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Vögeln für's Karma
Vor vier Wochen wurde ich überraschenderweise mit dem Kosmos verknüpft. Seitdem ist mein Leben an das transzendentale Netzwerk der Unendlichkeit angeschlossen. Vor vier Wochen klingelte es nämlich frühmorgens an der Tür und als ich öffnete, erblickte ich drei Gestalten. Zwei davon ähnelten fett gefressenen Orang-Utan-Affen; das betraf die Statur, die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck – ohne tatsächlich ein Gesicht zu haben. Beide waren in feuerrote Vorhänge gewickelt, wie in eine Toga. Die dritte Gestalt bestand aus einer nach Hasenpisse stinkenden Vettel mit wirrem Haar, die aussah, als hätte sie den Typen persönlich gekannt, der vor Kurzem das Rad erfand. Vielleicht lebte auch der noch und sie war seine Mutter.
Sie zeigte mit dem Finger auf mich und fuchtelte herum. Ihre Blicke glichen Pfeilen, die auf mich zielten.
„Ist er das?“, fragte einer der Orang-Utans.
„Ja, das ist er!“
„Bist du sicher? Nicht, dass sich herausstellt, das arme Schwein war der falsche.“
„Ja, ganz sicher! Ich weiß, dass er es ist!“, schrie die Alte und ihre Spucke flatterte mir ins Gesicht.
Schöne Scheiße, dachte ich. Dann packten mich die Orangs. Sie schleiften mich die Treppen hinunter und auf die Straße, wo sie mich in ein schwarzes Containerfahrzeug zerrten, in eine Ecke stießen und von innen die Türen schlossen. Ich hatte noch nicht mal das Stück Käsebrötchen hinuntergeschluckt, das ich mir beim Türöffnen noch in den Mund geschoben hatte. Darum hatte ich auch meiner Nachbarin Frau Tröppelmeier nicht antworten können, die uns im Treppenhaus begegnete und mir zuzischte: „Das kommt davon, wenn man immer Zeugs im Internet kauft!“
Die Orangs begannen mich an Händen und Füßen zu fesseln, während die alte Vettel sich mir gegenübersetzte.
„Ich kenne Sie doch gar nicht“, sagte ich zu ihr.
Sie fixierte mich mit stechendem Blick. „Tu nicht so!“, fauchte sie. „Du weißt genau, was du getan hast, und jetzt wirst du dafür bezahlen! Ich konnte mich damals auch nicht wehren!“
Die Orangs grinsten breit.
Dann stieg ein Mann mit einer Mütze auf dem Kopf zu und die Fahrt ging los. Der Mann unter der Mütze stellte sich als Ulrich Weingärtner vor. Er war Rück- und Zusammenführungstherapeut und erläuterte meine Lage, die er für ein ‘Setting‛ hielt. Zwar hatte ich die Irre da drüben noch nie in meinem Leben gesehen, aber wenn ich nichts falsch verstand, hatten sie und ich zusammen eine Paarbeziehung; die entstanden war durch das Schicksal, das unsere beiden Leben verband.
Weingärtner seufzte schwer, bevor er anfing, die entscheidenden Aspekte dieser Beziehung anzusprechen.
„Ist Ihnen bewusst“, fragte er mich, „was es für Ulrike“, er deutete auf die Alte, der immer noch Sabber aus dem Mund lief, „emotional und seelisch bedeutete, als Sie sie derart behandelten? Ohne jedes Mitgefühl, ohne Respekt, ohne Liebe?“
Ich schüttelte stumm den Kopf; mein Herz gefror mir in der Brust, während Weingärtner sprach. Ich, Thorsten Gundelbach, war immer ein gesetzestreuer Mensch gewesen. Niemand kannte mich oder wollte mich kennen; ich war ein gänzlich alleinstehender Single, angestellt bei der Bahn, 44 Jahre alt und lebte seit meiner Geburt in Quakenbrück. In dieser Stadt war es samstagabends spannender, zu Hause in die ausgeschaltete Glotze zu starren, statt in die Kneipe zu gehen (falls man eine fand, die nach 21 Uhr noch geöffnet hatte). Mein aufregendstes biografisches Erlebnis fand statt, als ich um ein Haar gegen eine Straßenlaterne gelaufen wäre – auf dem Weg zur Schule – und mein schlimmstes Verbrechen hat was mit einer unabsichtlich nicht bezahlten Plastiktüte im Supermarkt zu tun.
Wie mir der Rück- und Zusammenführungstherapeut Ulrich Weingärtner mitteilte, war ‚Ulrike’ im Mittelalter – in einem ihrer früheren Leben – als Hexe verurteilt und verbrannt worden.
„Kommt Ihnen das bekannt vor?“, fragte er.
„So direkt nicht unbedingt“, sagte ich.
Die Sache kam mir sehr unangenehm vor und noch unangenehmer war die Tatsache, dass ich (wie mir Weingärtner mit einem gütigen Lächeln jetzt erklärte) bei der Geschichte damals dabei gewesen war – und zwar als einer von den Fackelträgern, die den Scheiterhaufen entzündet hatten.
„Aber wieso ich?“, rief ich. „Warum soll das ich gewesen sein?“
„Haben Sie nachts manchmal Träume, in denen Feuer vorkommt?“
„Schöne Scheiße“, sagte ich.
„Sie sehen es jetzt, nicht wahr?“ Weingärtner berührte mich sanft am Arm. „Aber gleich werden Sie es wiedergutmachen. Das Universum erwartet das.“
Der Wagen hielt vor einem alleinstehenden Haus auf einem Feld in der Pampa und die Orangs zerrten mich in einen verliesartigen Keller.
Sie werden mich doch nicht verbrennen?, dachte ich. Die Entscheidung, was geschehen musste, lag allein bei Ulrike.
Im Mittelalter hatte sie allerdings unter einem anderen Namen gelebt und noch lange nicht Ulrike geheißen. Aber das und viele andere bedeutsame Einzelheiten ihrer früheren Existenzen hatte sie erst durch die Therapie in Erfahrung gebracht. Und seit Kurzem arbeitete sie die Namen auf ihrer Liste ab; die Liste aller Männer, die ihr in den letzten zwölf Jahrhunderten unangenehm aufgefallen waren.
Ich war die Nummer 42. Ulrike hatte vorhin in sich hineingespürt und herausgefunden, auf welche einzige Weise meine Schuld zu sühnen war (nichts Außergewöhnliches übrigens, weil sie, bei wem auch immer, stets zum gleichen Ergebnis kam): Ich musste mich nackig machen, dann würde sie mich vor laufender Kamera in der Reiterposition vögeln und mit Ausdrücken beschimpfen, die eine Hure zum Erröten bringen konnten – oder sogar einen Priester. Ich indes musste rufen: „Oh, verzeihe mir, Anastasia von Lethian, meine Königin der Nacht!“ Nach ihrem dreizehnten Orgasmus musste ich mit ihr zusammen durch den Nachthimmel fliegen und in steter Wiederholung singen: „Die Mutti reitet auf dem Besen, als wär so gut wie nix gewesen.“ Übertragen wurde das alles live auf die bekannte Internetseite www.ichwardietochtervontutenchamun.de, wo alle zuschauen konnten, die es weltweit interessierte.
Ich fügte mich in mein Schicksal. Verglichen mit dem Feuertod war es ein paar Grad weniger schmerzhaft und zusätzlich hatte ich eine (wenngleich zierliche) Chance, am Leben zu bleiben.
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Soeben entsteige ich einem schwarzen Containerfahrzeug. Zusammen mit meinen zwei riesigen, in rotes Tuch gewickelten Führungszurückgehilfen Hans-Jörg und Kai-Uwe. Wir gehen auf den Hauseingang 30 auf der anderen Straßenseite zu.
Ulrich Weingärtner ist ein Genie! Welch ein Glück, dass ich meine eigenen Zusammenzurückführungen bei ihm begonnen habe. Wie ich auf die Idee gekommen bin? Nun, das geschah, als ich zum ersten Mal diese süße, rothaarige Blumenverkäuferin entdeckt und dann heimlich bis zu dem Hauseingang hier verfolgt hatte. Gleich beim ersten Mal, als ich sie erblickte, war sie mir unheimlich vertraut und ich konnte schwören, ihr früher schon einmal begegnet zu sein.