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Verrückter Wind, gelber Fluß, etc.

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13.10.2003
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Verrückter Wind, gelber Fluß, etc.

Verrückter Wind, gelber Fluss, etc.

Die Stadt, war ringsum mit grünen Bergen, auf denen im Frühling herrlich riechende Narzissen und fliederfarbene Tulpen wuchsen, umgeben. Ein schmutzig gelber Fluss dessen Wasser im Sommer verdampfte, teilte die Stadt in zwei. Dann tanzten gelb-grüne Eidechsen zwischen den weißen Steinen des Flussbettes und schoss allerlei wildes Gewächs aus dem Sumpf hervor.

Im Winter floss das Gewässer mit einer sehr hohen Geschwindigkeit und wenn man an seinem Ufer spazieren ging und herunter sah, wurde einem schwindelig. Manchmal las man in den Zeitungen traurige Berichte über Jugendliche, die wegen einer blöden Wette im Fluss schwimmen wollten und ertranken. Auch über kleine Kinder hörte man, die nach dem sie am Flussufer spielten, vermisst wurden und nie mehr auftauchten.

Der Wind, der die Strassen und Gassen der Stadt im Sommer und im Winter stets unermüdlich fegte, wehte an den Ufern des Flusses so wild, dass die farbenfrohen Röcke der Frauen, die glasierten Äpfel der Kinder, die pinkfarbenen Zuckerwatten, die Zeitungen der Männer, die sie sorgfältig gefaltet unter ihren Achselhöhlen trugen und die mit frischem Gemüse und wohlduftendem Brot voller Einkaufstüten hin und her geschleudert wurden, während sie die Brücken überquerten.

Die Stadtbewohner beklagten sich über den verrückten Wind, doch konnten sie nichts dagegen tun. Die glücklichsten und reichsten Händler des geschlossen Basars, waren die Glaser. Fröhlich wechselten sie die Gläser von Fenstern und Türen aus, die dem verrückten Wind immer wieder zu Opfer fielen, während Familienväter mit ihren Ehefrauen und den Kindern schimpften: „in diesem Monat ist das schon das zweite mal. Könnt ihr nicht besser aufpassen?“

Es war in den Achtzigern, in den Jahren des Militärputsch. Die Unruhigen Zeiten davor hatten die Stadtbewohner wie das ganze Volk im ganzen Land ziemlich beängstigt. Die Gegenden der Stadt waren in links – rechts, Aleviten – Sunniten Gegenden unterteilt. Keiner traute dem anderen mehr. Alle waren aufgewühlt. Die Armee hatte das Volk durch den Putsch auch noch eingeschüchtert. Abends herrschte noch immer ‚Ausgehverbot.’ Obwohl es nach dem Militärputsch ruhiger wurde, war das finanzielle Ungleichgewicht, das dem Volk das Leben erschwerte noch immer da und wollte nicht in einer näheren Zukunft enden.

Die Welt war nun mal nicht ein Prüfungsort um ins Paradies zu kommen, wenn man all die erniedrigenden Prüfungen wie Armut, Krankheit, etc. ohne sich zu erheben als vom ‚Schöpfer’ gegeben, hinnahm. Die Welt eines jeden war eine Spiegelung seiner finanziellen Möglichkeiten, welche ihm paradiesische oder höllische Umstände bereits auf Erden ermöglichte. Jede Regierung hatte seinen Kaufpreis, beziehungsweise ging es stets um Geld und Macht. So dachten zumindest Selma und ihre Freunde in der neunten Klasse eines stattlichen Lyzeums und trafen sich so oft wie möglich um sich über die politische Zukunft des Landes gemeinsam Gedanken zu machen.

Gewiss änderte es an den Gegebenheiten nichts, wenn man bei diesen Treffs verbotene Bücher mit verbotenen Begriffen las oder am ersten Mai, in der Stadtmitte mit roten Nelken herumlief und schiefe Blicke auf die Polizisten wirft, aber der Glaube und die Hoffnung an eine vermeintlich demokratische und bessere Zukunft verlieh diesen Taten etwas hochrespektables gar heiliges, auch wenn die stillen Demonstrationen der Schüler in der Stadtmitte, im Park oder am Ufer des gelben Flusses mehr nach einem Schulausflug aussah, wie nach einer politischen Demonstration.

Während sie am Ufer des gelben Flusses, Hand in Hand in zweier Reihen Richtung Stadtmitte liefen, verwirbelte der Wind die grauen Röcke der Mädchen und die weinrotfarbenen Krawatten der Jungen. Sie ärgerten sich nicht über den verrückten Wind. Mädchen lösten ihre Haare und die Jungs guckten unter ihre Röcke.

Sie sahen Kinder, die Fußball gegen den Wind spielten, fliegende Händler, die hinter ihren rollenden Wagen her rannten. Manchmal sahen sie ein totes Tier – ein Hund oder ein Schaf – im gelben Fluss in einem Strudel auf und abtauchen. Bettler bettelten vor den Brücken. Kinder verkauften Backwaren auf einem Aluminiumtablett, das sie auf ihren Köpfen trugen. Einige boten ihre Dienste als Schuhputzer an.

Die meisten Menschen schienen von einer tiefen Trauer, die sich in ihre Herzen wie eine giftige Schlange hineingeschlichen und nie wieder herausgekrochen ist, befallen zu sein. Unter der Last dieses schweren Gefühls geistig zusammengebrochen, bewegten sie sich wie die müde Figuren eines alten Märchens langsam und träge. Verlassen von allem lebendigen, vergessen von Licht und Farbe, nur noch grau und schwarz. In einem Schattenreich existierend gingen sie umher. Und das war kein Märchen sondern nackte Realität.

Selma und ihre Freunde demonstrierten eben gegen diese Realität, gegen das Unglücklichsein, gegen die ungerechte Verteilung der Güter, die eigentlich alle Menschen glücklich zu machen reichen würden. Sie gehörten der Mittelschicht des Landes an, der es gut ging, trotzdem malten sie eine Welt in der es keine Armut gab, aus, in der Menschen alles brüderlich teilten.

Ihre Demo -spaziergänge führten die sechs Schüler (drei Mädchen und drei Jungs) auch in die Berge und die Olivenhaine der Stadt. Wenn es regnete, setzen sie sich unter einen Olivenbaum und betrachteten die Stadt, die mit dem indigofarbenem Regen gewaschen wurde. Eines Tages, unter einem Olivenbaum fiel es ihnen ein, dass das Lyzeumsgebäude, in dem sie unterrichtet wurden nicht einem Schulgebäude sondern einer Kaserne ähnelte. In der Schule herrschte strengste Kleiderordnung. Montags bevor sie in den Unterricht durften, mussten sie sich vor der Eingangstür einer Sichtkontrolle unterziehen. Der Schuldirektor und die Lehrer achteten darauf, dass Schüler zu der Schuluniform farblich abgestimmte Schuhe, Strümpfe und Pullover trugen. Turnschuhe waren strick verboten. Mädchen hatten ihre Haare in Zöpfe zu flechten und Jungs mussten jeden Monat zum Frisur so dass die Haare nie länger als einen Zentimeter wachsen durften.

Nach dem die Nationalhymne gesungen und die Nationalflagge gehisst wurde, holte man die Schüler mit unpassenden Schuhen und Haaren aus den Reihen und schickte sie nach Hause. Es gab Schüler, die Tagelang nicht zu Unterricht gelassen wurden. Man machte sie vor den anderen Schülern auch noch zu Schnecke, weil sie sich nicht an die Regeln hielten. Oft waren es Armenkinder, die, die Schuhe von ihren älteren Brüdern oder Schwestern tragen mussten, weil sie sich keine neue leisten konnten. Auch jeden Monat konnten sie nicht zum Frisur, weil dieser die Haare nicht umsonst schnitt. Doch das interessierte die Schulleitung nicht.

Die Methode diente einem Ziel: aus den eingeschüchterten Menschen einen Menschentypus zu schaffen, der sich später im Leben auch gegen nichts und niemand wehrte. Das gefiel Selma und ihrer sechsköpfigen Gruppe nicht. Während sie in einem Cafe am gelben Fluss saßen, schlug Selma vor, der Schulleitung einen anonymen Brief zu schreiben. In dem Brief sollte stehen, dass die Schüler die Methode der Schulleitung verabscheuen und es nicht weiter hinnehmen würden wie ihre armen Klassenkameraden wegen ihrer Armut blamiert werden. Die Schulleitung sollte den Armenkindern ihr Recht nach Unterricht nicht verweigern auch wenn sie nicht jeden Monat zum Frisur gehen und sich zu Schuluniform passende Schuhe leisten konnten.

Die Idee gefiel den anderen. Noch am gleichen Abend sammelten sie sich bei Savas und schnitten Buchstaben aus Tageszeitungen, die sie auf ein Papier klebten und in einen Brief verwandelten. Ihre Solidarität und ihr Glaube an das Gute verdiente einen ausgesprochen Respekt. Nach dem die Buchstaben geklebt wurden, jubelten sie. Eine Unterschrift aus roten Buchstaben „Die Gruppe“ vervollständigte die Sache.
Ein rotes Abendlicht verbreitete sich an den Ufern des gelben Flusses, während Selma nach Hause ging. Der Wind pfiff fröhlich.

Nach zwei Tagen, nach dem die Postbote die Post einreichte, herrschte in der Schule eine seltsame Stille. Vielleicht lag es auch an dem Wind, der jeden Tag, wie wild auf den mit Mohnblumen bedeckten Wiesen um das Schulgebäude wehte, Wände und Fenster schleckte, aber an dem Tag ausblieb.

An solchen windlosen Tagen, was eigentlich nicht sehr oft vorkam, fühlten sich die Stadtbewohner unwohl. Es fehlte der wilde Wind und es kam ihnen vor, sie würden in einer anderen Stadt wohnen. Sie irrten sich in wohl bekannten Strassen und Gassen. Häuser, Läden, Bahnhofs, Parks, Basars und Friedhöfe trugen eine rätselhafte, wenn auch nicht sofort erkennbare Andersartigkeit, die aber zum Glück mit dem ersten Windzug gleich wieder verschwand.

An dem darauffolgenden Montag und in den nächsten zwei Monaten fand keine Sichtkontrolle in der Schule mehr statt. Irgendwann lief eine Kopie des Briefes unter den Schülern von Hand zu Hand, welcher von ihnen wie ein Heiligtum behandelt wurde. Keiner wusste von wem der Brief stammte, aber die Freude die durch den Brief erzeugt wurde, war groß. Dabei beobachtete die Schulleitung die Schüler ganz genau. Einige wurden verhört.

An einem Morgen wurde Selma in das Zimmer des Schuldirektors gerufen. „Herein“ sagte der Direktor als sie an der Tür klopfte. Der Direktor und seine zwei Helfer warteten schon auf sie. Sie saßen an einem großen Tisch, über ihren Köpfen an der Wand hing ein schwarz-weißes Atatürkportrait. An den Kragen des Direktors und der Lehrer steckten goldene Atatürkköpfe. Selma wusste instinktiv, dass das nicht aus einer inneren Überzeugung herrührte, sondern nur einer Formalität diente, wie es im ganzen Land üblich war.

Im Zimmer herrschte eine beunruhigende Stille, die sonst in den Gerichtsaalen zu treffen war. „Herein“ wiederholte der Direktor und Selma trat ein. Auf dem Tisch lag der Brief, der mittlerweile ein paar Buchstaben verloren hatte.

„Sag uns doch mal, was glaubst du denn, wer diesen Brief geschrieben haben könnte?“ fragte der Schuldirektor, das zierliche junge Mädchen um die vierzehn, mit zwei braunen Zöpfen und einer für ihr Gesicht viel zu großen Brille, durch die das manchmal viel zu viel sah.

Aus dem Fenster konnte man eine Wiese mit Mohnblumen in voller Blüte betrachten. Der Wind bewegte das rote Blumenmeer, erzeugte kleine Wellen an dessen Oberfläche und ein paar der roten Blüten drehten sich in der Luft.

„Sprich“ brüllte der Direktor. Ein roter „h“ flog auf seinem Atem und fiel zu Selma’ s Füßen. Die anderen Lehrer unterstützten den Wut des Direktors mit ihren strengen Blicken.

Nicht weil sie den Ernst der Situation nicht verstanden hatte, sondern weil die Sache ihr lächerlich vorkam, zeichnete sich ein zartes Lächeln an Selma’ s kleinem Mund ab.

„Sie lacht uns aus“ schrie der Direktor mit einem blauen Gesicht.
„Deine Bande hat dich verpfiffen, Mädchen. Willst du uns noch etwas sagen?“

„Ich habe den Brief geschrieben, weil ich eure Art nicht in Ordnung finde“ sagte Selma. Es war ihr klar was diese Aussage bedeutete: Schulverweis.

Sie glaubte nicht, dass die anderen sie verpfiffen haben sollten. Wenn schon, dachte sie, die Idee war ihre gewesen, also hatte sie die Konsequenz zu tragen. In dem sie es einfach zugab, wollte sie ihre Freunde und die anderen Schüler vor einer möglichen Bestrafung retten. Ihre Schulbücher in der Hand verlies sie das Lyzeumsgebäude, löste ihre Zöpfe und gab sie dem verrückten Wind, der schon da war und ihr den Rücken streichelte.

 

Ich finde, die Geschichte hat auf alle Fälle etwas zu bieten, allerdings... ein paar Sachen fallen doch auf.
Der Schreibstil ist sehr... eigenwillig. Es wird teils sehr ausführlich, teils sehr sehr knapp erzählt. Wenn man über und über auf einer Linie bleiben könnte, würde das helfen. Vor allem aber auch einmal dieser eher streng auktorialer Erzähler, der einem alles irgendwie überblickend machen will, der dann sehr in einen personalen umfällt und dann vor allem aus der Sicht Selmas erzählt, aber man trotzdem nicht viel von Selma mitbekommt, wo sie doch gegen Ende immer wichtiger wird. Eine personelle Bindung kann da für mich leider nicht zu ihr aufgebaut werden.

Auch mehr als kritisch würde ich die fast utopische Vorstellung beäugen, die hier zum Vorschein kommt, dass ein kleiner Brief einen solchen Druck auf eine Schulleitung in einer Militärdiktatur auslösen kann, dass man alle Ideale für diese "Gruppe" über Bord wirft... ich halte das leider für mehr als unglaubwürdig. Eher noch ist bei solchen Vorfällen mit einer Verschärfung der Regeln zu rechnen. Und dass Selma dann so leicht davon kommt, wenn sie sich als Briefeschreiberin stellt, glaube ich auch nicht. In (Militär)Diktaturen wird man oft schon wegen weniger in Umerziehungslager geschickt...

Und doch hat mir die Geschichte gefallen. Sie ist etwas von leichtsinniger utopischer Fantasie geprägt, aber wer behauptet, dass man nicht noch träumen dürfte?!

 

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