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Versteckspiel

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19.03.2003
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Versteckspiel

Wir hatten Verstecken gespielt. Ich war dran mit suchen. Ich lief durch unser Haus. Es war ein Haus, in dem mehrere Wohnungen waren. Wir wohnten Erdgeschoss. Vor dem Haus war ein Garten und der gehörte zu den Wohnungen unten. Ich liebte diesen Garten. Stundenlang konnte ich darin sitzen und mit meinen Puppen spielen. Ich war oft alleine im Garten, einmal habe ich alle Blumenköpfe abgeschnitten und meinen Puppen daraus eine Suppe gekocht. Sie schmeckte ihnen, doch dann ...,mit Tränen in den Augen, versuchte ich den Tulpen die Köpfe wieder aufzustecken. Meine Mutter war da sehr, sehr böse auf mich.
Im Garten war auch ein Sandkasten. Ich buk viele kleine Küchlein und dann kam Carsten und haute sie alle entzwei. Carsten wohnte über uns. Aber ich habe ihn nie besucht. Meine Mutter hatte gesagt, ich sollte nicht mit ihm spielen. Er wäre komisch und seine Zähne wären faulig. Seine Mutter passte nicht auf, dass er sie gut putzte. Und weil er vorne an der Haustür pinkelte, als meine Schwester rausging. Ich hätte es auch gerne gesehen, nachdem sie es erzählt hatte. War doch witzig. Meine Mutter schimpfte über ihn, weil sie musste das danach wegputzen. Wir im Erdgeschoss mussten auch das Podest putzen. Irgendwann fing es an, wenn wir Kinder aus unserer Straße Carsten sahen, riefen wir, "iii", ob er nun unten nackig war, oder auch nicht. Nackig waren in jenem Sommer nur unsere Füße, der Rest von uns nicht, aber Carsten zeigte uns dann seinen Pillermann und pinkelte. Wir lachten und liefen vor ihm weg. Beim Räuber und Gendarm musste er immer den Gendarm spielen. Wir anderen waren die Räuber. Carsten lief uns immer hinterher und wir riefen "iii" dabei.
Ganz oben wohnte Onkel Wolf. Er war Finanzbeamter. Er soll meinem Bruder geholfen haben, beim Finanzamt zu lernen. Jetzt war Onkel Wolf aD. Ich wusste nicht, was "Adeee" und ein Finanzamt ist, aber ich glaubte, es war etwas Besonderes. Die Stimme meiner Mutter wurde immer anders, eine Tonlage höher, wenn sie es beim Kaufmann an der Ecke erzählte. Da stand sie oft, sehr zu meinem Leid, weil ich Hummeln im Hintern hatte. Ich sah zwar nie eine, wenn ich mich durch meine Beine nach hinten durch bückte und mir unter den Rock guckte. Da war nur der Schlüpfer. Mehr nicht. Also hörte ich nicht auf Mutter und manchmal flog dann eine Ohrfeige, dass es nur so klatschte. Mein Vater war Dachdecker. Ich war einmal bei ihm mit zur Arbeit. Er hatte mit ganz heißem Teer ein Dach auf eine Garage geklebt. Das stank vielleicht. Ich war sehr stolz, was mein Vater so konnte. Mit der Stimme meiner Mutter und ein bisschen durch die Nase, wie der olle Wolf, erzählte ich es den anderen Kindern. Mein Vater trug mich auf Händen, so stark war er. Ich liebte es, wenn er mich huckepack nahm und wieherte.
Meine Mutter war immer zu Hause. Aber sie war immer beschäftigt. Meist mit meiner kranken Schwester. Sie hustete immer so komisch, ihre Augen quollen ihr aus dem Gesicht, aber nicht so wie mein Vater, der spuckte immer braunen Schleim vom Tabak. Mein Bruder wohnte nicht mehr bei uns. Er musste ausziehen, weil es zu eng bei uns war. Er wohnte bei Oma und war Onkel Wolf sehr dankbar für die Stelle im Finanzamt. Manchmal kam er uns besuchen. Er hatte schon eine Freundin und er fuhr ein weißes Käfer Cabriolet. Das war Klasse. Alles von seinem Lehrgeld bezahlt. Daher war der olle Wolf von oben auch ein besonders netter Onkel. Ich mochte Onkel Wolf aber nicht. Er hatte mich ganz genau gesehen, als ich nach dem Klingelstreich zu langsam war, um abzuhauen. Er sprach so komisch durch die Nase und er hatte einen Eierkopf. Seine Frau war irgendwie unsichtbar. Aber sie war in der Wohnung, als ich einmal da war. Er hatte mich gefragt, ob ich etwas Süßes möchte. Und dann war ich mit rauf gegangen. Die Wohnung sah ganz anders aus, als unsere. Dunkle polierte Möbel standen vor schrägen Wänden, an denen man sich den Kopf stieß. Vielleicht hatte Onkel Wolf deswegen keine Haare auf dem Kopf. Ein weiteres Mal war ich in der Wohnung, da war meine Mutter mit. Sie war ganz rot im Gesicht und ihr flog ein bisschen Spucke beim Reden aus dem Mund und auf den polierten Tisch. Dabei durften wir Kinder nicht spucken. Sie hatte zu ihm gesagt, ich wäre mit ihr mitgekommen, um mich zu entschuldigen. Ich wusste nicht, warum ich mich entschuldigen sollte. Meine Mutter hatte gesagt, ich hätte etwas gesagt, das man nicht sagen darf. Ich weinte, weil ich es tun musste und ich weinte, weil ich nicht verstand, was ich so Verbotenes gesagt hatte. Ich dachte nur an den Ausklopfer, und mein Geheimnis war verraten und da waren sie sehr, sehr böse auf mich. Dabei hatte ich nicht geklingelt, das war Carsten und das Versteck im Keller hatte er sich gesucht. Mir war unheimlich, woher Mutter mein Geheimnis sonst wissen konnte. Ich glaube, sie hatte mich vom Spielen reingerufen. Sie rief mich aus dem Fenster mit Vor- und Nachnamen. Das machte sie nur, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Sonst nannte sie mich Püppchen oder Sternchen. An ihrer Stimme hörte ich, dass sie von meinem Geheimnis wusste. Konnte sie etwa zaubern? Oder doch nicht? Immer wieder fragte sie mich, was ich gesagt hatte. Weil sie so wütend war, habe ich mein Geheimnis vergessen. Ich konnte es nicht sagen, da wurde sie noch wütender. Ich wollte nicht mitgehen. Meine Beine waren Gummi. Sie zerrte mich nach oben.

Ich will nicht Entschuldigung sagen, aber ich muss. Ich habe Angst. Die Frau von Onkel Wolf ist wieder da. Sie ist die Einzige, die nicht wütend ist. Ich glaube, sie ist traurig. Sie soll traurig gewesen sein, weil sie keine Kinder hat, hat mir meine Mutter mal erklärt. Deswegen freut sie sich sich, wenn wir zu Besuch kommen. Als ich es endlich gesagt habe, ist Onkel Wolf friedlicher. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Es hört sich falsch an, was er spricht. Alles ist falsch. Das fühle ich. Ganz tief innen. Ich höre aber nur: Ich habe was falsch gemacht, aber er verzeiht mir. Ich fühle, dass es nicht wahr ist. Aber ich will, dass es vorbei ist. Ich sage, was beide hören wollen. Ich will ihn nie wieder sehen, ich mag ihn nicht. Schnell weg. Meine Mutter bedankt sich für sein Verständnis. Ich bin am Ausklopfer vorbeigekommen. Die unsichtbaren Hummeln im Hintern waren wieder da.

Wir hatten doch nur gespielt. Ich war dran. Ich suchte im Keller nach Carsten. Ich wollte da nicht rein gehen, das war mir verboten, aber ich fand den doofen Carsten einfach nicht. Der Keller hatte mehrere Gänge. Ich durchsuchte sie. Das Licht war ausgegangen. Ich hörte etwas, da war was oder wer. Ich tastete nach dem Lichtschalter und als das Licht wieder anging, war als ob mir etwas in die Hose rutschte. Ich erinnere mich an den großen Eierkopf, der geleuchtet hat. Er glänzte. Er tauchte aus dem Dunklen auf. Ich erkannte Onkel Wolf und war erleichtert. In meiner Erleichterung hatte ich ihm wohl etwas gesagt. Er hob die Hand zur Faust. Sie schwebte über mir, du darfst nicht im Keller spielen, hatte er immer wieder und wieder gesagt, aber es bleibt geheim, wenn ich nie wieder im Keller spiele. Ich wollte nur noch weg, meine Hummeln stachen mich, Mutter hatte wohl doch Recht, ich war froh, er würde nichts sagen, meine Mutter benutzte sonst den Teppichklopfer auf den nackten Po, um nach den Hummeln zu schlagen. Ich war ihr zu rebellisch, sagte sie. Die Hände dazwischen zu halten, half mir und den Hummeln auch nicht. Und wenn es nicht genug war, erzählte sie es meinem starken Vater. Er nahm seinen Puschen, der machte weniger Striemen. Ich weinte immer laut, damit sie endlich aufhörten. Rebell hörte sich gut an. So wie Räuber.

Ich habe Verstecken gespielt und die anderen gesucht. Ich glaube, Carsten hatte sich im Keller versteckt. Ich habe ihn gefunden. Ich glaube, ich habe gelacht, als ich Onkel Wolf erkannt habe.

Ich war ja mal in seiner Wohnung, oben im Dach. Ich glaube, ich habe etwas zu ihm gesagt und dabei gelacht, aber eigentlich war mir nicht nach Lachen, auch nicht nach "iii". Es war doch dunkel im Keller und ich hatte Carsten gesucht. Er war der letzte. Ich wollte schon umdrehen und als das Licht anging, entdeckte ich zuerst Onkel Wolf, dahinter Carsten und ich fragte, was er in seinen Po gesteckt hat. Und dann lief ich weg. Ich glaube Carsten war hinter mir. Er weinte und war langsam, seine Hose bummelte ja um seine dünnen Beinchen. Ich weiß nicht, ob ich da noch gelacht habe. Ich rannte, rannte zu den Anderen und an den Pfahl. Hab Dich! Du bist! Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein, alles muss versteckt sein.

 

Liebe Goldene Dame,

erst einmal: Dein Text gefällt mir inhaltlich sehr! Die Figuren (nicht zuletzt die Protagonistin) sind lebendig und authentisch dargestellt. Der Leser kann sich ohne Weiteres in Ort und Zeit hineinversetzen - auch, wenn solch traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder körperliche Gewalt nicht oder nur teilweise gemacht wurden. Kurz gesagt: Deine Geschichte ist authentisch, das Thema zeitlos. :)

Dein Schreibstil - der kindliche Wortschatz und Satzbau - haben mich zu anfangs gestört. Ich brauchte mindestens einen Absatz, um mich daran zu gewöhnen. Dies ist mir, angesichts der packenden Geschichte, dann aber gelungen, sodass ich mir nicht mehr sicher bin, ob Du die Sprache wirklich verändern solltest. Sie trägt nämlich zur authentischen Wahrnehmung bei (und war sicher auch dementsprechend bewusst verwendet, nicht wahr?).
Jeglichen Verbesserungen zu Rechtschreibung etc. werde ich mich an dieser Stelle enthalten, da sie in den übrigen Kommentaren schon vorgenommen wurden.

Mein Resümee: Ich würde wohl gerne mehr Stücke solcher Art von Dir lesen!

paz e amor,
Caterina

 

Friedrichhard,
Mein lieber Friedel, drei Jahre sind vergangen, ungeheuerlich. Klar ist das Wort stecken hier mit Bedacht gewählt und ja, auch der Wolf hat seine Bedeutung, genauso wie die Hummel, die fliegen kann und stechen, wenn sie bedroht werden. Die Spuren habe ich extra für dich gelegt:Pfeif:, da du ja meinst, ein Kühlschrank zu sein.
Hallo CatErina,
Ich freue mich, dass dir mein Text gefallen hat, umsomehr, als du mehrere meiner Texte lesen möchtest. Danke!

 

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