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Vergebliche Flucht

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02.04.2003
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Vergebliche Flucht

Ich liege bäuchlings im Dreck, spüre ein Knie sich schmerzhaft in meinen Rücken bohren. Sand wird von meinen Zähnen zermahlen, ich rieche die Hinterlassenschaften von Tieren – ist es wirklich nur Sand, den mein Speichel durchfeuchtet? Ein rauer Strick windet sich um meine Handgelenke, wird streng angezogen, macht mich endgültig bewegungsunfähig, wehrlos.
Fatalismus umschleicht meinen Verstand, bereit, meinen Lebenswillen zu reißen wie ein Löwe die Antilope, den Weg zu bahnen für seine getreuen Jünger Hoffnungslosigkeit und Resignation. Wie lange werde ich noch die Kraft haben, mich seinem Zugriff zu entziehen, wie weit werde ich noch durch diesen mich umschlingenden Dschungel aus Angst, Schmerz und Demütigung gehen, bis der Wunsch nach dem Tod sich als erlösende Lichtung vor mir eröffnet?
Das meinen Körper an den Boden pressende Knie löst sich, ein harter Ruck an den Armen zerrt mich auf die Beine, begleitet vom kreischenden Protest meiner Schultergelenke. Die Suchscheinwerfer blenden, die bewaffneten Männer werden zu Schattenrissen, animierten Scherenschnitten, unwirklich und grausam, surreal entpersonifiziert, Werkzeuge, die wie Marionetten ihren Befehlen folgen.
Mein Magen krampft, der Würgereiz droht Überhand zu nehmen; bittere Säure steigt in meinen Rachen, aber ich darf die Beherrschung nicht verlieren, es würde mich zu sehr schwächen. Angewidert spucke ich aus, erhalte eine heftige Ohrfeige: Keine Frau spuckt hier vor einem Mann aus.
Eine Rampe hinauf, hinein in den Laderaum eines Lastwagens, ein kräftiger Stoß, der mich straucheln und schwer auf die Knie fallen lässt, dann schließen die Türen sich, sperren das gleißende Licht aus, um mich allein in absoluter Finsternis zurückzulassen. Allein mit den Erinnerungen an Ereignisse, die ich mir nicht hatte vorstellen können, die mein bisheriges Leben rasiermesserscharf abgeschnitten, mich in ein anderes Leben geworfen haben, das kein Leben mehr ist. Ich lebe, ich atme, ich existiere. Existiere ich wirklich? Oder ist meine Existenz zusammengeschrumpft auf die Wertigkeit eines Wegwerfartikels? Und immer noch Schmerzen, quälend, meinen Geist betäubend, mein Denken blockierend.
Nur wie ein fernes Echo erscheint mir mein früheres Leben, weit zurückliegend, verschwommen, nicht mehr real. Glasklar dagegen die letzten Stunden ...

„Du musst weg!“, sagt Sarah drängend. „Sonst wirst du auch noch hineingezogen!“
Abwehrend schüttele ich den Kopf, kann mir nicht vorstellen, dass sie Recht haben könnte. „Was sollte mir denn passieren?“
„Wegen Jassir – sie beobachten ihn und natürlich auch dich. Wenn etwas geschieht und er damit zu tun hat, werden sie auch dich verhaften! Sei nicht dumm, verschwinde von hier!“
„Vielleicht kann ich verhindern, dass etwas passiert, wenn er endlich mit mir sprechen würde.“
„Du kannst nichts verhindern, er steckt bereits viel zu tief drin. Ich weiß nicht, was sie vorhaben, er und seine Freunde, aber es ist nichts Gutes!“

Auf dem Heimweg sehe ich das Moped meines Bruders vor einem ausgebrannten Gebäude stehen, und die Fahrzeuge seiner Freunde. Kann es sein, dass sie dort drin sind? Vielleicht ist das meine einzige Gelegenheit, um mit ihm zu reden, herauszufinden, was sie planen. Entschlossen trete ich ein.
Der beständige Wind weht ungehindert durch die glaslosen Fensteröffnungen, wirbelt Asche und Staub auf, ich gehe wie durch Nebel, der die einfallenden Sonnenstrahlen wie das Strahlen von Scheinwerfen erscheinen lässt. Ich sehe niemanden, aber ich höre Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Langsam gehe ich die Treppe hinauf, zögernd und voller Angst, bei was ich Jassir antreffen mag. Ich habe mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit dem Anblick, der sich mir bietet, als ich in den Raum trete, aus dem die Stimmen zu hören gewesen sind. Jassir ist da, zusammen mit seinen so genannten Freunden, und um den Bauch trägt er einen breiten Gürtel. Nicht irgendeinen Gürtel; dieser ist aus Leder und an ihm befestigt sind mehrere Stangen Dynamit. Gerade noch unterdrücke ich einen entsetzten Aufschrei und presse mir die Hand vor den Mund.
„Was tust du?“, flüstere ich, fassungslos über das, was er vorhat.
„Amira! Was machst du hier? Du solltest nicht hier sein! Geh heim, schnell!“
„Jassir, das darfst du nicht tun – weißt du nicht, was du uns damit antust? Und was soll es nutzen?“
„Amira, ich muss es tun. Wenn wir nichts tun, werden wir von der Welt vergessen, aber so bleiben wir präsent, alle Nachrichten der Welt berichten über uns!“
„Jassir, sorg dafür, dass sie verschwindet!“, mischt einer seiner Kameraden sich ein. „Sie hat hier nichts zu suchen. Und außerdem müssen wir gehen, es wird Zeit!“
„Nein!“ Ich stürze auf meinen Bruder zu, versuche ihn festzuhalten, aber jemand reißt mich weg von ihm, ein harter Schlag lässt mich zurücktaumeln, ich stolpere und falle, schlage mit dem Kopf gegen die Wand. Nur noch verschwommen sehe ich Jassir, als er den Raum verlässt. Kurz bleibt er in der Tür stehen.
„Es tut mir leid!“

Ich muss bewusstlos geworden sein, denn als ich wieder zu mir komme, steht die Sonne bereits tief. Mühsam raffe ich mich auf. Was ist geschehen? Nur dieser eine Gedanke beherrscht mich, ich muss wissen, ob Jassir es wirklich getan hat.
Als ich mich meinem Elternhaus nähere, sehe ich die Fahrzeuge des Militärs. Erschrocken bleibe ich stehen, weiß nicht, was ich machen soll, als eine der Nachbarinnen mich am Ärmel in den Hauseingang zieht. „Amira! Verschwinde von hier! Zeugen haben Jassir erkannt, sie verhaften gerade deine ganze Familie!“
„Ist er ...?“ Tränen steigen mir in die Augen.
Ein Kopfschütteln beantwortet die Frage, die ich nicht zu stellen wage. „Nein, er ist tot, und zwei seiner Freunde ebenfalls. Die anderen sind verhaftet worden, so wie jetzt deine Familie. Geh, versteck dich!“
Tränenblind wende ich mich ab, gehe möglichst langsam auf der staubigen Straße zurück, aber wohin kann ich, um mich zu verbergen? Ich denke an die Hütte auf dem Land, in der wir so schöne Kindertage verbracht haben; vielleicht kann ich dort für ein paar Tage Unterschlupf finden, bis sie aufgehört haben, mich zu suchen.

Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, habe noch nicht einmal die Stadt verlassen, als die Polizeiwagen hinter mir sind. Ich weiß nicht, ob sie meinetwegen hier entlang fahren, habe auch nicht die Zeit, um mich zu vergewissern, ich laufe los. Wie gehetzt renne ich durch die Höfe und schmalen Durchgänge, durch die sie mir mit den Fahrzeugen nicht folgen können. Durch Zufall finde ich ein offenes Kellerfenster und schlüpfe hinein, lasse mich leise hinunter gleiten, halte den Atem an, als ich Schritte vorbeilaufen höre. Haben sie mich gesehen? Aber sie rennen vorbei, erleichtert atme ich auf. Dennoch wage ich mich nicht hervor aus meinem Versteck, sie können noch in der Nähe sein.
Erschöpft schlafe ich ein.

In der Morgendämmerung schrecke ich hoch, aber ich bin allein, niemand hat mich gefunden. Vorsichtig spähe ich aus dem Fenster, aber ich sehe keine Polizei, keine Soldaten. Was würden sie mit mir tun, wenn sie mich fänden? Es gibt viele Gerüchte über die Gefängnisse, über die Verhöre, über die dabei angewandten Methoden, aber ich weiß nicht, ob sie der Wahrheit entsprechen.
Es wird Zeit für mich, aus der Stadt zu verschwinden.
Möglichst unauffällig gehe ich die Straßen entlang, biege immer wieder ab, nehme Umwege in Kauf, um die belebteren Straßen zu meiden – wo viele Menschen sind, ist auch immer die verhasste Polizei oder das Militär. Sie haben Angst vor uns, aber wie sieht es mit uns aus? Sind wir es nicht, die um unsere Heimat kämpfen?
Ich erreiche den Stadtrand, nur noch vereinzelt stehen Häuser entlang der Straße. Durst beginnt mich zu quälen – ob der Brunnen bei der Hütte noch Wasser führt? Oder ist er bereits versandet? Ich kann nur hoffen ...

Am Abend erreiche ich die Hütte, es scheint niemand da zu sein. Ich schlage einen Bogen um das Haus, um die andere Seite des Gebäudes sehen zu können und entdecke entsetzt einen Jeep. Erst nach einigen Sekunden realisiere ich, dass es kein Militärfahrzeug ist, nur ein altes, rostiges Gefährt, vielleicht hier entsorgt.
Mit angehaltenem Atem nähere ich mich dem Brunnen, lasse den Eimer hinunter und trinke erleichtert das brackige, abgestandene Wasser.
„Amira!“
Zu Tode erschrocken fahre ich herum, kann aber niemanden sehen.
„Amira, ich bin hier drin in der Hütte!“
Mir kommt die Stimme bekannt vor. „Achmed?“ Kann es sein, dass Jassirs bester Freund sich hier versteckt?
„Ja. Bist du verfolgt worden?“
„Nicht hierher, nur in der Stadt.“
„Verdammt! Dann können sie sich denken, dass du hier bist – deine Mutter wird ihnen von der Hütte erzählt haben.“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht, warum sollte sie?“
Ein trockenes Lachen ist die Antwort. „Weil SIE sie befragt haben, darum. Wir sollten ...“
In diesem Moment hören wir den Hubschrauber und als ich mich umdrehe, sehe ich die Scheinwerfer der sich nähernden Fahrzeuge.
„Amira, lauf!“, schreit Achmed und rennt aus der Tür. Wie erstarrt sehe ich ihm nach, in der schnell einsetzenden Dunkelheit ist er kaum noch zu erkennen. Aber dann erfassen ihn die Suchscheinwerfer des Hubschraubers, ich höre die durch den Lautsprecher gebrüllten Befehle, aber Achmed bleibt nicht stehen. Erst als die Schüsse fallen verändern sich seine Bewegungen, verlangsamen sich zur unendlichen Zeitlupe, bis er die Hände hochreißt und zu Boden stürzt.
Mir ist, als wäre ich in einer Blase der absoluten Stille. Ich höre den Hubschrauber nicht mehr, nehme die Motoren der Fahrzeuge nicht wahr, nicht die Schreie und Rufe der Soldaten. Erst nach einem lautlosen Atemzug der Ewigkeit dringt meine Umgebung wieder zu mir durch und mir wird bewusst, in welcher Gefahr ich mich befinde. Ich wende mich ab und renne, laufe um mein Leben.

Ich wage es nicht, hinter mich zu blicken, kann nicht erkennen, ob der Hubschrauber bereits auf der Jagd nach mir ist, schöpfe Hoffnung. Aber als ich meinen eigenen Schatten vor mir sehe, weiß ich, dass es nur eine Täuschung war, dass sich mit mir der Kreis schließen wird – als Letzte habe ich Jassir noch gesehen, bevor er zu seinem unseligen Vorhaben aufgebrochen ist, vielleicht werde ich auch die Erste sein, die ihn auf der anderen Seite wieder sieht.
Aber es fallen keine Schüsse, die Autos überholen mich, kreisen mich ein, bis es keine Richtung mehr gibt, in die ich mich wenden könnte.
Ausgepumpt und nach Luft ringend bleibe ich stehen, suche nach einer Lücke, als ich von hinten gepackt und zu Boden gestoßen werde.
Soll es das gewesen sein? Ich versuche mich zu wehren, werde nicht aufhören – solange man an eine Fluchtmöglichkeit glaubt, wird es auch eine geben.
Aber der harte Griff, mit dem ich festgehalten werde, belehrt mich eines Besseren.
Es ist vorbei.

 

Hallo Aragorn,

ob jemand Terrorist ist oder Freiheitskämpfer ist immer eine Frage, des Standpunktes, den der Burteiler einnimmt. Insofern ist es schön, dass du in deiner Geschichte fiktiv geblieben bist. Die Namen und die Art des Attentats von Jassir lassen zwar auf Plästina schließen, aber es könnte jeder andere Kampf auf dieser Welt sein. Die Frage, ob der Kampf berechtigt ist oder nciht, stellt sich in deiner Geschichte nicht, es geht um das unversönliche Gegeneinander, welches zwangsläufig immer zur Eskalation führt, auch dann, wenn die Macht andersherum verteilt ist.
Die Stimmen der Angst und die Stimmen der Vernunft haben da keinen Platz.
Die Jagd auf deine Protagonistin und die Folter danach scheinen das Attentat nachträglich zu rechtfertigen, zumal sie ja versucht hat, ihren Bruder von seinem Schritt abzubringen. Und in der mediendiktierten Landschaft hat Jassir vielleicht sogar recht, wenn er sagt, sein Volk vergessen würde, wäre es nicht in den Nachrichten der Welt.

Ein trauriges Stück realer Alltag aus den Ländern in denen Unterdrückung und Terror die Normalität sind. Eine schöne Geschichte, die nachdenklich macht und zu Diskussionen anregt.

Einen lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

danke für das Lesen und Kommentieren dieser Geschichte - ein Lob von Dir ist mir sehr viel wert und es freut mich, dass sie bei Dir so angekommen ist, wie ich sie gedacht hatte!

LG Aragorn

 

Hallo Aragorn!

Du hast in Deiner aufwühlenden Geschichte eine Situation beschrieben, wie sie täglich irgendwo auf der Welt stattfinden könnte. Wer dabei letztendlich die Spirale aus Hass, Gewalt und Rache in Gang gesetzt hat, bleibt unerheblich. Gegenseitige Schuldzuweisung ist die Regel, Schwache und Unschuldige werden als Opfer billigend in Kauf genommen. Traurig, dass es selten einen Weg aus einer solch verfahrenen Lage gibt, da mit Argumenten politischem sowie religiösem Fanatismus nicht beizukommen ist.
Die Gedanken- und Gefühlswelt der Prot. wird mit beeindruckendem Sprachgefühl und stilistisch einwandfrei vermittelt.

Kompliment!


Lieben Gruß
Antonia

 

Hallo, Aragorn!

Irgendwie hast du eine Affinität zum nahen Osten. Aber die Geschichte ist - obwohl du ihren Ausgang vorwegnimmst - ultraspannend.
Ein paar Kleinigkeiten habe ich zu bemeckern, komischerweise betreffen die alle nur den Anfang, danach ist mir stilistisch nichts mehr negativ aufgefallen.

Fatalismus umschleicht meinen Verstand, bereit, meinen Lebenswillen zu reißen wie ein Löwe die Antilope, den Weg zu bahnen für seine getreuen Jünger Hoffnungslosigkeit und Resignation
Sehr kraftvoller Satz, der mir aber einerseits zu abstrakt und andererseits zu pathetisch ist in dieser Situation.
bis der Wunsch nach dem Tod sich als erlösende Lichtung vor mir eröffnet
Der Wunsch allein ist noch keine Erlösung.
begleitet vom kreischenden Protest meiner Schultergelenke
Das fand ich gut. - Ich hab beim Lesen unwillkürlich meine Schultern bewegt.
Die strahlenden Suchscheinwerfer blenden
Das "strahlend" würde ich weglassen, trägt keine Information.
werden zu schwarzen Schattenrissen
Das "schwarz" würde ich weglassen, trägt keine Information.
Werkzeuge, die wie Marionetten ihren Befehlen folgen
wer ist "ihren"?
Mein Magen krampft, der Würgereiz droht Überhand zu nehmen; bittere Magensäure steigt in meinen Rachen
Den Mittelteil mit Würgereiz würde ich weglassen, trägt keine...
Und wir haben 2 x Magen.
Vorschlag: Mein Magen krampft, bittere Säure steigt in meinen Rachen
aber ich darf die Beherrschung nicht verlieren, es würde mich zu sehr schwächen
Wie schwächt einen der Verlust der Beherrschung?

r

 
Zuletzt bearbeitet:

Erst mal etwas verspätet meinen Dank an Antonia: Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat!

@ Relysium:

Einige der von Dir als überflüssig angesehenen Worte habe ich gestrichen.

Der Satz über den Fatalismus mag ein klein wenig zu pathetisch sein, aber noch kann ich mich von ihm nicht trennen.
Ebenso geht es mir mit dem Würgereiz, auf den sich auch der Verlust der Beherrschung bezieht - sich zu erbrechen schwächt normalerweise durchaus.

Die Marionetten folgen ihren Befehlen - und fragen nicht nach, wer sie ihnen gibt; so jedenfalls wollte ich das verstanden wissen, aber vielleicht fällt mir noch eine bessere Formulierung ein.

Ob der Wunsch nach dem Tod an sich schon erlösend sein kann, lasse ich jetzt mal offen; aber ich kann mir vorstellen, dass es Situationen gibt, in denen genau das der Fall ist.

Ich danke Dir für das aufmerksame Lesen und vor allem für das Kompliment "ultraspannend" - trotz vorweggenommenem Ende.

LG Julia

 

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