- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Unter Tage
Tosender Applaus setzt ein, als ich den Speiseraum betrete. Es ist mein Tag, ganz so, wie ich ihn mir ausgemalt habe. Tobias klopft mir auf die Schulter. »Alles klar?« Ich nicke lächelnd und schlendere weiter. Es sind bekannte und unbekannte Gesichter, aber alle sind sie auf mich gerichtet, den Helden von Untererzbach, wie mich die Presse betitelte.
»Dankeschön!«, versuche ich den Beifall zu übertönen, als ich die Mitte des Lokals erreicht habe, und mache eine beschwichtigende Geste. »Danke. Ich bin froh, dass Sie alle hier sind.«
Es wird still, und ich starre einen Moment verlegen auf meine neuen Wildlederschuhe. Noch nie im Leben habe ich so gut ausgesehen - und das mit dreiundsechzig.
Der junge Bräuninger kommt in den Kreis aus Feiernden auf mich zu, dieser Flachwichser. Mit seinen überschwänglichen Handbewegungen, dem Filmstarlächeln und dem »Herr Brandl, ich meine Dieter, ich gratuliere Ihnen!« zerstört er die ehrfurchtgebietende Stille. Sein Händedruck ist so fest wie ein nasser Waschlappen. In der Journalistenecke flammen zwei Blitzlichter auf. Natürlich darf es keine Titelstory ohne den werten Bräuninger geben, wenn es um sein Bergwerk geht. Aber falls er wirklich denkt, er könne mir an diesem Tag, auf den ich so lange hingearbeitet habe, die Show stehlen, hat er nur einen Haufen Scheiße zwischen den Ohren.
»Dreiundzwanzig Jahre«, sagt er und betont es, als würde er vom Fund eines prähistorischen Rechenautomaten berichten. Nie zuvor hat er mich so angestrahlt; alles nur Fassade. Er hält mich immer noch für ein Arschloch. Nur dass ich nun das Arschloch bin, dass sieben Kindern, einer Lehrerin und Tobias das Leben gerettet hat. »So lange ist Dieter bereits Teil des Bergwerks Untererzbach.« Er wendet sich den Leuten zu, die meisten haben wieder brav ihre Sektgläser zur Hand genommen. »Wie die meisten sicher wissen, hat mein Vater damals im hiesigen Silberbergwerk gearbeitet, als es noch in Betrieb war. Nach der Schließung im Jahr 1962 reifte die Faszination in ihm heran, das Bergwerk für jedermann zugänglich zu machen. Das war selbstverständlich mit viel Arbeit verbunden und für einen einzigen Mann, so zielstrebig mein Vater auch gewesen sein mochte, nicht zu bewältigen. Aber er hatte sich eine starke Mannschaft zusammengestellt und eines der großen treibenden Zahnräder war Dieter.« Dabei legt er eine Hand auf meine Schulter. Wieder setzt Applaus ein, der kurz darauf abebbt. Wenn Bräuninger bei einem Plädoyer ebenso hochtrabend schwadroniert hätte wie gerade, würde der Richter den Klienten lebenslang einbuchten, auch wenn dieser nur eine Katze überfahren hätte.
Die mit Aufklebern der öffentlich-rechlichen Programme bestickte Videokamera bietet ihm die Bühne, die er liebt und so wenig verdient wie das Leben. »Ich wünschte, mein Vater hätte heute hier sein können, dann hätte er diese Worte an Dieter gerichtet. Aber Jahrzehnte des Rauchens, Schachtel für Schachtel und ohne Filter, gehen an niemandem spurlos vorbei.« In seinem Lächeln à la Humphrey Bogart steht eine gespielte Sentimentalität. »Mein Vater hat immer viel von Dieter gehalten, aber das, was er an diesem Tag im September vollbracht hat …« Er hält kurz inne.
Sein Vater hat so viel von mir gehalten, dass er die Führung des Bergwerks an seinen Sohn weitergab, einen drittklassigen Anwalt, der sich mit Bergwerken noch schlechter auskennt als mit Paragraphen. Hoffentlich vegetiert er noch lange in seinem Krankenbett vor sich hin. Ich lächle bei dem Gedanken, ihm eine Postkarte mit dem Aufdruck »Auf ein langes und gesundes Leben!« zu schicken.
Das Klatschen dringt in mein Bewusstsein. Die Bühne gehört wieder mir.
»Ich hätte es heute wahrscheinlich schwer gehabt, ohne das schicksalhafte Ereignis. Ich war immer mit Leib und Seele Elektriker und Mechaniker des Bergwerks, aber mit dem Gefühl, wirklich etwas bewirkt zu haben, fällt es etwas leichter, in den Ruhestand zu gehen, denke ich. Ich freue mich auf den Abend mit Ihnen und auf die nächsten Jahre.« Hoffentlich sieht mir niemand die Schadenfreude an. Eigentlich hatte ich nicht vor, es zu erwähnen, aber dem jungen Bräuninger mit seiner nervigen Unterbrechung geschieht es recht. »Erst vor drei Wochen trat ich mit der Bitte vor meinen Chef, die Pumpen müssten ausgetauscht werden. Er meinte noch: ›Viel zu teuer! Bisher konnten sie den Schacht immer frei pumpen, egal, wie heftig der Regen ausfiel.‹ Aber ich blieb hartnäckig. Hätten wir die veralteten Kreiselpumpen nicht durch Kolbenmembranpumpen ersetzt … dann hätten wir es nicht geschafft. Das muss Schicksal sein.«
Wenn man schon dick aufträgt, dann richtig. Nach dem obligatorischen Beifall stehen alle einen Moment unschlüssig da, dann bricht der Kreis zusammen und einige kommen auf mich zu. Den Presseleuten versichere ich, dass ich später gern bereit wäre, ein Interview zu geben. Eine Frau schüttelt mir die Hand. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Jedes Wort ist nicht groß genug für das, was Sie getan haben.« Mit ihrem Pagenschnitt und den Pausbäckchen erinnert sie mich an eine Jugendliebe und weckt alte Sehnsüchte. Für einen pickelnarbigen Verlierer war es nie einfach. Die bildhübsche Maria aus der siebten war so unerreichbar wie der Saturn für die NASA. Mein ganzes Leben lang habe ich unter der Erde gearbeitet, weil Sonnenschein Hässliches nicht schöner erscheinen lässt. Worte sind nicht groß genug, nein, aber ein Kuss vielleicht. Der Mann an ihrer Seite bedankt sich ebenfalls.
Ich winke ab und sage: »Ach, Sie hätten das Gleiche getan. Ich habe nur so gehandelt, wie jeder andere in meiner Situation.«
Tja. Die Bescheidenheit ist eine Eigenschaft, die vom Bewusstsein der eigenen Macht herrührt, wie mal einer dieser Pinselschwinger gesagt hat.
Ich arbeite die Glückwünsche und Danksagungen ab. So muss sich ein Rockmusiker fühlen, wenn er von seinen Fans auf Händen getragen wird. Der Bürgermeister bekundet mir, dass er mich gern zum Ehrenbürger von Freiberg machen würde. Nächste Woche könne eine kleine Zeremonie stattfinden, bei der ich im Goldenen Buch der Stadt unterschreiben dürfe. Doch während er redet, fallen mir die beiden Gestalten am Buffet auf. Der Herr im schwarzen Hemd bedient sich fleißig an den Häppchen, während sich die junge Frau mit Bräuninger unterhält. Sie hat ihr blondes Haar zusammengebunden, sodass es wie die Borsten eines Pinsels von ihrem Hinterkopf absteht. Alle lachen, die Stimmung ist ausgelassen, nur diese beiden denken wohl, sie seien auf einer Beerdigung.
Die Worte des Bürgermeisters streifen an mir vorbei. Zum Abschied schwafle ich ein »Ja sicher. Ich freue mich auf Ihren Anruf«. Die junge Blonde registriert sofort, dass ich alleine im Raum stehe, beendet das Gespräch mit Bräuninger und zupft ihren Begleiter am Hemdsaum. Dieser dreht sich kauend um, und sie deutet mit einem Kopfnicken auf mich. Sie kommen schnellen Schrittes auf mich zu. Statt mir die Hand zu geben, hält er mir seinen Ausweis vor die Nase.
Er schluckt hörbar, dann sagt er: »Kripo Dresden. Ich bin Herr Saltzer, und das ist meine Kollegin Frau Wolkow.« Sie tippt sich zur Begrüßung mit zwei Fingern an die Stirn, wirkt aber gelangweilt. »Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten. Ich habe mit dem Wirt gesprochen. Der hat ein Zimmer, da wären wir ungestört.«
Die Kolben hämmerten auf die Membrane wie mein Herz gegen die Brust. Die Luft bebte im Turbinenraum, aber zumindest waren die Hilferufe nicht mehr zu hören. Hastig überprüfte ich, ob alle Pumpen angeschaltet waren. Mit hundert bar saugten sie das Grubenwasser aus dem gefluteten Schacht. Aber das war nichts im Gegensatz zu dem Druck, der auf meinen Schultern lastete. Ich musste jetzt ebenso zuverlässig funktionieren wie die Elektromotoren, das Triebwerk und die Druckventile.
Als die Tür hinter mir zuschlug, und ich die vierhundert Meter unter Tage liegende Förderstrecke entlang rannte, waren wieder die schrillen Schreie von Kindern zu hören. Der Weg endete. Obwohl ich hier quasi zuhause war und mich bestens auskannte, wäre ich beinahe den kleinen Hang hinabgestürzt, der direkt hinter einer Kurve lag. Die letzten paar Sprossen der Fahrt übersprang ich, landete auf dem Steißbein und zog pfeifend die Luft ein. Vor mir lag das Wasser. Die Schreie waren jetzt von gelegentlichem Gurgeln unterbrochen. Ohne die Pumpen hätten die Wassermengen sie schon längst verschlungen.
Dies war der einzige Stollen, in dem man aufrecht gehen konnte. Besondere Attraktion war die kurze Bootsfahrt auf dem glasklaren Wasser, das sich nun zornig aufbauschte. Nach kurzem Zögern streifte ich Jeans und Stiefel ab, damit sie sich nicht voller Wasser saugen konnten, und sprang in die tosende Flut. Die Felsendecke kam näher, aber ich war fast da. Es waren zwei Boote. Das eine war gekentert, und die Kinder klammerten sich an die Unterseite. Im anderen saß die Lehrerin mit weiteren Kindern. Sie musste ihren Kopf einziehen, um nicht gegen die Decke zu prallen. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie mich erschrocken an, als ich schrie: »Kippen! Kippen! Unter das Boot!«
Ich klammerte mich an dem aufgepumpten Schlauch fest und versuchte, es durch Wippen zum Kentern zu bringen. Die Kinder schrien spitz auf. Wie ein Torpedo schoss Tobias, der Gruppenführer, neben mir durch die Oberfläche. Er schnappte verzweifelt nach Luft. Ich packte ihn unter der Achsel und schrie, er solle die Kinder unter das Boot schaffen. Die Lehrerin und die Kinder sprangen jetzt von selbst. Ich konnte den Rumpf drehen. Als der Pegel nur noch ein paar Zentimeter von der Felsdecke entfernt war, tauchten sie unter. Ich folgte ihren Beispiel, schob ein Paddel mit mir hindurch, an dem wir uns festklammern konnten. Hoffentlich hatte das Team um Tobi das Gleiche getan.
Bei der Schnappatmung von fünf Mäulern würde der Sauerstoff nicht lange reichen. Niemand sagte etwas oder schrie. Das Strampeln, um nicht unterzugehen, erforderte alle Konzentration und Kraftreserven. Ein Kopf ging unter. Doch ich bekam einen Arm zu fassen und zog das Mädchen hoch.
Die Luft, so dünn wie Papier, würde nicht ausreichen. Ich drückte mit einer Hand gegen das Dach, aber es ließ sich nicht bewegen. Lange konnten die Kinder nicht mehr durchhalten. Die schweren Klamotten würden bald ihren Willen brechen und sie hinabziehen. Mir wurde Schwarz vor Augen. Doch als ich das nächste Mal gegen das Boot schlug - es konnten nur Sekunden vergangen sein -, war da kein Widerstand. Es gelang mir, unseren Unterschlupf wegzuschieben. Der Wasserpegel war gesunken. Tobias und die Kinder kämpften sich bereits in Richtung Land. Ich zog das ohnmächtige Mädchen im Stirn-Nacken-Griff hinterher. Irgendwann traten meine Füße gegen den sandigen Boden. Manche Kinder hatten Schreikrämpfe und andere schluchzten wie die Lehrerin, aber sie waren in Sicherheit. Auch das Mädchen war wieder bei Bewusstsein.
»Ebbe. Glück auf, es ist Ebbe«, fieberte Tobias vor sich hin.
Ich wollte mich gerade neben ihm fallen lassen, um ihn zu beruhigen, als mir ein Junge auffiel. Er sah sich hektisch um und stotterte vor sich hin. Es dauerte kurz, bis er es schaffte, die Panik klar zu artikulieren. »Benni! Benni, wo bist du?«
Ohne Zögern watete ich zurück. Man konnte sehen, wie das Wasser sank, als hätte irgendwer den Stöpsel gezogen. Das sonst klare Wasser war wegen des aufgewirbelten Sandes trüb. Doch ich erkannte das gelbe T-Shirt schon aus einigen Metern Entfernung. Mit letzter Kraft zerrte ich das leblose Bündel zum Ufer. Ich legte ihn ab, sodass seine Beine noch im seichten Wasser lagen und fiel neben ihm auf die Knie. Seine Augen waren weit offen, ebenso der Mund. Eine Fratze, die nur der Tod kreieren konnte. Seine Lunge hatte sich voll Wasser gepumpt. Die Lehrerin stieß mich beiseite. Sie startete Wiederbelebungsmaßnahmen, presste Atem in das tote Gesicht. Ich vernahm das Quieken, das sie immer von sich gab, wenn sie auf den Brustkorb des Kleinen hieb.
»Tobi«, versuchte ich zu sagen, aber sein Name war nur ein Hauch auf meinen Lippen. Überraschenderweise starrte er mich konfus an.
»Sie werden bald kommen, oder?«
Ich nickte stumm.
Der Raum ist eine zum Büro umfunktionierte Abstellkammer. Die urige Deckenlampe wirft einige Schatten und zeichnet Saltzers Augenringe noch deutlicher. Ich kann mir gut vorstellen, dass in den Regalen zu beiden Seiten, wo sich nun einige Ordner reihen, mal Einmachgläser und Kartoffelsäcke gelagert haben. Aber selbst ein Wirtshaus wie die Marktschenke wird zunehmend zum Opfer der Bürokratie. Ich sitze mit dem Rücken zum Schreibtisch im hinteren Teil der Kammer. Die Beamten haben mir gegenüber Platz genommen, versperren den schmalen Gang vollständig. Ob das schon der erste Psycho-Trick ist, um mich in die Enge zu treiben? Auf Saltzers Schoß liegt ein Aufnahmegerät kaum größer als ein USB-Stick. Er hat mich gefragt, ob er es einschalten dürfe, da es sich lediglich um eine Befragung und keine Vernehmung handle. Aber wird einem da je eine Wahl gelassen?
»Benjamin Falk. Kennen Sie diesen Namen?«, fragt Saltzer nach langem Schweigen.
Soll das ein Witz sein? »Ja, ich kenne diesen Namen. Natürlich kenne ich ihn.«
»Wir haben mit seinen Eltern gesprochen. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, ständig vom heldenhaften Herrn Brandl in den Zeitungen zu lesen, während man zusehen muss, wie das eigene Kind begraben wird?«
»Nein«, murmle ich und starre zwischen ihren Köpfen hindurch auf die Holztür. »Sie etwa?«
»Warum waren Sie vorgestern nicht auf der Beerdigung?«, wendet sich Wolkow an mich.
Sie ist schön mit den vielen Sommersprossen, aber ihr Blick ist kalt und durchdringend. Ich senke den Kopf, starre auf meine sich knetenden Hände und zwinge mich sogleich, damit aufzuhören. »Ich konnte nicht. Es gibt nichts, was ich noch für sie tun kann.«
»Sie hätten Ihnen sagen können, dass es Ihnen leid täte um ihren Sohn.« Saltzers Baritonstimme säuselt mich ein. Ich bin wieder unten im Schacht vom nassen Tod umgeben und halte unweigerlich die Luft an.
»Herr Brandl?« Die Schärfe in ihren Worten holt mich zurück in den Raum. Nie zuvor habe ich mich so nach natürlichem Licht gesehnt. »Was ist los mit Ihnen?«
»Nichts. Es ist nur so … ich wollte sie alle retten.«
»Natürlich«, erwidert Saltzer, aber der zweifelnde Unterton ist unüberhörbar.
»Denken Sie etwa, ich hätte es nicht versucht?«
»Nun ja, Frau Bär, die Lehrerin, hat zu Protokoll gegeben, dass sie nichts unternehmen wollten, um den Jungen wiederzubeleben. Das hat sie getan. Warum nicht? Warum wollten Sie Benjamin nicht helfen?«
Mit jeder Frage scheint dieser Wolkow ein neuer Kopf zu wachsen. Ich schlage ihr mit einer schnellen Antwort den Kopf ab, aber schon wachsen an der Stelle zwei neue nach wie bei einer Hydra.
»Weil ich gesehen hab, dass da nichts mehr zu machen ist! Er war schon tot, verdammt! Ich hätte ihm ja geholfen ...«
»Schreien Sie uns nicht an«, stutzte Wolkow mich zurecht. Sie hätte auch eine gute Lehrerin abgegeben. »Wir verstehen Sie gut genug.«
»Sie haben doch keine Ahnung, wie schlimm das war – dort unten.«
»Wirklich? Also wir waren auf der Beerdigung, haben gesehen, wie Frau Falk zusammengebrochen ist, als sie den Strauß Blumen in das offene Grab legen wollte. Hätte ihr Mann sie nicht gestützt, wäre sie ihrem Sohn in den Abgrund gefolgt. Ich weiß nicht, wie schlimm das war, aber nachdem ich den Teil von Familie Falk gesehen habe, der noch übrig ist, kann ich mir eine Vorstellung machen«, sagt Saltzer.
Ich höre auf, mir die Ohrläppchen zu kneten. Eine schlechte Angewohnheit zur Nervositätsbewältigung. Sobald ich mich nur kurz auf etwas anderes konzentriere, macht mein Körper, was er will. Vielleicht habe ich zu oft die Serie »Lie to Me« gesehen, aber ich muss vorsichtig sein. Die beiden wissen etwas. Wir spielen eine Partie Poker, nur habe ich noch nicht erkannt, ob die Bullen nur bluffen oder wirklich was in der Hand haben. Egal, ich bin bereit All-in zu gehen, aber bis dahin muss ich mein Pokerface wahren.
»Ich wollte kommen, wirklich, aber ich konnte nicht.«
»Aber zu ihrer Abschiedsfeier hier konnten Sie kommen, ja? Sie lassen sich ja richtig feiern«, sagt Wolkow. »Die Welt liebt sie, den uneigennützigen Alten.«
»So reden Sie nicht mit mir«, knurre ich und drohe ihr mit dem Zeigefinger. »Die anderen wären alle tot, hätte ich nicht reagiert!«
»Oh, da bin ich mir ganz sicher«, meint Saltzer und hebt wissend die Augenbrauen. »Erzählen Sie mir, wie es passiert ist. Woher kam das Wasser so plötzlich?«
»Das hab ich bereits den Beamten vor Ort erzählt. Außerdem stand das in allen Zeitungen. Warum lesen Sie nicht die?«
»Wir möchten es von Ihnen hören«, erwidert er.
»Wenn es sein muss … Es gibt mehrere Förderstrecken. Eine davon führt an der Stelle genau über die, die für Besucher ausgelegt ist. Die meisten Förderstrecken sind in den vielen Jahren voller Wasser gelaufen, aber es macht keinen Sinn, die frei zu pumpen. Wir brauchen ja nur die eine. Aber irgendwie ist die Decke herunter gekracht und das ganze Wasser, das sich oben angestaut hat, flutete den Besucherstollen.«
»Lassen Sie uns noch etwas genauer auf das Irgendwie eingehen«, sagt er. »Was denken Sie? Wie konnte die Decke einkrachen?«
»Ich weiß auch nicht. Eigentlich hätte nichts passieren dürfen. Vielleicht waren die Wassermassen einfach zu schwer. Das kann unterschätzt werden, aber geben Sie nicht mir die Schuld. Für solche Sicherheitsangelegenheiten ist Herr Bräuninger zuständig. Mit dem sollten Sie sich unterhalten.«
»Haben wir. Und jetzt reden wir mit Ihnen«, sagt Wolkow. »Wir haben mit den Kindern gesprochen. Die meisten erzählen von einer richtigen Explosion, einem lauten Knall und einer Staubwolke. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
Ich hebe die Schultern, wo sie einige Zeit verweilen. »Doch, aber dazu weiß ich nichts.«
»Ich bin kein Experte«, schaltete sich Saltzer ein, »aber wir haben Experten für solche Sachen bei der Polizei. Sprengstoffexperten.« Ich gebe mich unbeeindruckt und lasse ihn fortfahren. »Wir haben das Loch untersucht. Trotz des Spülgangs konnten wir Spuren von Nitroglycerin und Kieselgur entdecken, die sich in den Stein gebrannt haben. Beides leicht zu beschaffen. Wie Sie wissen, kann jeder Idiot daraus Sprengstoff herstellen. Ganz klar Dynamit, haben unsere Spezialisten gesagt. Nur ist es wegen der feuchten Umgebung zu riskant. Es weicht zu schnell auf. Man muss nur etwas … ah, helfen Sie mir. Ich komm nicht mehr auf den Namen. Was macht Dynamit wasserfest?«
Ich antworte nicht.
»Sie sollten das wissen«, sagt er gespielt verblüfft. »Sie haben doch lange Zeit im Gipsabbau gearbeitet, Sprengungen durchgeführt. Sogar einen Sprengschein haben Sie. Sprengen ist doch bestimmt wie Fahrradfahren für Sie.«
»Sie haben meinen Lebenslauf studiert. Tolle Leistung.«
»Ich weiß eben gern, mit wem ich es zu tun habe.«
»Kollodium. Das ist mit Äther getränkte Zellulose, wird auch Sprenggelatine genannt.«
»Genau das war es«, sagt er begeistert und klatscht einmal trocken in die Hände, was mich zusammenfahren lässt. »Da gehört schon etwas mehr Fachexpertise dazu, habe ich mir sagen lassen. Vor allem die Zündung ist knifflig. Die Sprenggelatine kann nur mit einem Initialsprengstoff zuverlässig gezündet werden …«
»Warum erzählen Sie mir Dinge, die ich eh schon weiß?«, unterbreche ich seine Rede.
»Wie haben Sie es vorhin so treffend formuliert?«, antwortet Wolkow an seiner Stelle und streicht sich mit der Hand über das Kinn. »Das muss Schicksal sein. Sie glauben nicht an Zufälle, und wir tun das auch nicht.«
»Sie spinnen doch!«
Die Journalisten und Feiernden werden sicher langsam nervös. Grund genug, das hier zu beenden. Saltzer steht ebenfalls auf und stellt sich mir in den Weg.
»Was wollen Sie noch?«
»Ich habe noch etwas für Sie mitgebracht.«
Er holt eine Karte aus der Tasche seiner Jeans. Sie ist von Falzlinien durchzogen. Auf der Vorderseite prangt ein Kreuz mit Blumenverzierungen und der Name Benjamin »Benni« Falk. Ich klappe die Trauerkarte auf und der kleine Racker strahlt mich an. Ihm fehlt ein Schneidezahn. Sicher war er in der darauffolgenden Nacht lange wachgelegen, in der Hoffnung, die Zahnfee zu entlarven. Neben dem Bild steht ein Zitat von Hermann Hesse: Auch der schönste Sommer will einmal Herbst und Welke spüren, halte, Blatt, geduldig still, wenn der Wind dich will entführen.
Es kommt mir ein irrationaler Gedanke. Wind und Wasser, beginnt beides mit W. Auf der letzten Seite steht ein Psalm aus der Offenbarung, aber die Letter verschwimmen zu einem dunkelgrauen Fleck. Meine Augen brennen. Als ich blinzle fallen Tränen auf meinen Handballen und das beige Papier.
»Warum sollte ich so etwas tun?«, schluchze ich.
»Darüber habe ich auch lange nachgedacht«, dringt Saltzers Bariton zu mir durch. »Für mich ist das ganz klar die Tat eines Herostraten. Haben Sie schon einmal von Herostratos gehört? Er hat den Tempel der Atemis niedergebrannt, wollte durch seine Tat berühmt werden.«
Ich falle auf die Knie und schluchze in die offenen Hände, stelle mir vor, wie ich auf den kleinen von etlichen Tulpen umgebenen Sarg hinabstarre, während die Trauergemeinde das Vaterunser betet.
Ungerührt fährt Saltzer fort: »Die Ephesier haben den Mann damals gefoltert und hinrichten lassen. Ha! Was ist mehr wert: ein beschissenes Weltwunder oder ein junges Leben?«