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Vatertag

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13.08.2001
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Vatertag

Das Leben ist wie Krieg, hatte Jakobs Vater immer gesagt. Jakob hatte das nie ganz verstanden. Warum war es bloß wie Krieg? Warum nicht einfach nur Krieg? Das Leben ist Krieg, das hätte Sinn gemacht. Das Leben ist Krieg und im Krieg und in der Liebe war alles erlaubt, sagte man. Hieße das nicht auch, dass im Leben alles erlaubt war? Jetzt konnte er seinen Vater nicht mehr danach fragen, jetzt lag er etwa einen Meter fünfzig unter ihm, eingebettet in Samt oder Samtimitat, eingehüllt in einem schönen, schwarzen Anzug. Einem so schönen Anzug, wie er ihn vorher nie besessen hatte.
Wahrscheinlich hätte sein Vater gesagt, sterben sei wie verlieren. Dabei war das Quatsch. Sterben war verlieren. Wenn man tot war, dann hatte man verloren. Da gab es nichts zu relativieren. Sterben ist verlieren. Punkt. Das Dumme daran war nur, dass es bei diesem Spiel keine Gewinner geben konnte.
Als die dunkle Erde mit einem etwas zu lauten, beinahe ungehörigen Geräusch auf den Holzdeckel aufschlug, wurde ihm klar, dass sein Vater wohl unrecht gehabt hatte. Das Leben war vielleicht ein bisschen wie Krieg. Aber noch viel mehr war es wie Roulette. Am Ende verlor stets der Spieler und gewann die Bank.
Wahrscheinlich jedoch war es seinem Vater mittlerweile egal, ob Leben Krieg ist und sterben verlieren. Wenn man tot war, dachte man sicherlich nicht mehr darüber nach. Wahrscheinlich war es seinem Vater sogar gar nicht so unrecht dort unten zu liegen. Sein Vater hatte immer gerne gelegen und noch lieber hatte er geschlafen. Wenn er nachmittags von der Arbeit in der Fabrik nach Hause gekommen war, hatte er sich erst einmal hingelegt, um sich eine Stunde auszuruhen. Nur ganz selten war er von diesem Ablauf abgewichen und wirklich nur dann, wenn etwas äußerst dringendes zu erledigen anstand.
Eine von Jakobs ersten Erinnerungen überhaupt, war das tiefe, gleichmäßige Geräusch, das sein Vater beim Ausatmen machte. Dann rasselte es leise und brummte auch ein wenig aus seinem Mund. Es war nicht direkt ein Schnarchen, aber auch schon mehr als bloßes atmen. Wenn dieses Geräusch aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kam, hatte er immer leise spielen müssen. Um den Vater seine wohlverdiente Ruhe zu gönnen, hatte seine Mutter gesagt. Sie hatte sich stets um ihn gesorgt, ihn umsorgt, auf ihn aufgepasst, ihm die Ruhe gegeben, die er wohl brauchte.
Abends war sein Vater dann immer bereits um Punkt 22:00 Uhr ins Bett gegangen. Das hatte keiner der anderen Väter gemacht, obwohl auch sie alle zur Frühschicht in die Fabrik mussten. Manchmal war Jakob das komisch vorgekommen, warum sein Vater in diesem Punkt so anders, als all die anderen war. Sein Vater hatte gelacht, als Jakob ihn danach fragte. Er sei eine Art Schlafforscher und darum müsse er soviel schlafen, hatte sein Vater ihm erzählt.
Und tatsächlich fand Jakob eines Tages, als er im Schlafzimmer seiner Eltern etwas suchte, auf der Kommode neben dem Bett, ein in schwarzes Leder geschlagenes Buch. Jakob hatte so ein Buch noch nie zuvor dort gesehen und so blätterte er neugierig in ihm herum und entdeckte, dass sein Vater penibel alle seine Träume auflistete. Auf der ersten Seite stand in fein geschwungenen Buchstaben, die gar nicht nach der krakeligen Handschrift seines Vaters aussah, „Traumbuch“.
Nacht für Nacht hielt sein Vater in kleiner, sauberer Schrift alle Träume in diesem Büchlein fest und versah die nächtlichen Erlebnisse mit Kommentaren in verschiedenen Farben. So war der Traum selbst stets in schwarz geschrieben. Hatte der Traum ein reales Ereignis zur Grundlage, so erläuterte sein Vater dies in blauer Schrift und ging einer seiner Träume in Erfüllung, so notierte er dies sauber und mit roten Buchstaben auf den Seiten des Buches.
Jakob war fasziniert davon gewesen und er las soviel wie möglich, doch als er die Schritte seines Vaters die Treppe hinaufkommen hörte, schloss er das Buch rasch und legte es an seinen alten Platz.
Eine ganze Weile, einige Jahre sogar, vergingen, in denen er dieses „Traumbuch“ nicht wieder sah. Sein Vater hielt es irgendwo versteckt. Vielleicht, weil er sich schämte, vielleicht aber auch, um die Ergebnisse seiner Schlafforschungen nicht vor dem Ende des Experimentes bekannt zugeben.

Immer mehr feuchter Erde fiel in die Grube vor seinen Füßen, sie schlug dumpf auf die andere Erde auf. Der Holzdeckel war schon gar nicht mehr zu sehen und seine Tante schüttelte nun die Hände jener Menschen, die seinem Vater nahe standen oder irgendwann einmal nahe gestanden hatten. Unter ihnen waren auch Fremde, die er nicht kannte und von denen er nicht wusste, ob sie seinen Vater überhaupt jemals gekannt hatten und tatsächlich um ihn trauerten, oder ob es ihnen nicht bloß um das spätere Traueressen ging, das sein Tante organisiert hatte. Selbst die Herren Langereke und Rehbein schüttelt ihr die Hände und wünschten ihr herzliches Beileid. Sie hatten seinen Vater niemals kennen gelernt. Aber zumindest wusste Jakob, dass es ihnen nicht um das Essen ging. Sie würden, ebenso wie er selber, nicht daran teilnehmen.
Dennoch war Jakob sich sicher, dass sein Vater diese Geste verabscheut hätte, diese Anbiederei und Verlogenheit. Sein Vater hatte Verlogenheit gehasst, zumindest früher. Wann das anders geworden war, konnte er gar nicht so genau festmachen. Vielleicht an dem Tag, an dem seine Mutter mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen und einfach nicht mehr aufgewacht war. Apoplexie, hatten die Ärzte es genannt. Plötzlicher Schlagfall, ohne vorherige Anzeichen dafür. Das kam schon einmal vor, hatten die Ärzte gesagt. Da könne man nichts machen. Möglicherweise war es an diesem Tag gewesen, in den weiß gefliesten Gängen des Krankenhauses, an dem sich das Wesen seines Vaters verändert hatte. Vielleicht aber stimmt das alles nicht und es war erst Jahre später geschehen. Vielleicht war er aber auch immer schon immer so gewesen. Jakob wusste es nicht.

Sandra war die Letzte und sie trug schwarz. Einen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse, selbst die Augen schwarz umrandet. Sie hatte geweint, schwarze Linien durchzogen ihr Gesicht. Sie schien wirklich zu trauern.
Still reichte sie ihm ihre Hand. Ihr Händedruck war weich und ihre Finger lang und zart, sie trug den Ring, aber es war nicht mehr jener, den er ihr geschenkt hatte. Wie zart ihre Finger doch gewesen waren, wie zart sie doch sind. Man vergaß schöne Dinge so schnell, dachte er und versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch sie blickte ihn nicht an, blickte unten an ihm vorbei auf die Schuhe von Herren Rehbein, der nahe hinter ihm stand.
„Sandra“, sagte er, doch sie schaute nicht auf, ging wortlos an ihm vorbei. Vielleicht war es gut so. Was hätte er ihr auch sagen sollen?
Der feine Geruch ihres Parfüms lag noch in der Luft und er atmete ihn tief ein. Manchmal sind es die Gerüche, die einen an glückliche Zeiten erinnern.
Wie der zarte Geruch einer Frühlingswiese roch sie überall am Körper, wie zwei süße Äpfel seien ihre Brüste und der Tau ihres Schoßes schmecke wie göttliche Ambrosia, hatte Jakob in roten Buchstaben gelesen, als ihm zufällig ein kleines Büchlein in die Hände gefallen war, während er seinem Vater beim Aufbau einer neuen Schlafzimmergarnitur geholfen hatte.

Das kalte Metall legte sich wieder um seine Handgelenke. Fluchtgefahr, meinten sie. Sie hatten nicht verstanden. Das Leben ist Krieg und im Krieg und in der Liebe war alles erlaubt. Ein Krieg aber forderte stets seine Opfer, auf beiden Seiten, zu allen Zeiten. Das war einfach so. Eine Gegebenheit, die es zu akzeptieren galt. Natürlich hätte er fliehen können. Aber wozu? Am Ende würde er ohnehin verlieren. Am Ende verlor jeder. Sein Vater hätte das sicherlich verstanden.

 

Hi de Molay,
ich mach es mal kurz. Gut geschrieben. Schöner Stil. Aber der Geschichte selber konnte ich leider nicht ganz folgen. Was genau hat es mit dem Ende auf sich?

Grüße...
morti

 

Hi Morti,

zunächst einmal, Danke für das Lob.
Hmm. Nun, das Ende finde ich eigentlich gar nicht soo unklar...Ich möchte einmal abwarten, was andere dazu sagen, ob auch sie es nicht verstehen.
Ansonsten schreib mir doch eine PM, dann erkläre ich es dir ;-)

Gruß
deMolay

 

Hi de Molay,
eine sehr schön geschriebene Geschichte. Sehr bildlich und in einem tollen Stil. :)
Also, ich habe die Geschichte so verstanden, dass der Sohn einmal mit Sandra liiert war. Später aber dann sein Vater. Dies hat der Sohn entdeckt in dem Traumbuch und weil es rot geschrieben war, was der Vater mit Sandra erlebt hatte, war der Traum wahr geworden. Folglich war der Sohn eifersüchtigt und wütend. Folglich trug auch Sandra nicht mehr seinen Ring, sondern einen den sie von dem Vater bekommen hatte. Der Sohn bringt den Vater um und folglich redet Sandra nicht mit ihm und trauert auch wirklich. Deshalb hat auch der Sohn Handschellen an und Herr Rehbein, ich nehme mal an dieser ist ein Polizist, steht genau hinter ihm. So, soweit zu meiner Interpretation.
Hat mir sehr gut gefallen. :thumbsup:
Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie

 

Hi Kürbiselfe,
auch dir, vielen Dank für das Lob. Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Genauso wie du es verstanden hast, war es auch gemeint!

Gruß
deMolay

 

Hallo deMolay!

Hat mich gefreut, mal wieder von Dir zu lesen!
Schöner Schreibstil, flüssig und ruhig. Du beschreisbt so intensiv, dass ich mir die gnaze Szenerie gut vorstellen kann. Schön der Brückenschlag vom Anfang zum Schluss mit dem Krieg-Lebenvergleich.
Ganz offensichtlich ist die Handlung nicht, aber man kann sie schon verstehen. Die Umsetzung ist Dir in meinen Augen sehr gelungen.

"Grube vor seinen Füssen," Füßen.

schöne Grüße
Anne

 

Hey Maus,

tja, mein Tempo, was das Schreiben angeht nimmt langsam bedrohlich Formen an. Irgendwie fang ich immer wieder Texte an, verlier dann die Geduld und lass es liegen, deshalb erst jetzt wieder was komplettes.
Schön, dass sie dir gefällt. Füssen werde ich gleich ändern ;-)

Gruß
deMolay

 

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