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Unschuld
Die Marmorstufe auf der sie steht, ist kalt und glatt. Das Mädchen ist nackt.
Um ihre Hüfte schlängelt sich eine feine Silberkette. Ihre Haut erleuchtet, hell schimmernd, die Wände links und rechts. Sie hält ein muffiges Buch unter ihrem Arm. Wie Seide im Wind, gleitet sie die Treppe hinunter. Zuunterst angekommen, schleicht sie in das finstere Gewölbe. Ihr kleines Herz öffnet sich und dünne, rote Fäden schlängeln durch die Luft. Bei jedem Hindernis zucken diese kurz zusammen und bahnen sich erneut einen Weg.
Plötzlich dringt ein Gurgeln und Lechzen an ihr Ohr. In der Dunkelheit sieht sie ein Licht näher wippen. Dieses flackernde Feuerchen sitzt zwischen zwei Ohren, die zu einer muskulösen Gestalt aus Stahl und Öl gehören. Er sieht sie aus zwei flimmernden Gesichtern, die gegeneinander verschoben sind, hypnotisierend an. Wellenartig lässt er die Muskeln auf seinen vier übergrossen Armen spielen.
Das Mädchen ignoriert dieses Spiel und bewegt sich fliessend und langsam durch ihn hindurch. Er sackt zusammen.
Mit vorsichtigen Fingern nimmt sie das Feuer aus seiner Stirn und hält es bei sich. Er sieht ihr gebannt zu. Sie kichert schüchtern, dabei wechselt das Licht in ihren Händen die Farbe von einem kräftigen Gelb zu einem immer schwächer werdenden Rot. Gleichzeitig schwinden auch die Muskeln von ihm, als würden diesen die Luft ausgehen. Nervös, versucht er seine Blösse zu verbergen. Das Feuer glimmt ein letztes mal kurz auf und fällt dann als glatt gelutschter Kieselstein in ihre Hände. Mit einem Lächeln auf den Lippen nimmt sie das Buch mit dem Ledereinband unter ihrem Arm hervor. Die Seiten sind alle leer. Sie legt das Steinchen auf das Papier und knallt das Buch zu. Ein Knirschen ist zu vernehmen, so als würden zehntausend Federn gleichzeitig schreiben. Schmunzelnd hält sie ihm das Buch hin. Er schreckt zurück und weist es mit flehendem Blick ab. Sie runzelt die Stirn und nimmt das Buch zurück, um es zu öffnen. Sie beginnt das blutrote Gekritzel zu entziffern. Am Anfang noch unmerklich, dann immer offensichtlicher schwindet der weisse Glanz auf ihrer Haut und die dünnen roten Fäden verwelken.