- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Verschwundene Mädchen
Prolog
Das Mädchen und der Hund liefen zum Wasser. Der Dackel, eine wandelnde Speckrolle, jagte übermütig ein Stück voraus. Das Mädchen wirkte müde, als hätte es die Nacht auf einer Party durchgemacht. Was zum Teil sogar stimmte - wenn man als solche auch die verplauderte Nacht mit einer Cousine bezeichnen konnte.
Mari zog ihre Sandalen aus und tauchte ihre Zehen ins Wasser. Vielleicht würden noch wärmere Tage kommen. Neun Tage bis Ferien-Ende, an einem würde sie baden - egal wie kalt der See dann wäre. Baden und schwimmen, schwimmen und baden. Der Sand war weich und sie holte aus ihrem Rucksack eine Decke, dann ein Buch und etwas zu Trinken. Es war so still hier, kein Angler, kein Schwimmer, niemand. Auch nicht die Jungs, von denen Anna erzählt hatte, Jungs, die sich schon morgens voll laufen ließen.
Mari musste auf Emma achten, die alte Hündin hörte nicht besonders. Aber so war das immer mit Ausleih-Hunden. Weit weg von zu Hause versuchten sie, ihren Kopf durchzusetzen, charmant, trickreich. Perfektionierte Mitleids-Tour für ahnungslose Teilzeitherrchen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang hatte Mari Emmas Halsband gelockert und kurz darauf nur noch die Leine in der Hand gehalten. Aber dieses Mal gönnte sie dem Dackel ein bisschen Auslauf; am See gab es keine Gefahren, keine plötzlich auftauchenden Autos. Sie musste nur aufpassen, dass Emma sich nicht zu weit entfernte. Der Schoßwärmer konnte überraschend an Tempo gewinnen.
Mari dachte an das verschwundene Mädchen, von dem Anna erzählt hatte. Man wusste bis heute nicht, wo sie war. Ob sie noch lebte. Aber welches Mädchen hielt es schon aus - in diesem Fünfhundert-Einwohner-Dorf, mit sechzehn, am Ende der Welt. Ein bisschen war Mari der See unheimlich, der Wald, das Schilf. Aus Hundesicht spannende Orte. Mari blickte Emma hinterher, verträumt, aufmerksam. Aber vielleicht war es umgekehrt und der Dackel beschützte sie.
Jetzt näherte sich Emma einer Buschgruppe, die den Strand zu einem Privatgelände abgrenzte. Emma hatte etwas entdeckt und schob es mit der Schnauze vor; sie machte sich flach und verschwand unter ein paar Ästen.
Mari rannte zu ihr hin, sie wollte wissen, was der Hund gefunden hatte. Aber Emma tauchte nicht wieder auf. Mari zwängte sich selbst zwischen Zweige und Blätter. Ihre Haut brannte, es gab stechende kleine Insekten. Wo war Emma? Da entdeckte Mari einen Drahtzaun, der sich hinter den letzten Büschen verbarg. Sie rief laut Emmas Namen, entnervt, verärgert. Später verzweifelt, als kein beruhigendes Kläffen als Antwort kam. Sie musste weiter in das Gebüsch vordringen, ein wahres Dickicht, das ihre Arme zerkratzte. Wem immer das Privatgelände gehörte, er brauchte keinen Zaun. Der pflanzliche Schutzwall genügte. An einer Stelle war unter dem Drahtgeflecht ein Loch gebuddelt, als hätte sich ein Hase darunter gewühlt und dann Emma.
Emma lief jetzt vergnügt über eine Wiese auf der anderen Seite, drehte sich ab und zu um, als wollte sie Fang mich doch sagen. Mari lief den Zaun entlang. Vielleicht gelang es ihr, bei der Wassergrenze das Grundstück zu betreten. Sie konnte wohl kaum ohne den alten Dackel zu Hause auftauchen. Es gab Verrückte, die freilaufende Hunde abknallten. Was sollte sie machen?
Emma lief auf ein Haus zu. Mari musste sich beeilen. Vielleicht ließ sich der Zaun an einer Stelle anheben. Tatsächlich, er reichte nicht unter die Erde. Sie legte sich auf den Boden und schob sich hindurch. Sie war zierlich, für ihre fünfzehn Jahre recht klein. Aber sie besaß genügend Kraft in den Armen, um den Draht hochzuhalten. Ihr Rock verschlammte, sie würde ihn später wegwerfen müssen. Sie robbte über den weichen Boden, die Nase knapp über modrigen Blättern. Sie war schon halb auf dem fremden Gelände, als jemand ihre Arme fasste und sie unsanft über den Boden zog. Draht schrammte über ihre Beine, riss ihre Waden auf. Sie versuchte nach oben zu schauen, aber da kam schon der Schlag, ein heftiger Schlag auf ihren Hinterkopf.
1
Jan wusste, dass er stank. Zehn Stunden Zugfahrt mit dem Wochenend-Ticket hatten ihn ganz schön schwitzen lassen. Überfüllte Abteile, Kaffee, Zigaretten, Bier. Bei jedem Umsteigen eine neue Dose. Aber Konze ließ im Auto die Fenster unten. Dabei knallte die Sonne auch jetzt noch heftig aufs Dach. Der Mittvierziger hatte Jan einsilbig vom Bahnhof abgeholt, und fuhr schweigend weiter. An alten Alleen vorbei, über schmale, gewundene Straßen, auf denen man nicht überholen konnte und der Gegenverkehr in Parkbuchten warten musste.
Einmal hatte Konze absichtlich einen Radfahrer gestreift. Für Momente hatten sich Autoblech und eine im Gepäckträger eingespannte Tasche berührt. Jan hatte geglaubt, der Radler würde in den Wassergraben fallen.
„Öko-Pack, alles Studenten, die sich was einbilden“, hatte Konze gesagt. Sein erster Satz, seitdem sie im Auto saßen. Er hatte vergessen, dass auch Jan studierte. Aber Design-Student zählte wohl nur halb.
Seit ihrer letzten Begegnung hatte Konze sich von seinem Bart verabschiedet; ein ohnehin nur lückenhaft gewachsenes Experiment. Jan fand Leute merkwürdig, die ihren Bart ausgerechnet im Sommer abrasierten. Statt pubertärer Haarinseln leuchteten nun weiße Stellen auf Konzes brauner Haut. Auf seiner Autofahrerbräune von den langen Strecken zwischen München und Meck-Pomm.
Konzes hervorquellende, braune Augen blieben auf die Straße gerichtet:
„Ich erwarte von Ihnen mindestens zwölf reprofähige Arbeiten, alles Nähere besprechen wir morgen.“
Jan fragte sich, warum nicht gleich. Aber er wollte seinem Auftraggeber nicht widersprechen.
Er war froh, den Job bekommen zu haben. Und Konze regte sich schnell auf.
Sie kamen an einer Hausansammlung vorbei, eine Pension, ein Bauernhof, danach drei einzeln stehende Gebäude. Schemenhaft hinter den Bäumen erkannte Jan den See, von dem Konze gesprochen hatte.
„Wir sind da“, sagte Konze und parkte seinen BMW vor dem letzten Haus, ein langgezogenes, niedriges Prachtstück, riedgedeckt. Vor den blau gestrichenen Fenstern Balkonkästen, Kräuter und Sommerblumen wild durcheinander. Im Garten umgefallene Räder und Spielzeug. Ein Sandkasten und ein Hasenstall.
„Das sieht toll aus!“, rief Jan und bereute seinen begeisterten Tonfall, als er Konzes Miene registrierte. Konze parkte seinen Wagen vor dem garagenähnlichen Nebengebäude, ein kleiner, verwitterter Holzkasten, der ehemals braun gewesen sein musste.
Jan bemühte sich, beim Aussteigen nicht die Tür zu knallen, er wollte Konze nicht noch mehr reizen. Hoffentlich reiste er gleich ab. Jan mochte keine Leute, die Autos mehr schätzten als ihre Mitmenschen.
Jan hievte seinen Rucksack aus dem Kofferraum. Konze trug die Zeichenmappe und ihr zerfleddertes Aussehen bot einen komischen Kontrast zu seinem Anzug.
Der Rasen glitzerte feucht. Jan hoffte, das Wetter würde sich bessern. Über der Seenplatte konnte es Tage lang regnen. Auf keinen Fall durfte sein Zeichenauftrag ins Wasser fallen. Er brauchte so dringend das Geld.
Drei kleine Mädchen tauchten auf und lächelten ihn neugierig an. Die beiden Älteren, Zwillinge mit weißblonden Zöpfen, zogen ein kleineres, dickliches Mädchen hinter sich her, das höchstens drei Jahre alt war und in einem selbstgestrickten, schmuddeligen Pullover steckte, der unglaublich warm sein musste. Um ihren Hals trug sie einen Strick mit einer Möhre. Wahrscheinlich erlaubte ihre Mami keine Lollis und Eis. Jan wunderte sich über ihre Zutraulichkeit, aber als sie Konze bemerkten, rannten sie schüchtern davon, als würde er ihnen Angst machen.
Jan hoffte, dass sein Zimmer hell war, in diesen Katen waren die Zimmer oft niedrig mit winzigen Fenstern. Aber erst brauchte er eine Dusche. Er wunderte sich, dass Konze nicht auf das Haus zu ging, sondern gleich zu diesem alten Schuppen.
„Unser Bootshaus. Eins der ältesten in dieser Gegend“, sagte er, als zitierte er aus einem Werbeprospekt. „Hier haben Sie genug Platz zum Zeichnen.“
Jan wusste nicht, was er abstoßender fand, das joviale Lächeln, das überraschend braune Zähne enthüllte oder die Vorstellung, sechs Wochen in dieser maroden Hütte zu verbringen. Konze hatte ihn reingelegt. Das war kein nettes Zimmer in Seenähe, vielmehr plätscherte das Wasser unter seinem Bett.
Konze registrierte Jans mangelnde Begeisterung, aber sie störte ihn nicht: „Sie werden sowieso den ganzen Tag in der frischen Luft verbringen.“ Ein weiteres Lachen, diesmal klang es schadenfroh. Dieser alte, feiste Bürohengst, dachte Jan. Der fuhr doch selbst zum Zigarettenholen mit dem Auto.
2
Es war einfach gewesen. Er hatte sie nur an ihren Armen auf das Gelände ziehen müssen. Sie war freiwillig zu ihm gekommen. Den ganzen Nachmittag hatte er sie schon beobachtet. Sie schien neu zu sein. Er hatte sie noch nie hier gesehen. Sie trug einen langen, geblümten Rock und ein weites T-Shirt. Die Bravsten waren oft die Schärfsten. Er wüsste schon, was er mit ihr machen würde, die kleine, fette Töle war das größere Problem. Sollte er sie mit einem heftigen Wurf auf den Boden erschlagen? Er hatte Lust, dem Hund in seinen schweren Bauch zu treten. Er musste ihn zum Schweigen bringen. Doch das Gras, obwohl es kurzgeschnitten war, würde zu weich sein. Sollte er den Hund erwürgen? Aber er fand den Gedanken abstoßend, einen Hund zu erwürgen.
Hoffentlich hatte die Kleine ihn nicht erkannt. Aber der Schlag war überraschend gewesen, sie war sofort weg gewesen. Gern hätte er ihre weichen blonden Haare berührt. Aber er hatte sich erst um den Hund kümmern müssen, damit er nicht fort lief. Das Vieh hatte er danach in eine Plastiktüte gesteckt. Es sah komisch aus, wie sich die Pfoten darin bewegten, als hätte die Tüte ein Eigenleben. Aber kurz bevor der Hund erstickte, holte er ihn wieder heraus. Er wollte ihn nicht umbringen.
Sie war leicht gewesen, als er sie ins Haus getragen hatte. Er hatte ihren Zopf gelöst, ihre Haare waren länger gewesen, als er geahnt hatte. Weiches Haar, das selbst ihren Schoß verdeckte. Er drapierte die langen Strähnen über ihren Körper. Es machte Spaß, ihre Haut unter verschiebenden Haarschichten zu spüren, indirekt, ein fellartiges Gefühl, eine doppelte Weichheit.
Er liebte Haare und diese waren in einem Weißblond, noch heller als das der Zwillinge, aber an die Kinder wollte er nicht denken. Sie würden heulen, wenn sie ihn sehen würden, enttäuscht, aber sie würden nichts davon erfahren. Sie waren mit Bekka in der Stadt, zumindest hatte Bekka das gesagt. Scheiße. Das Auto. Sie kamen eher wieder, als er gedacht hatte. Vielleicht war einem der Kinder auf dem Rummel schlecht geworden. Er würde das nackte Mädchen verstecken müssen. Und er wusste auch schon wo.
3
Das Bootshaus war nicht abgeschlossen. Drinnen sah es aus wie in einer Jugendherberge. Schlafräume mit Etagenbetten, seit Monaten nicht gelüftet. Eine Art Küche mit staubigem Tresen und langen Tischbänken. Toiletten, Mannschaftsduschen, Umkleiden. Ein verlassener Kraftraum mit Rudermaschinen. Jan schaute nach draußen. Eine Baustelle nicht weit entfernt. Maschinenlärm morgens um sechs. Das konnte heiter werden. Vom geparkten Auto hatte er sie nicht entdecken können.
„Unser neues Bootshaus“, sagte Konze. „Keine Sorge, die haben gerade Baupause.“
„Warum wird überhaupt ein Neues gebaut?“, fragte Jan. „Hier ist doch alles vorhanden.“
„Weil die Sanitäranlagen unseren Gästen nicht mehr zumutbar sind“, erwiderte sein Auftraggeber.
Aber mir, dachte Jan, mir kann man alles zumuten. Er verstand nicht, warum Konze ihm nichts Besseres besorgt hatte. Als Immobilienmakler hatte er beste Kontakte. Abreisen, vielleicht sollte ich morgen abreisen, überlegte Jan. Soll er zusehen, was aus seinem Kalender wird. Viel zu zeichnen gab es hier wahrscheinlich sowieso nicht.
Sanne hatte Recht gehabt mit ihren Einwänden, als er ihr stolz von seinem neuen Auftrag erzählt hatte. Typen wie Konze zahlten oft nicht einmal. Er würde sie nachher anrufen und ihr von seinem Reinfall berichten und es war ihm egal, wenn sie ihn auslachte. Er wünschte, er könnte bei ihr sein und nicht in diesem Loch.
Die Besichtigungstour war fast vorbei. Jetzt standen sie in der Bootshalle. Paddelboote in verschiedenen Größen lehnten an den Wänden. Der Raum war hoch und dunkel, trotz des großen geöffneten Tors, das auf einen Steg führte, an dem weitere Boote angetäut im Wasser lagen. Vereinzelte Sonnenstrahlen fielen auf ein umgedrehtes Boot, das in der Mitte der Halle auf dem Boden lag. Ein geöffneter Farbeimer stand daneben. Wer immer es streichen wollte, war für einen Moment fort. Die graue Plane war noch ohne Farbkleckse.
„Bin ich im Moment gar nicht der einzige Gast?“, wunderte sich Jan, aber Konze hörte ihm nicht zu.
Er schien wegen irgendetwas verärgert, etwas, das mit dem einzelnen Boot zusammenhing.
„Nein, nein, manchmal kommen noch Leute vom Bootsverein“, sagte Konze schnell. „Aber normalerweise nur Mittwoch abends.“
Er schaute sich das Boot jetzt näher an. Bückte sich zu den Holzlatten, auf denen der Bootskörper aufgebockt war. Er schob eine der Latten zur Seite.
„Mit dem Jungen hat man nichts als Ärger“, brummte er. Aber mehr zu sich selbst. Jan wüsste gern, was dieser fremde Paddler beim Streichen falsch machte. Aber Konze hatte eigentlich immer schlechte Laune. Jan lief nach draußen, in die Sonne. Der Steg war lang. Vielleicht könnte er einen der Tische aus der Küche holen und hier aufstellen. Später, wenn Konze weg war. Es wäre herrlich, ein Zeichentisch an der frischen Luft, das leise Plätschern der Wellen um ihn herum. Ein Zeichentisch mitten auf einem See.
4
Er kann mich nicht sehen, ihn interessieren nur das Wasser, die Fische, die Boote. Er wird nicht zu den Bäumen schauen, zu den Tannen, zu den Stachelbeerhecken. Was macht er überhaupt auf unserem Gelände? Er schaut sich die Boote an, als hätte er noch nie welche gesehen. Das Bootshaus ist jetzt abgeschlossen. Hat H-D etwas geahnt? Ich werde es noch früh genug erfahren.
5
Jan lief weiter in den See hinein. Als er sich umdrehte, stand Konze draußen, unter dem Dach des Bootshauses. Er wirkte blass und in seinem Blick lag etwas Merkwürdiges. Es war, als ob er gleich losfahren wollte, gleich, ohne weitere Worte. Konze hatte es immer eilig. Jan hatte Lust, betont langsam zurückzulaufen, aber etwas in Konzes Augen hinderte ihn daran. Konze gab ihm den Schlüsselbund, dann liefen sie um das Haus herum zu seinem Auto. Er vergaß, den nächsten Termin mit ihm auszumachen. Er fuhr los, schnell, rücksichtslos, sein Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt.
6
Hoffentlich wird der Junge bald verschwinden, er hat so etwas Unsportliches. Er kann bestimmt nicht einmal ein Anfängerboot fahren.
7
Jan ging ins Haus. Er wollte ein Glas Wasser trinken. Aber erst musste er pinkeln.
In der Toilette schwammen Kakerlaken und obwohl er kräftig abzog, ließen sie sich nicht abspülen. Sie rollten sich wie Spinnen zusammen, dunkle Kugeln, wie Hasenköttel auf dem Wasser. Als er sich die Hände waschen wollte, stellte er fest, dass das Wasser nicht ablief. Es gab nur ein benutzbares Waschbecken, bei den anderen fehlten die Verbindungsrohre. Das musste er Konze melden. Jan hatte keine Lust sich unter der Dusche die Zähne zu putzen.
In der Küche fand er Gläser. Es gab auch eine Kaffeemaschine und einen nicht angeschlossenen Kühlschrank. Mit dem Wasserglas zog er sich in den kleinsten Schlafraum zurück, in dem es nur zwei Stockbetten gab. Er kletterte die Holzleiter hoch, war sich nicht sicher, ob sie sein Gewicht aushalten würde. Er ließ sich oben aufs Bett fallen, auf die viel zu weiche Matratze und spürte gleich die Stahlfedern in seinem Rücken. Die Matratze roch muffig, vielleicht wurde es besser, wenn er sie frisch bezog. Auf einem Stuhl hatte man für ihn das Nötigste hingelegt, Handtücher, Bettbezüge. Er konnte von hier aus ins Nachbarhaus blicken. Vielleicht gab es Nachts etwas Nettes zum Schauen, irgendwie mussten die vielen Sprösslinge produziert werden.
Als er draußen auf dem Steg gestanden hatte, waren ihm noch zwei weitere Kinder aufgefallen, zwei Jungs, vielleicht acht und zehn Jahre, die im Sand Fußball spielten. Vielleicht gab es noch mehr Kids hier. Für Momente hatte er das Gefühl gehabt, als hätte ihn jemand heimlich beobachtet, vielleicht ein in den Büschen verstecktes Kind.
Jan packte seinen Rucksack aus. Er legte seine Kleider auf die untere Matratze des Etagenbetts. Aber er hatte sowieso nicht viel zum Anziehen mitgenommen. Den größten Teil des Rucksacks füllten seine Skizzenbücher aus. Er öffnete eine kleine Blechdose und holte ein stoffumwickeltes Fläschchen heraus. Gott sei Dank, das Tuscheglas war nicht ausgelaufen.
Im Essraum drapierte er auf einem der Tische seine Arbeitsutensilien: Bleistifte, Pinsel, Federn, Farben, Anspitzer, das Schächtelchen mit den Kohlestiften. Danach fühlte er sich gleich zu Hause. Fühlte sich als Zeichner.
Er wollte duschen, danach einen Seespaziergang machen. Morgen würde er ins Dorf fahren.
Aus der Dusche kam zunächst rostiges Wasser. Dafür könnte er jeden Tag eine andere Dusche benutzen. Oder ein neues Bett. Jan wünschte, er wäre nicht allein in diesem Haus. Vielleicht hatte Sanne Lust hoch zu fahren. Obwohl er sich nicht sicher war, wie sehr sie sich vor allem ekeln würde. Auf der anderen Seite war es wunderbar, so nah an einem See zu leben. Baden und Zeichnen. Zeichnen und Baden.
8
Wann haut er endlich ab? Was macht er im Haus? Er löste sich aus dem Gebüsch und näherte sich vorsichtig dem Bootshaus. Von dieser Seite konnte ihn niemand sehen, nicht Bekka, nicht die Kinder und der BMW war schon lange weg. Durch die Fenster traute er sich nicht zu schauen, aber es gab Löcher im alten Holz, Löcher, die er vor Jahren selbst einmal heimlich hineingebohrt hatte, und die niemandem aufgefallen waren, warum auch, alles sah marode aus. Gucklöcher, durch die er übernachtende Pärchen beobachten konnte.
Jetzt ist er am Aufräumen. Scheiße, das Studentenbürschchen wird sich noch hier einquartieren. Er wusste nicht, dass der junge Mann, den er unbemerkt beobachtete, tatsächlich studierte, aber er hatte für so etwas eine Intuition, die ihm schon oft nützlich gewesen war. Das Bürschchen haut ab, muss vielleicht seine Dreadlocks waschen oder wie nennt man diese Zotteln? Lange Haare bei Männern konnte er sowieso nicht leiden. Weiberhaare.
9
Die Dusche war alt, das Wasser prasselte in hartem Strahl auf Jans Rücken, aber das hatte etwas und er genoss die kleinen Schläge, das ungewohnt laute Plätschern um ihn herum. Er bemerkte deshalb zunächst nicht die Schritte, Schritte im Umkleideraum, dann in der Küche, später in den Schlafräumen.
Wahrscheinlich der Anstreicher vom Boot, versuchte sich Jan zu beruhigen. Der wusste vielleicht nichts von ihm, dem neuen Übernachtungs-Gast. Es war, als würde irgendwo ein Hund bellen, ein wütendes, leises Bellen. Geräusche von einem Auto. Kinderlachen. Jan trocknete sich schnell ab und zog sich an. Blickte aus dem Fenster.
Konzes BMW parkte draußen. Nanu. Konze selbst stand auf der Wiese in Nähe des Hasenstalls und sprach eindringlich mit einem größeren Mädchen, das vielleicht sechzehn war, ein hübsches Mädchen mit kurzen Haaren und einer ausgeprägten Taille. Konze gestikulierte heftig mit den Armen. Warum war er zurückgekehrt? Wie viele Kinder mochte es noch in dem Haus geben? Vielleicht konnte er ihm gleich vom defekten Waschbecken erzählen.
Jan eilte ins Atelier, wie er die Küche mittlerweile nannte und stopfte sich schnell eins der Skizzenbücher in seinen zweiten Rucksack, ein winziges Teil, gut für unterwegs. Als er draußen ankam, war Konze schon verschwunden.
10
Im Garten roch es schon nach gegrilltem Fisch. Lisa Amelung deckte im Schatten eines Kirschbaums den Tisch, ein weißes Plastiktischchen, von dem sie mit einem Stück Küchenkrepp einen hellen Klecks abwischte, Vogelkacke.
„Mari ist immer noch nicht zurück“, sagte sie und strich sich mit der linken Hand ein paar Strähnen aus der Stirn. „Sie wollte schon vor einer Stunde da sein.“
„Sie wird wieder auftauchen“, versuchte ihr Bruder sie zu beruhigen. „Den Zander wird sie sich nicht entgehen lassen.“
„Die Hentschel hat schon nach ihrem Dackel gefragt“, beschwerte sich Lisa. „Das ist typisch, ein Hund wird eher vermisst als ein Kind.“
„Mari ist kein Kind mehr. Und meine Nachbarin hat außer ihrem Hund niemanden.“
„Du hast immer für jeden Verständnis.“
„Schau mal, Mari und Emma sind erst seit fünf Stunden weg. Von Verschwinden, kann nicht die Rede sein“, erklärte ihr Bruder. „Vielleicht hat sie unterwegs noch jemanden getroffen oder ist mit Anna irgendwo. Eis essen oder sowas.“
„Anna ist beim Turnen.“
„Vielleicht badet Mari.“
„Bei dem Wetter?“ Lisa schrie jetzt. „Kapierst du nicht. Sie ist verschwunden.“
„Die jungen Mädchen trödeln oft herum.“
„Aber nicht Mari. Sie ist immer pünktlich.“
„Dann ruf doch die Polizei.“
„Die werden sowieso nichts unternehmen. Für die muss eine Fünfzehnjährige erst drei Tage verschwunden sein.“
„Sie wird nach Hause kommen“, versuchte ihr Bruder sie zu trösten. „Sie weiss doch, dass du heute Abend ihr Lieblingsessen machst.“
11
Jan lief erst auf die Straße, er wollte wissen, ob es noch mehr Häuser gab, vielleicht einen Lebensmittelladen. Aber er war wirklich am Arsch der Welt gelandet. Vielleicht konnte er auf dem Bauernhof Milch kaufen und ein paar Eier. Morgen würde er ins Dorf fahren.
Am Nordstrand, in der Nähe der Häuser, war der Sand fein, später wurde er gröber, mit Steinen durchsetzt. Die Wegführung änderte sich, er konnte nicht mehr direkt am Wasser laufen. Das Ufer hatte sternförmige Einbuchtungen, Schilf bestandene Landzungen, die ins Wasser ragten, weiträumige Pfützen, in denen Wasservögel brüteten. Aber konnte das noch sein? So spät im Sommer. Jan hatte keine Ahnung. Er genoss die Stille, er war ganz allein.
Anfang September war die Saison schon vorbei; der Campingplatz wirkte verlassen.
Der Weg näherte sich wieder dem Strand. Er kam an Jugendlichen vorbei, die aus einem VW-Bulli einen Bierkasten holten. Auf einem weiteren Kasten hockte ein sportlich wirkendes Mädchen mit blondierten kurzen Haaren und einer knappen Hüftjeans, die einen Blick auf ihren festen, braunen Bauch freigab. Ein grüner Stein glitzerte in ihrem Nabel. Sie hatte für ihr Alter ungewöhnlich harte Gesichtszüge und auch von ihren Begleitern ging etwas Unangenehmes aus. Jan beeilte sich an ihnen vorbeizukommen.
Er mochte es nicht, wenn man in Naturschutzgebieten mit dem Auto bis zum Strand vorfuhr. Einer der Jungs stand in der Birkenschonung und pinkelte.
Er hörte ein Kichern, als er den VW hinter sich ließ. Hundert Meter weiter gab es einen Aussichtsturm. Er sah aus wie eine Packung Zahnstocher, überdimensionierte Hölzer, wie zufällig aneinandergelehnt, im Inneren eine stählerne Wendeltreppe mit Gitterböden, durch die man hinunterschauen konnte. Jan kletterte hinauf, obwohl er nicht schwindelfrei war. Diese Überlagerungen von Gittern, dazwischen Luft – eine Garantie für spätere Alpträume, nächtliches, schweißgebadetes Aufwachen, aber vielleicht wollte er gerade deswegen hinauf.
Höher und höher. Wenn er geradeaus schaute, hielt sich der Schwindel in Grenzen.
Die Clique schaute gelangweilt zu ihm hoch. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich beachteten. Als er auf der ersten Plattform war, fing der Turm an zu vibrieren. Ein Beben, das bis in die Spitze drang. Das helle Kichern eines Mädchens, in das sich das dunkle, raue Lachen eines Jungen mischte. Sie trugen schwere Stiefel und hasteten an ihm vorbei, als wären sie schon tausendmal hier gewesen. Das Mädchen lachte, als sie sah, wie ängstlich er sich mit seinen verschwitzten Händen am Geländer festhielt.
Was hatte sich der Architekt bei dieser Konstruktion bloß gedacht. Jan wusste von Sanne, dass man als Phobiker mindestens fünfzehn Minuten durchhalten musste, damit die Angst verging. Schweißgebadetes Durchhalten. Flooding nannte Sanne das. Hatte sie in ihrer letzten Psychologie-Vorlesung gelernt. Vielleicht empfand auch das Pärchen dieses leichte Gruseln, ähnlich wie beim Powertower auf der Kirmes, und er stellte sich das Mädchen mit empor gerutschten Rock auf der schwankenden Plattform vor, während der Junge dem Liebesfloß das Tanzen beibrachte.
12
Er ist jetzt am See, weit weg. Ich werde das Mädchen aus ihrem Versteck holen und zum Wald bringen. Aber erst werde ich sie anziehen. Beinah wäre sie aufgewacht und ich hab' ihr noch eins verpasst. Jetzt wird sie ruhig sein, ruhig wie die Töle.
13
Jan war wieder allein oben. Er hatte sein Skizzenbuch aus dem Rucksack geholt und versuchte zu zeichnen, aber der Wind war stark und blätterte ihm die Seiten aus der Hand. Duft von gegrillten Würstchen drang zu ihm hoch und er bekam Hunger. Er hatte versucht, Sanne anzurufen, aber der Akku seines Handys war leer, er müsste ihn zu Hause erst wieder aufladen. Wie selbstverständlich das klang. Zuhause. Dabei war er gerade vier Stunden hier.
Mittlerweile war es kurz nach acht. Es dämmerte leicht. Er hörte etwas wie das Schlagen einer Axt. Er schaute in den Birkenwald, wo der Junge zum Pinkeln gestanden hatte. Jemand trug etwas heraus, das wie ein Baumstamm aussah, aber vielleicht war es etwas anderes, das in helle Folie eingeschlagen war. Eine Leiche, dachte Jan kurz, aber er fand seinen Scherz selbst nicht lustig. Aber das Verhalten der Dorfjugendlichen noch weniger. Sie schlugen wild Bäume, um sie als Brennholz zu verwenden. Er wunderte sich, dass sich niemand beschwerte. Aber man war wohl froh, dass sie sich hier aufhielten und nicht auf dem Marktplatz.
Vor dem riedgedeckten Haus stand ein kleiner LKW. Nordfrost. Konnte man jetzt noch einkaufen? Es gab ja sonst keine Läden. Lebensmittelversorgung auf dem Land. Die Nachbarin kaufte wohl gefrorene Pommes oder eine Torte.
Langsam wurde es dunkel. Er musste sich beeilen, wenn er nach Hause wollte. Jenseits des Sees gingen die Lichter an.
14
„Mari ist immer noch nicht da.“ Lisa Amelung hatte jetzt Angst. Es war mittlerweile 20.10 Uhr.
„Die Polizei hat versprochen, zum See zu fahren“, sagte ihr Bruder und nahm sie sanft in seine kräftigen Arme.
15
Ein Polizeiauto fuhr die Uferpromenade entlang. Jan fand es spannend, von oben zuschauen zu können, obwohl er den Wortwechsel nicht verstehen konnte. Ein Beamter zeigte auf die Birkenschonung. Hatte er beobachtet, wie die Jungs den Baumstamm aus dem Wald geholt hatten? Das Mädchen bot ihm eine Wurst an und für Momente glaubte Jan, er würde sie annehmen. Dann schaute er in das Innere des Bullis. Aber im Dämmerlicht war nicht viel zu erkennen. Dann fuhr er los. Hinter ihm das auflodernde Lagerfeuer.
Jan war froh wieder auf dem Boden zu sein. Die Knie fühlten sich weich an, wie nach einem Höllensturz mit dem Powertower. O-beinig stakste er durch den Sand. Später würde er angenehm einschlafen, auf seiner weichen Matratze, ein Wogen wie das Schaukeln von Booten.
Es gab Glühwürmchen hier, in einem weichen, neonfarbenem Grün. Er wollte nicht an den Jugendlichen vorbei und umquerte den See in entgegengesetzter Runde, eine längere Strecke, aber das war ihm egal. Wenn er Glück hatte, würde er gegen 21.00 Uhr zu Hause sein.
Scheinwerfer näherten sich ihm von hinten. Ein weiterer Polizeiwagen drehte seine Runde.
Und dann kamen ihm die Zwillinge entgegen. Die eine hielt eine Taschenlampe in ihrer kleinen Hand. Die anderen eine Leine, an der ein kräftiger Rottweiler zog. Eine gedrungene, dunkle Silhouette vor dem flachen Grau des Sees. Eine Szene wie in einem Film. Er hoffte, das Mädchen hatte genügend Kraft in den Armen, um den Hund festzuhalten, denn er knurrte nicht gerade freundlich und versuchte Jan anzuspringen. Jan hatte normalerweise keine Angst vor Hunden, aber dieser war ihm nicht geheuer.
„Er mag keine Männer“, erklärten die Mädchen. „Wir halten ihn fest.“
Wo war er bloß gelandet, wo zehnjährige Mädchen allein in der Dunkelheit flanierten, mit einem Riesenköter, der begeistert nach seinen family jewels schnappen würde, wenn man ihn ließe.
Jan war froh, an einer Hauptstraße anzukommen. Ein gelbes Neonband in der Nacht. Vor der Tankstelle standen fünf Streifenwagen. Er betrat den hell erleuchteten Innenraum und all das Geglitzer stimmte ihn überraschend froh.
Vor der Snackbar unterhielten sich vier Polizisten, darunter eine Frau mit Pferdeschwanz, und bissen in aufgewärmte Hot Dogs. Jan stellte eine Tasse unter den Cappuccino-Automaten und versuchte, während Milch und Kaffee ineinander liefen, die Gespräche zu belauschen. Er wollte wissen, um was es ging. Und wo war der Rest der Besatzung? Vielleicht gab es einen Vermisstenfall und sie durchkämmten mit Hundestreifen das Seegebiet. Aber dann würden sie nicht so relaxt herumstehen. Er kaufte sich noch ein Bier für zu Hause und machte sich los.
Aus der Ferne sah er, dass Licht in seinem Schlafzimmer brannte. Er konnte sich nicht erinnern, es angelassen zu lassen. Er nahm ein Handtuch und schlug nach den Mücken. Es gab hässliche Flecken auf den Wänden, aber das war ihm egal. Das Bootshaus wurde sowieso abgerissen. Er suchte nach seinem Aufladegerät, aber er schien es zu Hause vergessen zu haben. Mit dem Bier zog er sich ins Küchenatelier zurück. Er fand noch eine staubige Kerze und betrachtete seine Skizzen. Für heute hatte er genug geschafft.
Später konnte er nicht einschlafen, es surrte um ihn herum, er musste an Sanne denken.
Morgen würde er ins Dorf gehen. Er freute sich auf eine Entdeckungstour.
Es war verdammt kalt hier, selbst für eine Sommernacht. Er würde um eine weitere Decke bitten müssen. Diese fühlte sich klamm an, als hätte sie lange draußen im feuchten Gras gelegen. Da war ein Plätschern, wie von einem Boot. Als würde jemand nachts auf den See hinausfahren.
16
„Vielleicht hätten wir die Polizei doch eher rufen sollen", sagte Eric Amelung zu seiner Schwester, die mit angezogenen Beinen auf dem Sofa hockte, verängstigt. Eine Beamtin hatte die Amelungs gerade verlassen. Lange hatten sie im Wohnzimmer gesessen und über Maris Gewohnheiten gesprochen. Aber Mari hatte keine besonderen Gewohnheiten. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren fast noch ein Kind, was für Lisa bequem war, ihr aber doch manchmal Sorgen bereitete, besonders, wenn sie Mari mit ihrer Cousine verglich.
Anna selbst hatte auf ihre Weise an den Ermittlungen teilgenommen. Sie hatte auf dem Handy ihres Vaters alle Schulfreundinnen und Freunde angerufen, die Mari vielleicht kennen gelernt haben konnte, in den drei Wochen, die sie hier Urlaub machte. Das Telefon im Flur traute sich niemand zu benutzen, in jedem Moment konnte die Polizei anrufen, mit einer neuen, vielleicht schlimmen Nachricht.
Frau Hentschel hatte am frühen Abend heulend in der Tür gestanden und Lisa hatte sie in den Garten gebeten und ihr ein Glas Wasser angeboten.
Lisa hatte lange gebraucht, um die Polizei von einer Suchaktion zu überzeugen. Man hatte sie am Telefon zunächst abwimmeln wollen. Jedes Jahr verschwanden Mädchen aus dem Dorf, die meisten tauchten nach einigen Tagen wieder auf.
„Und was ist mit Agneta Feldmann?“, schrie Lisa in den Hörer.
Die Tochter einer alleinerziehenden Bekannten war schon seit einem Jahr verschwunden. Agneta, ein dunkelhaariges, ruhiges Mädchen, zwei Jahre älter als Mari. Immer noch hing ein Foto von ihr auf einem Vermisstenplakat bei der Polizei. Aber ansonsten schien man sie vergessen zu haben.
Lisa hatte sich von ihrem Bruder das Auto geliehen und war selbst zur nächsten Dienststelle gefahren, zwanzig Kilometer entfernt.
17
Jan wachte am nächsten Tag gegen Mittag auf. Er hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Immer wieder hatte er vom Turm geträumt. Das Ding war im Traum gewachsen, eine sich in den Himmel schraubende Spirale. Unten standen die Zwillinge und lachten ihn aus, während der Rottweiler die Stufen hochtrabte, immer höher, immer näher. Und Sanne hatte ihn als Feigling beschimpft, einen Fall für die Neurosestation, wo sie am Wochenende jobbte.
Jan holte die Butterbrotdose aus dem Rucksack. Nach 30 Stunden sahen die Schnitten kaum noch essbar aus. Aber hinter dem Tresen hatte er am Vorabend einen Toaster gefunden und lief mit den verbogenen, verschwitzten Käseschnitten in die Küche. Er setzte Teewasser auf, irgendwo fand sich sicherlich noch ein Beutel. In der Zwischenzeit könnte er duschen. Als er sich abtrocknete, zogen Rauchschwaden durch das Bootshaus. Er hätte vorher den Hitzeregler runterdrehen müssen.
18
Bald, bald werden sie das Mädchen finden. Er freute sich schon auf die Radiomeldung. Er war vorsichtig vorgegangen. Das Mädchen hatte an keiner Stelle den Holzboden berührt. Man würde bei ihm keine Haare finden, keine sonstigen Spuren, er hatte sie nur mit Laborhandschuhen angefasst, schade, ein fast noch schlimmere Beeinträchtigung als das Kondom, aber er wollte keine unnötigen Risiken eingehen. Sie hatte die ganze Zeit geschlafen, während er sich mit ihr beschäftigt hatte. Auch das fand er schade und im Grunde etwas langweilig. Als sie gar nicht mehr aufgewacht war, hatte er für Momente Angst gehabt, dass er sie zu kräftig geschlagen haben könnte. Ach, na was.
19
Jan lief zum Nachbarhaus. Im Hasengehege saß das kleine Mädchen, ein großes, graues Kaninchen in ihren molligen Armen. Jan dachte an die Möhre, die am Abend zuvor um ihren Hals gebaumelt hatte und musste lachen.
„Das ist Rhabarber“, sagte die Kleine.
„Dann einen schönen Tag für Herrn Rhabarber“, sagte Jan und beugte sich zu dem grauen Fellknäuel hinunter. Er fand es komisch, einen Hasen ausgerechnet so zu nennen. Aber Herr Salat oder Herr Kartoffel würde noch verrückter klingen.
In der Ferne sah er das junge Mädchen in der Tür stehen, mit dem sich Konze so aufgeregt unterhalten hatte. Jan lief auf sie zu. Er wollte sie fragen, ob sie ihm zwei Schnitten Brot geben könnte. Aus der Nähe erkannte er, dass sie älter war, als er gedacht hatte, mindestens Anfang dreißig. Ihre Augen waren groß und hell, mit feinen Lachfältchen und dunklen, schweren Augenringen, wie sie nur Frauen bekommen, die eine besonders feine Haut haben.
„Sie sehen ja lustig aus“, sagte sie und lachte. Sie meinte bestimmt seine Mückenstiche. Er hatte sie selbst noch nicht begutachtet, nach dem Duschen waren die Spiegel zu beschlagen gewesen.
„Ich bin Ihr neuer Nachbar, zumindest für die nächsten sechs Wochen“, stellte er sich vor. „Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir etwas Brot ausborgen könnten.“
„Zum Mittagessen oder zum Frühstück?“ erkundigte sie sich und lachte noch mehr. Sie hatte schöne, weiße Zähne.
„Kommen Sie doch rein. Wir haben uns eine Kanne Tee gekocht. Wäre nett, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.“
Er folgte ihr in einen schattigen Flur. Eine Fototapete nahm die Längswand ein. So etwas hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen.
In der Küche hing über dem Kühlschrank ein Pferdeposter mit Querfalten, wie die Beilagen in den Apothekenzeitschriften. Sie öffnete die Rolltür eines hölzernen Brotkastens. Vollkornbrot, Rosinenstuten, selbst ein paar Stücke Kuchen stellte sie vor ihn auf den Tisch.
„Hier ist noch Rhabarbermarmelade, die ich mit den beiden Zwillingen eingekocht habe.“
Jan kaute voller Behagen und schaute sich um. Solch malerische Küchen schien es nur noch im Osten zu geben. Hinter den geöffneten Eisentürchen einer Kochmaschine entdeckte er eine schlafende Katze. Die Möbel waren mindestens so alt wie das Haus. Gardinchen hinter Glasfenstern, spitzenumsäumte Regalbretter.
Am liebsten hätte er seinen Zeichenblock herausgeholt.
„Das Chaos scheint Ihnen zu gefallen“, sagte sie und lachte wieder. Sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn er ihre Küche skizzierte, aber er wollte ihre Gastfreundschaft nicht ausnutzen. Er würde sich die Details so merken. Allein diese mechanische Kaffeemühle mit der Drehkurbel, in Kinderhöhe angebracht. Oder die alte Blechdose mit den Zoomotiven, oben auf dem Regal, das man nur mit einer Leiter erreichen konnte. Aber das Interessanteste war die dunkelblaue Bowleschüssel, direkt daneben. Ein seltsames Objekt, wohl aus der Gründerzeit. Ein wundersames Relief, vorbeiziehende Schiffe und eine Loreley, die sich mit einer winzigen Bürste, die Haare kämmte.
Solche Mädchen gab es nicht mehr, Mädchen mit Locken, die bis zu den Kniekehlen über ihre sanften Körper flossen.
Ihm fiel neben der Spüle ein großer Korb mit einer Decke auf. Der Schlafplatz vom Rottweiler. Hoffentlich lief er nicht frei im Haus herum. Aber dann hätte er sich schon längst gemeldet. Er betrachtete das altmodische Radio und hätte zu gern gewusst, was in den Nachrichten kam. Vielleicht könnte er etwas über den nächtlichen Polizeieinsatz erfahren.
„Ich muss gleich zur Post“, unterbrach sie seine Gedanken. „Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?“ Die Vorstellung gefiel ihm.
„Dann brauch ich nicht mit dem Bus zu fahren.“
„Der Bus, den können Sie vergessen. Der fährt nur viermal am Tag. Aber vielleicht übertreibe ich auch“, sie lächelte ihn wieder auf diese nette Weise an. Sie lief vor ihm her zu einem Carport. Vorher hob sie noch das kleine Mädchen aus dem Hasengehege.
„Das ist Lucy“, stellte sie die Kleine vor.
„Ganz schön lästig, wo wir im Moment Kindergartenferien haben.“
Im Gegensatz zu Konze hatte sie einen übervorsichtigen Fahrstil, als würde sie nur selten fahren.
Auf der Hauptstraße fuhr vor ihnen ein Polizeiwagen, davor der Linienbus.
„Was für ein Zufall“, meinte Jan.
„Fährt die Polizei dem Bus hinten rein?“, kam es von hinten aus dem Kindersitz.
„Aber Lucy, die Polizei macht so was nicht.“
Jan wollte fragen, was denn eigentlich los war, aber etwas hinderte ihn daran.
„Eis essen, Mama und ich“, sagte Lucy.
„Wo kann man denn hier Eis essen?“
„Beim Bäcker“, antwortete ihre Mutter. „Ein italienisches Eiscafé haben wir nicht. Aber das Eis schmeckt trotzdem gut. Stimmt's, Lucy?“
„Eis, Eis essen, Mama.“
20
Warum kam nichts Neues über das verschwundene Mädchen? Verfolgte die Polizei eine bestimmte Taktik? Er hatte zwei Stunden neben dem Radio verbracht. Langsam wurde er nervös. Und bald war er nicht mehr allein. Immerhin hatte er aus den ersten Nachrichten am Morgen erfahren, dass sie Mari hieß. Mari, nicht Marie. Seine Eltern hätten sich solche Extravaganzen nicht einfallen lassen. Mari, so ein verwöhntes Töchterchen. Geschah ihr Recht, dass sie dort lag, wo sie jetzt war. Frierend. Man kann im Sommer nicht erfrieren oder doch?
21
Jan kaufte Mücken-Gel in einer kleinen Drogerie am Marktplatz. Der Kassierer sah irgendwie pervers aus, fand Jan, aber vielleicht wurde man das, wenn man ständig mit diesen aufgemotzten Mädchen konfrontiert wurde, die in zu engen Hosen vor den Geschäften lungerten, manche einen Kinderwagen vor sich herschiebend.
Das Bäckereicafé war leicht zu finden. Lucy und ihre Mama hatten ihr Eis bestimmt schon im Bauch. Jan bestellte sich einen Kaffee und einen Wiener. Er hatte den ganzen Nachmittag gezeichnet, den Marktplatz, die beiden Kirchen, das Schloss, das zu einem Schulungsgebäude umfunktioniert worden war. Es hatte ihn gewundert, dass sich niemand für seine Skizzen interessiert hatte. Waren sie heute so schlecht?
Das Mädchen mit dem Bauchnabelpiercing kam herein, neben sich eine Freundin mit einem Kleinkind im Arm. Heute trug sie ein weites Hemd. Während ihre Freundin die Bestellung aufgab, schaute sie ihn an: „Na, heute nicht schwindelig?“
Jan wollte sich zunächst ärgern, aber ihre Bemerkung hatte nett geklungen, eher wie eine Begrüßung. Vielleicht war er schlechter Laune, weil es mit dem Zeichnen nicht klappte. Und weil er Sanne nicht erreichen konnte, selbst ihren AB hatte sie ausgestöpselt.
Der Laden leerte sich. Jetzt war er mit der Bäckerin allein. Sie drehte das Radio laut.
„Es stört Sie doch nicht, oder?“
„Nein, nein, im Gegenteil“, beeilte sich Jan zu sagen, woraufhin sie das Ding noch lauter stellte. Er war froh, Nachrichten hören zu können, im Bootshaus gab es kein Radio. In der letzten Nacht war tatsächlich etwas passiert. Ein Mädchen war verschwunden. Und ein Hund.
Das Mädchen war eine fünfzehnjährige Urlauberin, die bei ihrem Onkel wohnte. Den Hund, einen alten Dackel, hatte sie von einer Nachbarin ausgeliehen. Man ging davon aus, dass sie nicht weit gelaufen waren. Vielleicht hatte der Täter sie schon im Dorfkern abgepasst oder auf der Hauptstraße in sein Auto gezogen. Vielleicht lag gar kein Verbrechen vor. Und sie war bei einer Freundin und lachte über die ganze Aufregung. Immerhin war sie erst einen Tag verschwunden. Und schon fünfzehn.
22
Jan nahm seinen Tacker und befestigte in seinem Küchenatelier seine Zeichnungen an der Wand. Die Rathausstudie kam ihm besonders gelungen vor. Sein „Pflichtprogramm“ hatte er absolviert. Kitschige Souvenirzeichnungen von den Dorfattraktionen. Er fragte sich, was er in den restlichen Wochen tun sollte. Wenn er sich morgen noch mal ransetzte, hatte er die zwölf Kalenderblätter fertig. Aber vielleicht bezahlte ihn Konze nur, wenn er bis zum Schluss blieb. Zumindest bis zum nächsten Wochenende würde er ausharren.
Er hätte gern gewusst, wie die Mutter von den Kindern hieß. War sie alleinstehend? Und wie konnte sie es sich leisten, in einem so großen Haus zu wohnen?
23
Warum haben sie diese Mari immer noch nicht gefunden? Am liebsten hätte er selbst noch mal vorbeigeschaut. Aber das konnte er natürlich nicht wagen. In der Zeitung stand, dass sie im Urlaub war. Und sie war jünger, als er geglaubt hatte. Fünfzehn. Sie würde die Stelle nicht mehr finden, wo er sie niedergeschlagen hatte. Man sagte doch, dass man sich an die Momente vor einer Bewusstlosigkeit später nicht mehr erinnern kann. Und das Seegebiet war unübersichtlich. Es gab viele Zäune, viele Seen, viele Stellen, die so ähnlich aussahen. Wer weiss, wie weit sie gelaufen war und von woher. Sie würde wohl kaum zwölf Kilometer neben der Hauptstraße spaziert sein. Sondern gleich im Naturschutzgebiet.
24
Jan hatte noch geschlafen, als Konze am nächsten Morgen in der Früh an die Tür des Bootshauses klopfte. Um 13.00 Uhr wollte er sich mit ihm im Dorf treffen, im Bäckereicafé. Dabei hätte er sich die Zeichnungen gleich vor Ort an schauen können. Oder ihm zumindest anbieten können, ihn mit dem Auto mitzunehmen. Missmutig nahm Jan das Ende von einem Schraubenzieher, schob es unter die Heftklammern und entfernte seine Skizzen von der Wand.
Jan hatte in der Bäckerei schon zwei Cappuccinos getrunken, den alten, gläsernen Kühlschrank gelobt und das Eis, aber Konze kam nicht. Er war der Chef, er hatte es nicht nötig, pünktlich zu sein. Jan hatte in der Zwischenzeit einen Brief an Sanne angefangen, er verstand nicht, warum sie nie ans Telefon ging. Ohne funktionierendes Handy war alles umständlich, er musste immer Umwege machen, zur Post oder zur Telefonzelle auf dem Marktplatz, die einzige öffentliche, die es gab. Was hatte er Sanne nur getan?
Als Konze zwei Stunden später endlich vorgefahren kam, steckte er ohne zu Fragen alle Zeichnungen ein. Danach fühlte sich Jan nackt. Er brauchte fertige Blätter um sich herum, um in Arbeitsstimmung zu kommen. Und würde er sie je wiedersehen oder zumindest das Geld dafür?
Er hatte keine Lust, in sein Atelier zurückzukehren. Obwohl Konze angeboten hatte, ihn dort abzusetzen. Lieber trank er noch einen Kaffee und plauderte mit der Bäckerin.
25
Die Beamten saßen im Wohnzimmer der Amelungs, wie in der Nacht zuvor. Lisa hatte schon die zweite Kanne Kaffee gekocht. Mari lag oben in Annas Zimmer und schlief. Als man sie gefunden hatte, hatte sie kurz die Augen geöffnet und etwas gesagt. Aber dann war sie wieder eingeschlafen. Sie hatte schlimm ausgesehen, ihre Wangen waren geschwollen, als hätte jemand sie geohrfeigt, nicht einmal, zehn mal, eine ganze Nacht lang. Ihre Haare waren verklebt. Am Hinterkopf hatte sie eine größere Beule, als wäre sie auf einen Betonboden geknallt.
Es tut mir leid“, fing die junge Beamtin wieder an. „Aber Mari muss dringend in der nächsten Frauenklinik untersucht werden.“
„Warum können Sie sie nicht einfach in Ruhe lassen?“, schrie Lisa und ihr Bruder musste sie besänftigend in den Arm nehmen. „Sie wissen doch, was sie durchgemacht hat.“
Maris Hose war nass gewesen, aber nicht von dem Wasser im Wassergraben. Sie hatte sich sogar in die Hose gemacht. Kein Wunder nach über 24 Stunden. Sie war mit Isolierband an Armen und Beinen gefesselt gewesen. Lisa hatte Maris Kleider in eine Plastiktüte getan und den Beamten zur Untersuchung mitgegeben.
„Sie möchten doch auch, dass wir den Täter finden oder nicht?“, wiederholte die junge Frau und konnte ihre Ungeduld nur noch schwer verbergen. „Je mehr wir wissen, desto schneller finden wir ihn.“
Lisa schwieg.
„Denken Sie dran, er läuft immer noch draußen rum, irgendwo.“ Irgendwo. Vielleicht ganz in der Nähe.
26
„Schlimm nicht?“, sagte die Bäckerin.
„Ja.“ Mehr fiel Jan nicht ein.
„Aber Gott sei Dank lebt sie noch. Man sucht noch immer nach dem Hund. Vielleicht hat der Täter ihn umgebracht.“
„Was ist schon ein Hund verglichen mit einem Menschen?“
„Vielleicht kann der Hund die Polizei zum Täter führen.“
Daran hatte Jan nicht gedacht, obwohl es offensichtlich war. Man würde den Hund bestimmt demnächst irgendwo finden, ertrunken oder in einer Plastiktüte. In einem Gebüsch. Oder in einer Mülltonne vor irgendeiner Ampel.
Obwohl einem Dackel, und dann noch so einem Dackel, einem alten, fetten Schoßhund würde er solch detektivische Fähigkeiten nicht zutrauen. Er hatte ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen. Und in der gestrigen Ausgabe eins von dem Mädchen. Als man sie noch vermisst hatte. Sie war hübsch, ihre Haare lang und blond. Lang und golden. Wie die Loreley. Wie die Loreley auf der Bowle-Schüssel.
Jan fiel wieder die Szene im Wald ein, der pinkelnde Junge in der Birkenschonung. Das rätselhafte Ding, das sein Kumpel aus dem Wald getragen hatte. War es vielleicht doch kein Baumstamm gewesen? Aber das konnte nicht sein. Die Polizei hatte doch in den VW geschaut. Die Dämmerung war schon angebrochen, das Innere des Bullis dunkel. Und der Beamte hatte keine Taschenlampe hineingeschwenkt. Konnte er etwas übersehen haben?
27
„Was machen Sie in meinem Haus?“, fragte Jan einen rotgesichtigen jungen Handwerker.
„Ihre Nachbarin hat mich beauftragt. Ich soll ein defektes Waschbecken reparieren.“
Jan lief voraus und zeigte es ihm. Das ging ja schnell, er hatte es gestern nebenbei beim Frühstücken erwähnt. Sie musste gleich Konze benachrichtigt haben.
Der junge Mann montierte das U-Rohr ab und stocherte mit einem Schraubenzieher darin herum.
„Da kommt ganz schön was raus. Stecken zu viele Haare drin“, stellte er fest. In einem nörgeligen, unprofessionellen Tonfall, wie Jan fand.
„Die Mädchen verstopfen alles“, führte der Handwerker weiter aus. „Wenn nicht mit Haaren, dann mit Binden und Tampons und ihrem sonstigem Weiberscheiß.“
Jan musste grinsen. Dieser junge Mann hatte einen wirklich speziellen Sinn für Humor. Jetzt hob er seinen Kopf über den Eimer hinweg und schaute Jan missbilligend an, als hätte Jan sich selber über dem Spülstein die Haare ausgebürstet.
Der Typ könnte eigentlich gut aussehen, dachte Jan - obwohl ihn das Aussehen anderer Männer selten interessierte -, trotz der rotpickligen Haut, die jetzt vor Ärger noch weiter anlief. Wenn er nicht einen so unsympathischen Blick hätte. Seine braunen Augen hatten etwas Totes.
Die Zwillinge liefen ins Haus, ausgelassen und neugierig, ohne anzuklopfen, als würden sie normalerweise immer hier spielen und als hätte nicht Jan das Hausrecht, sondern sie selbst. Und ein bisschen war es auch so.
„Wenn die Kinder Sie stören, geben Sie mir Bescheid.“
„Nein, nein, im Gegenteil“, beeilte sich Jan zu sagen. Was gingen diesen Blödmann die Kinder an?
„Wenn sie klein sind, haben sie etwas Liebenswertes. Aber wenn sie älter werden, werden aus ihnen echte Flittchen, nichts im Kopf außer -.“
Jan ging aus dem Zimmer. Er hoffte, der Handwerker wäre schnell fertig. Vielleicht sollte er sich bei Konze über ihn beschweren.
Jan ging zu seinem Schreibtisch. Eins der Mädchen blätterte in seinem Skizzenbuch.
„Ist das nicht die Bowle-Schüssel bei uns in der Küche?“
„Nein - nur eine, die so ähnlich aussieht.“ Jan wollte nicht lügen. Ihre Frage war berechtigt, aber er wollte nicht für einen „Spion“ gehalten werden.
„Ich kann ihn nicht leiden.“
„Wen?“
„Den Mann im Klo.“
„Und warum nicht?“
„Nur so.“ Sie riss sich los. „Soll ich dir die Boote zeigen?“ Sie lief voraus. Jan wunderte sich, dass die Bootshalle wieder zu betreten war. Gestern war sie abgeschlossen gewesen, den ganzen Tag lang, von beiden Seiten, innen und außen. Dabei hätte er so gern das schlecht gestrichene Boot begutachtet. Allein aus fachlichem Interesse. Aber auch um nachzuvollziehen, was Konze daran schockiert hatte.
„Guck mal, die Aufkleber“, sagte sie. „Blau sind die Anfängerboote.“
„Die kann man wohl auch noch fahren, wenn man blau ist.“ Aber die Kleine verstand seinen Witz nicht. Stattdessen erklärte sie ihm die anderen Farben. Die Seefahrt bediente sich offenbar des Ampelprinzips: Grüne Punkte klebten auf den Ruderbooten, für die man Erfahrung benötigte. Gelb waren die Könnerboote, rot die Profischnellboote.
„Ich bin auch schon mal grün gefahren. Mit Agneta, die trainierte in der -“ Sie unterbrach sich selbst, als ihre Schwester hinzukam, als wäre es schon verboten, Agnetas Namen zu erwähnen.
„Was ist mit Agneta?“, fragte Jan neugierig, obwohl er wusste, dass es ihn nichts anging. Kleinmädchengeheimnisse.
„Agneta“, sagte ihre Schwester, „Agneta ist nicht mehr da.“
„Tot.“
„Nein, sie ist nicht tot“, entgegnete die andere und schien erbost. „Sie ist nur verschwunden.“
„Aber im Fernsehen haben sie gesagt, dass es nach so langer Zeit kaum noch Hoffnung gibt.“
„Vielleicht kommt Agneta wieder zurück.“
Jan verstand es nicht. Er war erst zwei Tage hier und hörte schon von zwei verschwundenen Mädchen. Die eine war heute morgen wieder aufgetaucht, die andere seit über einem Jahr verschwunden.
„Vielleicht taucht sie tatsächlich wieder auf“, sagte er zu der Kleinen, auch wenn er selbst nicht daran glaubte. Aber sie hatte etwas Trost verdient. Und vielleicht geschahen ab und zu Wunder.
28
Ich ärgere mich. Ein paar Stunden durfte ich nicht Radio hören und habe jetzt bestimmt das meiste verpasst. Vielleicht taucht sie nachher kurz im Fernsehen auf. Aber sie werden wohl kaum ein Foto von ihr zeigen. Wie sie nach zwei Nächten aussah. Im Wassergraben. In der stinkenden Brühe, hundert Mückenstiche auf ihrem niedlichen Gesicht. Ich habe sie so hingelegt, dass sie mit dem Kopf nicht ins Wasser fallen konnte. H-D hatte die Idee, ihre Hände um einen Baumstamm zu legen. Eine schlaue Idee, zugegebenerweise. Aber ich wäre auch allein darauf gekommen.
29
Die Zwillinge liefen zum Nachbarshaus. Es sollte Kartoffelsalat geben und Jan bekam selbst Hunger. Er schaute aus dem Fenster. Lucy tobte im Garten mit einem Roller. Ihre Mutter lud aus dem Kofferraum Putzutensilien. Mehrere Eimer, über denen Wischmöpse zum Trocknen ausgebreitet waren. Teleskopstangen, Besen. Was machte sie mit all den Dingen?
Jan widmete sich danach seinen Zeichnungen, es war ihm unangenehm, dass die Mädchen von seinen Gedächtnisübungen erfahren hatten. Von den vielen malerischen Details aus ihrer Küche. Auf einer Skizzenbuchseite hatte er sogar ihre Mutter verewigt.
Am Nachmittag klopfte es bei ihm an der Tür.
„Ich habe von den Kindern erfahren, dass sie meine Küche gezeichnet haben“, sagte sie. „Da bin ich natürlich neugierig.“
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Skizzenbuch zu holen. Mit roten Wangen blätterte sie um. Sie schien wirklich begeistert.
„Haben Sie nicht Lust, ein paar größere Zeichnungen anzufertigen?“, schlug sie ihm vor.
Von dem Kartoffelsalat häufte sie ihm eine große Portion auf einen Teller. Was war eigentlich in der Bowle-Schüssel drin? Aber es ging ihn nichts an.
Die Mädchen waren mit dem Rottweiler spazieren.
Das Mädchen im Wassergraben.-
Ja, traurige Sache.
Den Hund hat man übrigens gefunden.
Lebend?
Ja, er war vor einer Autogaststätte angebunden.
So eine Geschichte musste einer Mutter natürlich noch näher gehen, dachte Jan. Auch wenn ihre eigenen Kinder viel jünger waren. Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Zeichnen, Essen, Reden, später ein Glas Wein, draußen auf der blaugestrichenen Bank im Garten. Zwischendurch hatte sie die Kinder ins Bett gebracht. Warme Luft, Sommernacht, Wasserplätschern. Ab und zu hatten sie sich versehentlich berührt. Die Bank war klein, eigentlich nur für Kinder. Er hätte gern durch ihr kurzes Haar gefahren, so zerzaust. Es machte Spaß, mit ihr draußen zu sitzen. Anders als mit Sanne. Die musste immer etwas unternehmen. Als würde sie schon in ihrem Praktikum genügend zuhören, was vielleicht auch stimmte.
30
Mich wundert, dass er sein Aufladegerät gar nicht vermisst. Aber er interessiert sich sowieso nur für seine Scheißzeichnungen. Und Bekka. Wie er sie immer anschaut. Die alte Fotze. Von jedem Mann ein anderes Kind.
31
„Die Amelungs machen mir Probleme. Erst hat mir die Frau abends die Bude eingerannt. Jetzt möchten sie, dass wir den Fall nicht weiterverfolgen.“
„Und warum nicht?“, fragte Heyder seine Kollegin.
„Weil sie glauben, dass das Mädchen genug gelitten hat. Und wir die Geschichte nicht weiter aufwühlen sollen.“
„Die spinnen wohl.“
„Vielleicht, auf jeden Fall drohen sie mit gerichtlichen Schritten, falls wir den Fall weiter verfolgen.“
„Und soll der Täter in aller Ruhe weitere Mädchen vergewaltigen?“
„Sie haben versucht, die alte Hentschel zu überreden, dass ihr Hund nicht in die Ermittlungen einbezogen wird.“
„Das können sie gern versuchen. Den Hund hat Goslowski.“
„Was?“
„Wir haben den einzigen Tatzeugen eingezogen. Bei der Hentschel war er mir nicht sicher.“
„Falls der Täter noch mal vorbeischauen sollte? Aber wieso hat er ihn überhaupt am Leben gelassen?“
„In der Tat ein Rätsel. Aber wer versteht schon solche Männer. Typen, die junge Mädchen vergewaltigen.“
32
„Was bist du nur für ein Onkel!“ Lisa Amelung war auf ihren Bruder noch nie so wütend gewesen. Nicht einmal, als sie Kinder gewesen waren.
„Zum Glück können Mari und Anna das nicht hören."
„Beruhige dich“, sagte Eric Amelung. „Es ist nicht so, wie du denkst. Aber stell dir diese Chance vor. Das Haus. In zwei, drei Monaten schuldenfrei.“
„Du verschacherst deine eigene Nichte. Was bist du nur für ein Mensch!“
Eric versuchte Lisas Fäuste abzuwehren, die auf seine Brust einprasselten, zunehmend müder. Lisa weinte wieder.
„So ein Angebot hat man nur einmal. Ich konnte es nicht abschlagen.“
„Was seid ihr nur für Schweine. Wie kannst du nur mit einem solchen Schwein verhandeln? Einem Vater, der seinem missratenen Sprössling hilft, ein Mädchen zu entsorgen.“
„Du hast von Geschäften keine Ahnung.“
„Und was ist mit Mari?“
„Keine Angst. Sie wird gerächt“, sagte Eric leise. „Besser als durch die Polizei. Warte nur ein paar Wochen.“
"Wie meinst du das?", fragte Lisa besorgt. Sie fürchtete sich vor dem, was in Erics Kopf herumspukte. Ein Plan, der vielleicht schon feste Konturen angenommen hatte. "Das kannst du nicht machen. Es ist schon genug passiert."
"Ich werde vorsichtig sein", versuchte Eric sie zu beruhigen. "Mir wird schon etwas einfallen."
33
Jan hatte zu nichts mehr Lust. Seit fünf Tagen regnete es. Das Atelier war kalt, und dann die leeren Wände. Er konnte sowieso nichts machen. Aus Langeweile hatte er eine Serie über das Bootshaus begonnen. Skizzen von den Schlafräumen. Die geblümten, verschlissenen Matratzenschoner. Düstere, kleine Kohlezeichnungen, für die er vielleicht einen Schein bekommen könnte.
Die Mutter der Kinder hieß Rebekka. Sie hatten sich angewöhnt, morgens miteinander zu frühstücken. Nachdem die Großen in der Schule waren. Abends saß er mit ihr im Garten und einmal hockten sie in der Nacht auf dem Steg. Vor dem Bootshaus, wo die Boote im dunklen Wasser schaukelten.
Nachts, wenn die Kinder in ihren Betten lagen. Der Rottweiler in der Küche schlief. Und sich Sanne vielleicht mit Claas vergnügte. Sie war in Rotterdam. Sie hatte ihren AB-Text geändert.
34
Na endlich. In der Zeitung stand, die Amelungs wollten alles auf sich beruhen lassen. Die wissen schon warum. H-D meinte, ich hätte in meiner Dämlichkeit die Richtige erwischt.
35
Jan schnitt aus einem Stück Pappe Achtecke und Zehnecke aus. Hilfsmittel, um die Perspektive der Turmhauben zu erfassen. Seine Achillesferse. Vielleicht sollte er in der Bootshalle die Boote zeichnen. Die komplexen, perspektivischen Verzerrungen.
„Was macht du hier?“ Die beiden Jungen hatten noch nie mit ihm geredet. Der Ältere, im Stimmbruch, mit einem sommersprossigen Kindergesicht, bäumte sich vor Jan auf, die Fäuste aggressiv in die Taille gestemmt. „Das ist unser Bootshaus.“
Sie waren lautlos erschienen. Vor Schreck hatte Jan seinen Pinsel fallen lassen, einen teuren Rotmarder, er war über die Bohlen gerollt und in einer Ritze verschwunden.
„Martin hat Fremden den Zutritt verboten.“
„Aber ihr dürft hier spielen oder was?“
„Wir werden es Martin erzählen.“
„Nur zu, damit hab ich kein Problem.“
Die beiden verschwanden. Jan bückte sich, um nach seinem Pinsel zu suchen. Er fand ihn nicht.
Der Abstand zwischen den Bohlen war breit, manchmal einen Zentimeter weit. Schmutz lag darin, vertrocknete Gräser (wer weiss, wie die dort hingekommen waren), manchmal eine Schraube. Ab und zu konnte er durch die Ritzen das Wasser sehen, das um die Pfähle besonders veralgt war. Dunkle Wellen unter dunklem Holz.
Jan lag auf dem Boden und schaute hinunter. Ihm war egal, dass sein T-Shirt, wenn er gleich aufstand, schwarz war. Der Pinsel war teurer. Hier oben war er nicht. Er lag bestimmt unten im Wasser. Vielleicht sollte er seine Badehose anziehen und nach ihm tauchen. Lächerlich. Aber er war noch nicht im See gewesen. Jetzt hätte er wenigstens einen Grund.
36
Das Wasser war kalt. Aber er gewöhnte sich langsam daran. Die Sicht schlecht. Aber geheimnisvoll, als würde man in einem alten Schiffswrack tauchen. Nur, dass er hier bis zur Hüfte im Wasser stand. Und schon mit den Füßen nach einem Pinselstiel tasten konnte. Über ihm waren Schritte, sie klangen erbost, als wenn man das von Schritten sagen konnte. Die Kurzen hatten bestimmt diesen Martin geholt. Damit er ihn rausschmisse. Aber da hätten sie sich mehr beeilen müssen.
Er versuchte leiser zu sein. Kein verdächtiges Plätschern. Jetzt wurde das Tor zum Steg aufgerissen. Jemand mit schweren Schritten lief in den See hinaus. Und er würde ihn entdecken, wenn er sich umdrehte. Wenn er auf die Idee käme, unter das Haus zu schauen. Wenn. Jan konnte es zwei Minuten unter Wasser aushalten. Das war doch dieser Handwerker! Was wollte der schon wieder hier? Jan ging vorsichtig in die Hocke. Oder war das dieser dubiose Martin? Jetzt drehte er sich um. Mit seinen toten, braunen Augen schaute er in Jans Richtung. Obwohl Jan ihn auf die Entfernung nicht genau sehen konnte. Aber er konnte sich an seine Augen erinnern. Genauso hässlich und hervorquellend wie Konzes. Obwohl Konze aus München kam.
37
Seinen Pinsel hatte er natürlich nicht gefunden. Dafür eine Halskette. Keine Ahnung, warum sie dort lag. Im Sand. Wer weiss, seit wie vielen Sommern. Grüne, geschliffene Glassteine, er hatte erst die Algen abwaschen müssen. Echtes Glas, kein Kunststoff, er hatte mit dem Fingernagel über die Oberfläche gekratzt. Kriegsschmuck. Als er sie unter den Wasserhahn hielt, riss das Auffädelband. Purzelnde Steine in den Ausguss. Mit der rechten Hand hatte er versucht den Hahn zu zudrehen. Aus dem Rest könnte er noch ein Armband anfertigen.
38
Konze hatte sich über die neuen Zeichnungen beschwert. Kein Wort über die, die er damals eingesteckt hatte.
Was hätte ich denn machen sollen, hatte Jan versucht sich zu verteidigen, es hat die letzten Tage doch nur geregnet.
Konze hatte eine Studie vom See genommen. „Den Himmel können Sie blauer machen. Ihr depressives Wetter können Sie zu Hause lassen.“
Jan war sauer geworden. Was ging diesen Scheißkerl seine Zeichnung an? Die hatte er für sich gemacht. Privat. Nicht für ihn, Konze.
„Geben Sie mal Ihre Farben her. Das ist nur ne Kleinigkeit. Das erledige ich schnell selbst.“
Als Jan ihm die alte Zigarrendose mit den Farben verweigerte, hatte Konze einen Wutanfall bekommen: „Das geht so nicht weiter. Ich habe Sie bezahlt, damit sie Motive für meinen Kalender anfertigen. Ich kann Ihnen keinen Urlaub bezahlen.“
Jan ließ die Kette durch seine Finger rieseln, zumindest das, was von ihr übrig geblieben war. Die restlichen Steine hatte er in seine Bleistiftdose gelegt.
Hatte er es nur mit Bekloppten zu tun? Erst die kleinen Jungs, dann dieser Martin, dann Konze. Und Sanne. Sie hatte ihm einen Brief geschrieben. Ein Wunder, dass er angekommen war. Aber der Postbote hatte ihn im Nachbarhaus abgegeben. Sie hatte keine Lust mehr, mit so einem großen Kind zusammen zu sein. Seine Jobs, sein in-den-Tag-leben, wie sie es nannte. Jan verstand nicht, was daran kindlich war.
Das Schlimmste war Konzes Spruch, er könnte sich als Student etwas Besseres als eine Putzfrau leisten. Jan hatte lange darüber nachgegrübelt. Bis er verstand. Konze hatte mitbekommen, mit wem er abends im Garten saß. Rebekka war also Putzfrau. Deshalb stopfte sie den ganzen Putzkram in ihren Kombi.
39
„Was machst du mit den Perlen?“ Maike, die eine Zwillingsschwester, hatte die Kette entdeckt. Sie sprach von Perlen, nicht von Glassteinen.
„Die gehören Agneta.“
„Agneta?“
„Wir haben sie ihr zum Geburtstag geschenkt.“
Sie schaute Jan fordernd an. „Gib sie mir.“
„Ich kann sie dir nicht geben. Die Steine fallen gleich runter.“
„Dann machst du einen Knoten rein“, schlug sie pragmatisch vor.
„Dann zeig mal deinen Arm.“
Sie streckte ihm gehorsam ihren Arm entgegen, blass mit durchscheinenden blauen Adern, eine verschmutzte Hand, die trotzdem nach Seife roch.
Jan führte die Kette um ihr schmales Handgelenk. Vielleicht konnte er Steine einsparen. Obwohl er von Sanne enttäuscht war, würde er ihr gerne solch ein Armband schenken. Sanne mochte Kitsch.
Die Kleine beobachtete genau, was er tat.
„Solche Ketten müssen eng anliegen“, sagte Jan, aber er hatte nicht mit dem Protest der Kleinen gerechnet.
„Nein! Nein, ich will ein anderes, so eins wie Rebekka hat.“ Rebekka besaß tatsächlich ein ähnliches Armband, eins mit echten Steinen, Aquamarine, die, wenn sie ihre Arme hochnahm, bis zum Ellenbogen rutschten.
Jan wunderte sich, dass sie nicht wie Lucy Mama sagte.
„Aber verlier es nicht“, ermahnte er sie, als sie freudestrahlend davon rauschte. Jan sah das Band schon im hohen Gras liegen, wo die Kinder spielten und Blumen pflückten.
40
„Wie lange geht denn noch der Rummel?“
„Noch bis zum nächsten Sonntag“, sagte Rebekka und stöhnte wohlig an seiner Seite. Martin hatte die Kinder mitgenommen. Jan verstand immer noch nicht, wie es dazu gekommen war, dass er mit Rebekka in diesem herrlichen Korbbett lag. Es war sehr überraschend gewesen. Sie hatten sich plötzlich geküsst und sie hatte ihn nach oben gezogen, in ihr Schlafzimmer. Ihr Körper war so anders als der von Sanne, reifer, ihre Brüste schwerer, als er gedacht hatte. Sie hatte sich zunächst für ihren Bauch geniert, die breiten, verblassten Schwangerschaftsstreifen. Aber es war ihm egal, sie störten ihn nicht. Rebekka war so sanft, so phantasievoll. Sie hatten viel miteinander gelacht, sie war völlig ohne Scham, anders als Sanne, die sich die einzelnen Haare um ihre Brustwarzen mit einer Pinzette auszupfte und immer irgendwie eitel im Bett lag, so dass er erst ihre perfekten Formen bewundern musste, bevor sie mit ihm schlafen wollte.
Außer dem Rattanbett stand in dem Raum nur noch ein hässlicher Spiegelschrank mit ein paar aufgeklebten Kinder-Zeichnungen, aber es machte Spaß, jede Bewegung, jede Zärtlichkeit verdoppelt zu sehen.
„Ich hatte geglaubt, du hättest hier oben auch so viele Antiquitäten wie unten. So einen tollen alten Bauernschrank mit Malereien drauf“, sagte Jan.
„Mein Bruder hat sich nach dem Tod meiner Mutter alles unter den Nagel gerissen“, sagte Rebekka.
„Nur nicht die Kleinigkeiten, die Küchenmöbel, lauter wertloses Zeug. Jetzt gibt ihnen die Katze den Rest.“
Jan musste auf Toilette, Rebekka war eingeschlafen. Er ging auf den Flur. Das erste Zimmer musste Lucy gehören. Ein kleiner Hasenkäfig, wenn ihr Rhabarber draußen nicht nass werden sollte. Im nächsten Raum lagen noch mehr Spielzeuge auf dem Boden, Teddies, Autos, Jungenszeug, zwei Betten.
Aber da gab es noch ein Zimmer. Ein Computer, eine Landkarte über einem Schreibtisch, ein sehr erwachsen wirkendes Jugendzimmer. Allerdings voller Gestank, als wäre es wochenlang nicht gelüftet worden. Teller mit Essensresten, leere Pizzaschachteln (wo man die herbekam?), verschrumpelte Äpfel. So ein hässliches Klappbett hatte Jan mit dreizehn auch besessen. Aber nicht mit solch schmutzstarrenden Bettbezügen darauf. Jan war schlecht. Das hätte er von Rebekka nicht erwartet. Er hasste Mütter, die ihre Kinder vernachlässigten. Das Chaos in ihrer Küche war noch charmant, aber das hier war jenseits von Allem, was er zur Not noch akzeptieren konnte. Er bereute, überhaupt mit ihr geschlafen zu haben. Er war ganz grau im Kopf.
Als er zurückkam, machte Rebekka die Augen wieder auf und lächelte ihn an.
„Hast du keine Angst, dass du mal Ärger mit dem Jugendamt kriegen könntest?“, fragte Jan und konnte seinen Zorn kaum beherrschen. „Von wie vielen Männern sind die Kinder eigentlich?“ Das hatte er nicht fragen wollen, aber es rutschte ihm einfach heraus.
„Von fünf, wenn ich dich mit einrechne.“
„Was?“ Jan konnte es nicht fassen, aber eigentlich war es seine eigene Schuld. Er hätte sich selbst um die Verhütung kümmern sollen.
„Keine Sorge, ich bin sterilisiert“, sagte sie.
„Vier Kinder sollten genug sein.“
„Ich hab´ genug von dir. Wie konnte ich nur so blöd sein“, sagte Jan, sammelte seine Sachen zusammen und lief aus dem Zimmer.
„Warte, Jan, warte“, rief sie ihm hinterher, aber er wollte nur noch verschwinden. Am besten gleich richtig. Morgen mit dem Zug.
41
Wie hatte er sich nur so täuschen können? Er fand ihre Scherze gar nicht lustig. Wie konnte man auch nur ein Kind vergessen? Die Zwillinge, die Jungs, Lucy. Das waren immerhin fünf Kinder.
Aber bevor er morgen früh abreiste, würde er sich einmal richtig vollaufen lassen.
42
In der Pension, in der er mit Konze am ersten Tag vorbeigefahren war, lief die ganze Zeit der Fernseher, aber das war ihm egal. Irgendwelche Fußballübertragungen, als ob es hier Fußballfelder gäbe. Außer Wald und Seen. Aber er war ungerecht.
Was Sanne wohl sagte, wenn er wieder auftauchte? Und was war mit Claas? Ihn hatte sie in ihrem Brief nicht erwähnt. Er fragte sich, wie Konze reagierte, wenn er vorzeitig abreiste. Neben dem Tresen gab es ein Telefon. Er würde ihn gleich anrufen.
Alle gingen ihm auf den Geist. Selbst die kleine Maike. Sie hatte das Armband tatsächlich noch am gleichen Tag verloren. Zwei Stunden später. Sie behauptete, es auf die Waschmaschine gelegt zu haben, als sie Bekka beim Wäscheaufhängen geholfen hatte. Aber er hatte schon bessere Ausreden gehört. Wer sollte ausgerechnet ein Kinderarmband klauen? Es lag bestimmt irgendwo draußen auf der Wiese. Ein bisschen freute sich Jan darauf, Sanne von dieser komischen Familie zu erzählen. Fachlichen Rat sozusagen. Psychologiestudenten-Interpretation. Sonst nervte ihn das, aber hier war er wirklich gespannt.
Plötzlich wurde es still im Schankraum. Ein großes Foto von dem verschwundenen Mädchen. Von dieser Mari. Und ein Bild von einem weißen VW-Bulli.
Man hatte eine neue Spur. Ein ähnliches Auto war in der Nähe vom Fundort gesichtet worden, von diesem Wassergraben in Waldnähe. Und man hatte eine neue Theorie, was die Entführung anging. Die Polizei glaubte, dass Mari am Mültitzer See überfallen worden war. Jan sah Aufnahmen vom Aussichtsturm, selbst eine vom Bootshaus. Man hatte mit dem Dackel die Umgebung abgesucht. Jeden Tag ein paar Quadratkilometer. Und jetzt die erste heiße Spur. Wer kennt so einen VW-Bulli?
Jan lief es heiß den Rücken runter. Er musste sofort ins Bootshaus. Vielleicht hatte er die Entführung beobachtet. Unbewusst. Oben vom Aussichtsturm. Und hatte das Entführerauto gezeichnet. Er musste so schnell wie möglich an sein Skizzenbuch. Er dachte an den weißen VW-Bulli. Das Mädchen mit dem Piercing. Die jungen Männer, die etwas aus dem Wald geholt hatten.
43
Wo war nur sein Skizzenbuch? Verdammt. Er hatte es doch auf den Schreibtisch gelegt. Jemand war hier gewesen und hatte zwischen seinen Zeichnungen gewühlt. Aber so, als hätte diese Person eigentlich nach etwas anderem gesucht. Die Kette. Vielleicht hatte Maike sie gar nicht verloren. Vielleicht hatte jemand sie tatsächlich gestohlen. Und diese Person wollte das letzte Beweisstück zurückhaben. Agnetas Kette. Agneta hier im Bootshaus. Agneta nackt. Agneta vergewaltigt. Vielleicht war sie gar nicht verschwunden, keine Ausreißerin, wie alle hier glaubten. Sie war öfters von zu Hause weggelaufen, das hatte in der Zeitung gestanden. Aber vielleicht war es beim letzten Mal anders gewesen. Verdammt. Warum war er auf den Gedanken nicht früher gekommen. Erst nachdem er diese Mari vorhin im Fernsehen gesehen hatte. Er öffnete seine Bleistiftdose. Nein, die Glassteine waren noch drin.
Plötzlich waren Schritte hinter ihm. Jetzt kam der Täter. Er konnte sich nirgendwo verstecken. Was würde man mit ihm selbst machen? Ihn ebenfalls bewusstlos schlagen? Jan suchte nach einer Waffe, mit der er sich notfalls verteidigen könnte. Da, das Grafiker-Skalpell, mit dem er die Schablonen ausgeschnitten hatte. Die Person kam näher. Er drehte sich um. Konze. Konze sah mindestens genauso erschrocken aus, wie er selbst.
„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte er.
„Was haben Sie mich erschreckt!“
„Das tut mir leid“, sagte er und es klang aufrichtig. „Ich habe gehört, Sie wollen morgen abreisen.“
„Ja“, sagte Jan.
„Hier ist Ihr Geld.“ Konze reichte ihm einen Briefumschlag. „ Ihr Skizzenbuch und Ihre Zeichnungen habe ich eingesteckt. Sie werden morgen eingescannt. Ich schick Sie Ihnen mit der Post zu, wenn es Ihnen recht ist.“
Jan fiel darauf nichts ein.
„Ich kann Sie morgen zum Bahnhof bringen, wenn Sie möchten.“ Konze war wie ausgewechselt. So freundlich hatte Jan ihn noch nie erlebt. „Ich zahle Ihnen die Fahrkarte.“
Konze lächelte. „Ich weiß, Sie hatten es hier nicht einfach. Aber ich weiß Ihre Mühen wirklich zu schätzen.“
44
In dem Umschlag steckte die doppelte Summe, als die, die sie vereinbart hatten. Davon könnte Jan mindestens ein halbes Jahr leben. Warum war Konze auf einmal so großzügig? Als ob er ihn loswerden wollte.
Konze hatte ihm zum Abschied sogar noch schöne Grüße an Sanne ausgerichtet, obwohl er sie gar nicht kannte. Als ob er froh war, dass auf Jan eine nette Freundin zu Hause wartete und nicht so eine Schlampe. Etwas hatte Jan irritiert. Er hatte es sich nicht verkneifen können, nach dem fünften Kind zu fragen.
Es gibt kein fünftes Kind, hatte Konze geantwortet. Und was er danach sagte, hatte noch merkwürdiger geklungen: Die Zwillinge waren gar nicht von Rebekka.
„Diese Alleinerziehenden. Solch ein Chaos“, hatte Konze gelästert. „Und als ob sie damit nicht schon genug hätten, nehmen sie noch die Kinder von Freundinnen auf.“
Rebekkas Freundin, die für ein viertel Jahr nicht da war. Wo, konnte Konze nicht sagen. Ob im Urlaub oder im Krankenhaus.
45
Er hatte Rebekka ganz umsonst beschimpft. Es tat ihm leid. Aber das versiffte, letzte Kinderzimmer gab es trotzdem. Er würde sich gleich entschuldigen. Sie von der Pension aus anrufen. Aber vorher noch die Polizei.
46
Auf dem Weg zur Pension traf er die Kinder. Die Zwillinge, die Jungs und Lucy. Lucy, in ihrem Kinderwagen, den der sommersprossige Junge schob, der ihn im Bootshaus so angeblafft hatte. Von ihrem Aufpasser, diesem Martin keine Spur. Sie waren scheinbar das ganze Stück allein zurückgelaufen. Die Hauptstraße hinunter. Schweißperlen auf ihren Stirnen. Die Mädchen hatten sogar einen heftigen Sonnenbrand. So etwas Verantwortungsloses, so eine Unverschämtheit. Wer war dieser Martin eigentlich? Rebekka sollte ihre Bekannten besser auswählen. Dieser gehörte aussortiert. Das würde er ihr noch verklickern, auch in ihrem letzten Telefongespräch.
„Da war ein Mädchen heute Nachmittag am Bootshaus“, sagte Maike. „Aber du warst nicht da.“
„Ich dachte, ihr wart auf dem Rummel.“
„Waren wir auch, aber ich und Maike sind zwischendurch nach Hause gegangen", antwortete ihre Schwester für sie. „Maike kann auf fremden Klos nicht kacken.“
Maike wurde rot.
„Und bei Bekka hat niemand aufgemacht.“
Das stimmte, es hatte einmal geklingelt, als er mit Rebekka oben im Bett gelegen hatte. Aber sie hatten keine Lust gehabt, aufzustehen.
„Wir hatten geglaubt, das Bootshaus wäre offen.“
„Was war mit diesem Mädchen. Wie sah sie aus?“ Jan war neugierig. Vielleicht war es die mit dem Bauchnabelpiercing und es hatte sich herumgesprochen, dass er zeichnete.
„Sie hatte einen Rucksack dabei.“
„So einen großen mit Gestell“, ergänzte ihre Schwester.
Sanne. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
„Und sie hatte sicherlich lange, schwarze Haare.“
„Woher weißt du das?“
„Wo ist sie? Verdammt. Wo ist sie?“
„Vielleicht immer noch am Bootshaus“, mutmaßte Maike.
Aber da war niemand gewesen, erinnerte sich Jan. Vorhin, als er mit Konze dort war.
„Ihr“, sagte er zu den Jungs. „Ihr bringt Lucy nach Hause. Sagt Bekka, sie soll die Polizei rufen.“
„Warum?“
„Tut es, verdammt. Macht es einfach“, rief Jan und zu den Mädchen gewandt: „Und ihr beiden. Ihr geht auch nach Hause.“
„Können wir nicht mitkommen?“
„Nein!“
„Aber warum denn nicht? Immer wollt ihr alles alleine machen. Martin heute auch schon.“
Martin. Martin. Jan konnte den Namen nicht hören.
„Was ist denn das für ein Schwein, dieser Martin. Kleine Kinder einfach allein lassen.“
„Martin wohnt bei uns.“
„Was?“
„Er wohnt bei uns. Genauso wie wir. Sein Papa wohnt in München.“
Martin. Konzes Sohn. Dass ihm die Ähnlichkeit nicht vorher aufgefallen war. Martin Konze. Dieselben braunen, hervorquellenden Augen. Wahrscheinlich hatte er seine eigene Cousine vergewaltigt. Und jetzt Sanne.
Jan rannte los. Vielleicht waren sie doch im Bootshaus gewesen. Und er hatte sie übersehen. Vielleicht hatte Martin seinen Schreibtisch durchwühlt, während Sanne aufgetaucht war. Aber was war mit den Zwillingen gewesen? Sie hatten doch gesagt, dass niemand zu Hause gewesen war. Vielleicht hatte Sanne vor dem Haus gewartet. Anzunehmen, nach so einer langen Reise. Vielleicht hatte sie irgendwann gemerkt, dass die Tür offen war. Vielleicht war sie ins Haus gegangen. Und hatte dabei diesen Martin überrascht.
Schneller, er musste schneller sein. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Alles wurde klar. Konzes überraschende Freundlichkeit, alles. All die Kleinigkeiten. Das verschwundene Aufladegerät, die plötzlichen Geräusche, das nächtliche Plätschern im See. Die Glassteine. Das schmutzige Zimmer. Arme Bekka, was hatte sie für ein Kuckucksei beherbergt.
Er würde das Schwein erwischen. Er würde ihn niederschlagen, wenn er Sanne etwas täte. Er könnte ihn umbringen.
47
Als Jan zum Bootshaus kam, standen alle Türen offen. Zeichnungen wirbelten in der Luft.
Die Schlafzimmer waren leer, das Küchenatelier, die Umkleiden. Es war niemand da. Die Duschen, die Klos. Leer.
Die Bootshalle – offen. Das halbgestrichene Boot. Und Jan ahnte, was an seinem ersten Tag darunter gelegen hatte. Deshalb war Konze so blass gewesen. Konze hatte es gewusst. Die ganze Zeit.
Plötzlich Geräusche. Etwas, das sich wie das Zuklappen eines Kofferraums anhörte. Eine Tür stand auf. Jan hatte sie nie vorher bemerkt. Aber er war auch nicht oft hier gewesen. Eine Garage. Darin ein kleiner LKW. Nordfrost. Ein ausrangierter Transporter. Es waren keine Lebensmittel drin gewesen. Sondern etwas anderes. Ein gefesseltes Mädchen. Vor aller Augen.
Der LKW hatte die ganze Zeit hier gestanden. Danach. Unbemerkt. Tage lang. Nur wenige Meter von ihm entfernt, von seinem Atelier, von den Duschen. Mit einer grauen Plane, auf der vorher das Boot gestanden hatte. Und in die man Stunden später das Mädchen eingewickelt hatte. Diese Mari.
Und jetzt lag auf der Plane ein Rucksack. Ein Ding mit Tragegestell. Sannes Rucksack. Aber keine Sanne. Es gab sonst nur alte Möbel, antike Teile, die Konze wohl verkaufte und mit dem LKW transportierte.
Jan ging um den Laster herum. Da gab es noch eine Tür. Sie führte nach draußen. Zum Steg.
Und da waren sie. Dieser Martin half Sanne in ein Boot. Sanne lachte. Dachte, sie würde zu einer Bootsfahrt aufbrechen. Es sah idyllisch aus. Fast friedlich. Wie ein Mann, der eine Städterin mit eleganten Ruderschlägen zu einer Liebesinsel bringen würde. Nur gab es hier keine Insel. Und dieser Martin schaute alles andere als galant, als er Jan bemerkte. Er gab Sanne einen heftigen Stoß, so dass sie ins Boot fiel. Jan rief zum Wasser, aber Sanne konnte ihn nicht hören. Er lief den Steg hinunter.
Er war nicht schnell genug. Das Boot löste sich von der Anlegestelle. Dieser Martin hatte das Seil nicht gelöst. Sondern durchschnitten. Wohl mit einem von Jans Cuttern. Und wer weiss, was er als nächstes damit machen würde.
Der Steg fing an zu vibrieren. Ein dumpfes, schneller werdendes Geräusch. Schritte wie von einem Tier. Einem großen, wütenden Tier. Der Rottweiler. Lautlos rannte er an Jan vorbei, die Pfoten flogen in der Luft. Als wüsste er, dass zum Kläffen keine Zeit war. Er fiel ins Wasser, erwischte das Boot. Mit einem geschmeidigen Sprung stürzte er sich auf Martin. Sanne sprang zur Seite, in den See. Jan hatte noch nie einen Hundeangriff gesehen. Aber der Rottweiler biss nicht zu. Sondern begrub unter seinem schweren Körper Konzes Sohn, der sich nicht regen konnte.
48
„Das ist also Sanne“, stellte Rebekka fest, ohne einen Anflug von Eifersucht. Oder sie konnte ihre Gefühle sehr gut verstecken. Sie hatte Sannes nasse Kleider im Garten aufgehängt. Es war für Jan merkwürdig, Sanne in Rebekkas Hose zu sehen, die an Sannes sportlichen, langen Beinen viel zu kurz war.
Sie tranken Tee. Konze kümmerte sich um seinen Sohn, der gerade im Polizeipräsidium verhört wurde. Jan und Sanne würden bald nach Hause fahren. In Sannes Auto. Bekka bat Jan, sich auf einen Stuhl zu stellen und die Bowle-Schüssel vom Regal zu holen. Sie war schwerer, als er geglaubt hatte.
Sie war voller Knöpfe. Und inmitten der unterschiedlich schimmernden Knöpfe das glitzernde Grün von Glassteinen.
„Die gehörte meiner Mutter“, erklärte Rebekka und drückte sie Sanne in die Hand. „Später habe ich sie den Zwillingen gegeben. Als Geburtstagsgeschenk für Agneta.“
Sie lächelte Jan an.
„Ja, Agneta ist mein viertes Kind. Ich habe schon eine sechzehn Jahre alte Tochter.“
Das hatte Jan nicht gedacht. Dann war Rebekka noch viel älter, als er geglaubt hatte.
„Als Maike vor ein paar Tagen die Kette gefunden hatte, wollte ich meinen Augen nicht trauen.“
„Ich habe sie im Wasser gefunden, unter dem Bootshaus.“
„Jedenfalls hat Maike die Kette im Waschraum verloren.“
„Sie hat sie nicht verloren“, sagte Jan.
„Ich weiss, ich habe sie in Martins Zimmer gefunden.“
Was an ein Wunder grenzte, dachte Jan, ein Wunder, in dem Saustall etwas zu finden.
„Dann hast du die ganze Zeit gewusst –.“
„Nein, ich habe nichts gewusst.“
Rebekka bat Jan ein weiteres Mal auf den Stuhl zu steigen. Die Blechdose mit den Zoomotiven. Innen war sie voller Briefe.
„Ich habe immer gewusst, wo Agneta ist.“
Deshalb war Rebekka so oft zur Post gefahren. Briefe ihrer Tochter in einem Schließfach. Zu Hause hätten die Kinder die Post aus dem Briefkasten ziehen können. Oder Martin. Das Kuckucksei. Vergewaltiger seiner eigenen Cousine. Jetzt war Jan auch klar, warum Rebekka die Briefe in der Küche aufbewahrte. Als ob sie unbewusst geahnt hatte, dass man Martin nicht trauen konnte. Die Küche - das war der einzige Raum im Haus, wo sich Martin nicht hintraute. Der Schlafplatz vom Rottweiler.
„Dann war sie also gar nicht verschwunden?“
„Sie wollte nicht, dass jemand weiss, was mit ihr passiert ist. Sie wollte nicht mehr nach Hause.“
Die Täuschung war perfekt, niemand im Dorf wusste, dass Agneta noch lebte. An einem anderen Ort. Weit weg. Briefe aus Amsterdam.
Nicht einmal die Polizei wusste Bescheid und Agnetas Foto hing immer noch auf dem Suchplakat in der Dienststelle und an manchen Bäumen.
Gut fand Jan das nicht.
„Und warum hat sie nichts gesagt?“
„Sie hatte wohl Angst, dass wir das Haus verlieren könnten. Sie wollte nicht, dass die Kleinen ihr Zuhause verlieren“, sagte Rebekka seufzend. „Sie hat auch mir nie gesagt, was wirklich passiert ist.“
„Sie hat es die ganze Zeit für sich behalten“, stellte Sanne mitleidsvoll fest.
„Ja, die ganze Zeit.“
Eine Tochter, die wegen ihrer kleinen Geschwister auf eine Anzeige verzichtete. Eine Mutter, die in den Immobilien ihres eigenen Bruders Putzfrau spielte. Um weiterhin kostengünstig wohnen zu dürfen.
Jan verstand es, aber er konnte es nicht akzeptieren. Immerhin war es Agnetas Schuld, dass Mari das Gleiche widerfahren war. Aber soweit hatte sie vermutlich gar nicht gedacht.
"Hat Agneta nie an die Zwillinge gedacht?"
"Wie meinst du das?" Rebekka wurde blass.
Jan beschloss nicht weiterzubohren. Sie war schon genug bestraft.
"Sie hat mich immer überredet, einen Hund zu kaufen", sagte Rebekka. "Es sei zu gefährlich. Eine Frau, allein mit fünf Kindern."
Der Hund war schlauer gewesen.
„Was wird mit Martin passieren?“
„Die Polizei verhört ihn gerade. Ihn und meinen Bruder“, Rebekka stöhnte. Das Ganze war einfach zu viel für sie. Konze hatte seinem eigenen Sohn sogar geholfen, Mari zu entsorgen.
„Warum hat Martin hier eigentlich gewohnt?“
„Er war in München mit einer ähnlichen Sache aufgefallen. Konze hat geglaubt, wir hätten ihn hier besser unter Kontrolle.“
Unter Kontrolle. Was waren die beiden naiv. Jan konnte es nicht fassen. Aber für einen Außenstehenden war vieles leichter. Martin war jünger als er aussah, viel jünger. Erst siebzehn, ein Jahr älter als Mari und Agneta. In München hatte er eine Mitschülerin auf der Toilette überfallen.
Bekka sagte tatsächlich Konze. Und ein bisschen klang es wie Kotze.