abschluss, von Anfang und von Ende. Mit den Silben, aus denen Worte, aus denen Sätze werden, wirft er seinen Rucksack über die Schulter und kramt eine längliche Pappverpackung hervor. Giulia grinst, streckt die Hand aus und greift eine der Wunderkerzen. Lorenzo lässt die Packung fallen und zückt ein Feuerzeug.
Ein leises Zischen. Funken, wie tausende Pfeile, springen durch die Luft. Giulias Augen leuchten mit der Kerze um die Wette. Mit brennendem Zauberstab tanzt sie über den Strand zur Musik der rauschenden Wellen und den Worten von Erfolg, Abschluss, Anfang und Ende. Sie zeichnet Muster in die Luft mit glimmendem Zauberstab, zeichnet Sonne, Sterne und Mond.
Giulia streckt die Arme aus und zieht in Pirouetten die imaginäre Umlaufbahn eines Planeten. Sie springt und zeichnet einen weiteren Planeten, eine weitere Umlaufbahn. Noch einmal und immer so weiter, bis sie ein ganzes Sonnensystem kreiert. Noch einmal und immer so weiter, bis aus dem Sonnensystem eine Galaxie wird.
Lorenzo holt drei Flaschen Bier aus dem Rucksack und teilt sie mit Mattheo und Raffael. Sie sitzen auf der letzten Stufe, reden über Erfolg, Abschluss, Anfang und Ende. Giulia tanzt. Außer Atem, doch die Luft prickelt, wie Mineralwasser und gibt ihr Kraft. Sie schreit in die Nacht. Jung, dumm und vielleicht auch naiv, heult sie mit den Wölfen, die eigentlich keine Wölfe sind, sondern Gespräche der Jungen, Wellen und Wind.
Sie hatten einen Schwur gemacht. Im hohen Alter würden sie, auf den engen Gassen ihrer Heimatstadt, zwischen Mauerwerk und Wäscheleine, auf Stühlen, von denen der Lack bereits abblätterte, sitzen. Sie würden auf den Abend warten, da entsponnen sich die spannendsten Geschichten. Giulia, Raffael, Mattheo und Lorenzo säßen in den ersten Reihen und tauschten die Lebensweisheiten aus einem Leben, das sie eigentlich noch zu leben hatten. So stellten sie es sich vor. Aber …
Abschied. Giulia stolpert. Die Worte schmecken bitter, verfault, wie Raffael sie spricht. Er habe gewartet, auf den richtigen Moment. Giulia stürzt in den Sand. Was sei der richtige Moment? Giulia schnappt nach Luft, doch das Prickeln ist weg. Kein Beben der Nasenflügel, kein Lachen, kein Schreien in die Nacht. Raffael erklärt, mit fester Stimme und ruhigem Verstand. Er erzählt von Erfolg, Abschluss, Anfang und Ende. Doch eigentlich ist es nur ein Ende, wie die Anderen es empfinden.
Schulzeit zu viert. Das Pauken, aber eigentlich mehr das nicht Pauken. Mattheos Liebesgeständnis an Giulia. Lange Sommernächte an der Grenze von Sandstrand und Steilklippe, mit dem Blick auf die Bucht. Ihr geheimer Strand, dessen Betreten seit Jahren verboten war. Es drohte die Gefahr, beim Herabsteigen abzustürzen. Die Treppenstufen mussten saniert werden. Von wem und wann?
Die Gefahr störte sie nie, sie reizte nur. Sie fanden den Weg auch im Dunkeln, wenn selbst das Licht der kleinen Disco, der Hafenstadt am anderen Ende der Bucht, erlosch. Dann wiesen die Sterne ihnen den Pfad, über manchmal glitschige, manchmal staubtrockene Treppen, entlang an Felswänden, hinter denen die Salamander schliefen und die Wellen rauschten.
Lorenzo fragt erneut das Warum. Aus Silben werden Worte, aus Worten werden Sätze, aus den Sätzen wird ein Streit. Und sie schreien in die Nacht. Jung, dumm und vielleicht auch naiv, heulen sie mit den Wölfen, die eigentlich keine Wölfe, sondern nur sie selbst beim Streiten, sind.
Sandkästen, Spielplätze, Schulbänke und Abschlussprüfungen ziehen vorüber, wie ein Fischerboot eines Sonntags nachmittags. Giulia hatte ein neues Kleid getragen, als das Meerwasser ihr entgegenschlug. Mattheo konnte sich vor Wut kaum halten. Er schubste Lorenzo, der aus dem Lachen nicht herauskam, in den Kanal. Da musste Giulia lachen. Raffael stimmte ein und irgendwie standen sie dann alle da und lachten, während Mattheo Raffael aus dem Wasser half.
Sie streiten so lange, bis die Worte aufgebraucht sind und eine goldene Linie sich in den Horizont zwängt und Himmel und Meer auseinanderdrückt.
Giulias abgebrannte Wunderkerze liegt im Sand. Tot. Die Jugendlichen sitzen auf den Stufen. Augenringe und getrocknete Tränen. Selbst Mattheo hat geweint. Lorenzo fragt erneut das Warum und Raffael erklärt, mit fester Stimme und ruhigem Verstand. So ganz verstehen sie es immer noch nicht.
Aber müssen sie das? Giulia wirft die Haare zurück und gräbt die Pappverpackung aus. Sie grinst und bietet den Dreien jeweils eine Wunderkerze an. Sie selbst nimmt die Letzte.
Mit brennendem Zauberstab tritt sie voran in den Sand. Giulia tanzt. Sie dreht sich, die Arme ausgestreckt, zeichnet die Umlaufbahn von Planeten, die Spiralform von Galaxien. Sie erschafft Universen, ohne Raffael und mit Raffael. Universen, in denen sie sich wiedertreffen, sich besuchen, niemals trennten, niemals kannten. Giulia stellt fest, dass dieses Universum gar nicht so schlimm sein kann.
Raffael zündet seine Kerze an. Er folgt Giulia, auf nackten Fußsohlen über den Strand. Erst erschafft er eine Landschaft, dann eine Welt, seine Welt. Ohne Giulia, Mattheo und Lorenzo und irgendwie auch mit ihnen.
Mattheo und Lorenzo malen mit – ein Urknall in ihren Händen – ihre eigenen, kleinen Universen. Sie schreien in das Morgengrauen. Jung, dumm und vielleicht auch naiv, schreien sie, heulen mit den Wölfen, beweinen einen Abschied und feiern ein Wiedersehen.
Sie ketten ihre Sorgen an die Sterne. Die Wunderkerzen brennen aus. Die Sonne am Horizont saugt, wie ein schwarzes Loch, die Universen, die Sterne und die Sorgen ein. Der Abschied bleibt. Aber sie sind nicht mehr traurig und auch nicht mehr wütend. Irgendwie sind sie befreit.
Sie gehen den Weg zurück, die Steintreppen hoch. In der Ferne klingt eine Kirchenglocke. Möwen kreischen. Aus einer fingergroßen Höhle streckt ein Salamander sein Häuptchen empor und mustert die vier Jugendlichen.
Sie beschreiten gemeinsam ihre getrennten Wege. Raffael wird Architekt in einer berühmten Stadt. Giulia und Mattheo heiraten, gründen eine Familie im Nachbarsort, wo die Mieten niedriger sind. Lorenzo bleibt in der Stadt. Er übernimmt das Schuhgeschäft seines Vaters.
Und Jahre später sitzen sie zwar nicht zwischen Mauerwerk und Wäscheleine, auf Stühlen, von denen der Lack bereits abblättert, um die Lebensweisheiten, aus einem Leben, das sie eigentlich schon gelebt haben, zu tauschen. Doch sie treffen sich, regelmäßig, manchmal öfter und manchmal seltener. Dann steigen sie über die Absperrungen, denn die Treppen sind noch immer nicht saniert, und erschaffen in der salzigen Luft ihrer Heimat viele, kleine Universen mit den Wunderkerzen.