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Verwirrungen

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19.05.2008
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Verwirrungen

Von einem gewissen Punkt an
gibt es keine Rückkehr mehr.
Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka, Er​

Theos Liebe zu Leonie war das einzig Unlogische in seinem Leben. Er studierte im letzten Semester Mathematik. Morgens brauchte er exakt zweiundzwanzig Minuten im Bad. Für die sorgfältige Reinigung der Zahnzwischenräume und die Nassrasur, bei der er unter der Nase eine kleine Ausnahme machte. Wenn er früher fertig war, starrte er in den Spiegel. Manchmal linste dann Leonie ins Bad und sagte: „Wenn ich dein Spiegelbild schlucke, bist du nur noch ein Geist, Theo.“ Das machte ihm Angst. Alles, was er nicht verstand, machte ihm Angst. Auch Leonie. Sie konnte seine Gedanken nicht lesen, aber sie wusste, dass er beim Küssen darüber nachdachte, wie viel Prozent seiner Lippen Kontakt mit ihrer Zunge hatten, und sie mochte nicht, dass er solche Gedanken dachte, sie mochte den Schnurrbart nicht, der ihm ins Hirn zu wachsen schien, vor allem nicht, wenn es juckte oder kratzte oder er zu lange zwischen ihren Schenkeln blieb, sie mochte nicht, wenn er im Restaurant „Variabilitäten“ bestellte, sie mochte so vieles nicht an ihm, einiges hasste sie, abgründig sogar. Aber es war nicht die Summe von Eigenschaften, die sie liebte, sondern das, was Theo war.

Leonie war Aushilfe bei einer Prüfungsaufsicht, so wie sie Aushilfe in einer kuschligen Altstadtbar und einer Touristeninformation war. Sie wusste nicht, was geprüft wurde. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, präsent zu sein, so dass möglichst wenige auf die Idee kamen, von ihrem Nachbarn zu kopieren. Theo war ihr sofort aufgefallen. Nicht etwa, weil er versucht hätte, abzuschreiben, sondern weil er den anderen jegliche Möglichkeit nahm, seine Lösungen einzusehen. Wie ein Sichtschutz aus Fleisch hockte er eingekeilt zwischen den Sitzreihen. Erahnte er einen Blick von der Seite, schaute er böse um sich. Dabei durfte er keine Zeit verlieren. Er schrieb immerfort, auch ohne hinzusehen. Die Tinte fraß sich in den Zellstoff, der auf dem viel zu kleinen Pult vor ihm lag.
Leonie konnte ihren Blick nicht von diesem (für sie) Irren abwenden. Sie versagte in ihrer einzigen Aufgabe. Leonie hörte auf, präsent zu sein, und weil der Professor sich hinter einer Zeitung vergraben hatte, begannen sich die Prüflinge erst leise, dann immer unverschämter auszutauschen, bis am Ende jeder seine Lösungen mit den anderen verglichen hatte, und sich die meisten bereits beim Hinausgehen, als sie ihre Arbeit neben die Zeitung des Professors legten, eines sehr guten Ergebnisses sicher waren. Bloß einer scheiterte an der Prüfung: Theo. Es mangelte ihm nicht an Wissen. Er war bestens vorbereitet gewesen, vermutlich hätte er die Arbeit eine Viertelstunde vor Prüfungsschluss fast fehlerfrei abgeben können. Aber er hatte sich die ganze Prüfung über wahnsinnig beobachtet gefühlt. Theo konnte sich nicht konzentrieren. Leonies Blicke zogen ihn aus dem Moment, und auch er hörte auf, präsent zu sein. Sie waren beide irgendwo anders, und so sehr er sich auch anstrengte, die Formeln langsam anzudenken, zerbrachen sie beim Rechnen und schlussendlich lagen sie falsch herum auf dem Papier. Zur Wiederholung hatte er sich abgemeldet und auf das Unverständnis des Professors hin erwiderte er nur:
„Ich bin beschäftigt.“
„Mit was denn?“
„Es hat, glaube ich, mit Gefühlen zu tun.“
„Gefühle? Ich erkenne Sie gar nicht wieder, Herr Liebknecht! Gefühle sind unberechenbar.“

Er strich das Wort „Regelstudienzeit“, riss ein paar Blätter aus einem Notizheft, kugelte sie zusammen und warf sie in dem Zimmer umher. Es war klein genug, um jedes Ziel sicher treffen zu können. Ein Papierkügelchen schmiss er in den Pokal, den er damals bei den Mathematiklandesmeisterschaften gewonnen hatte. Er fischte das Papier wieder heraus und fragte sich, warum er niemals aus dem Pokal getrunken hatte. Rotwein oder Bier. Das Bett betrachtete er mit einem verwandten Gedanken. Hatte er es nie vermisst, dass jemand bei ihm schlief, weil es gar nicht für zwei gemacht war, weil dieses Bett das Bett eines Einsamen war? Theo schaute aus dem Fenster und sah, wie sich zwei Vögel in die Tiefe stürzten. Er wollte das gar nicht sehen und er wollte auch nichts in Frage stellen, er wollte einfach dasitzen, mit einer leisen Konzentration in einem Buch lesen, sich später schlafen legen, um am nächsten Tag einen ähnlichen Tag zu leben. Ihm war, als hätte jemand einen Fremdkörper in das Zahnrädchenwerk seiner Gedanken geschoben.

Einige Tage später begegneten sich Leonie und Theo in einer Einkaufsstraße. Sie brauchte mehr von der grünen Ölfarbe, die sie so verschwenderisch in ihre Bilder kleckerte; er wollte die Solarfunktion seines Taschenrechners reparieren lassen. Es war kein allzu großer Zufall, denn die beiden waren schon dutzende Male aneinander vorbeigelaufen, doch war Leonies Gesicht für Theo nur irgendein Gesicht gewesen, und umgekehrt. Aber jetzt war Leonies Gesicht das Gesicht des Bösen, des Untergangs, des unabwendbaren Chaos in seinem geordneten Leben. Er packte sie am Arm, etwas zu grob vielleicht, denn er spürte, wie der Muskel seinen Fingern wich. „Du bist schuld an allem“, sagte Theo. Er lockerte seinen Griff, ließ ganz von ihr ab und wäre am liebsten in die vorbeifahrende Bahn gesprungen, weg von ihr. „Du auch“, sagte Leonie und pflückte die Faltennarbe, die sein unfeiner Griff auf dem Stoff hinterlassen hatte, aus dem Trenchcoat.

Stille.

Unzählige Menschen drängten an dem Gegenüber, dem Gegeneinander oder Aneinander der beiden vorbei. Ein kleiner Junge schrie mit einer Mädchenstimme nach seiner Mutter, die mit zwei Bauarbeitern sprach, die nicht arbeiteten, sondern etwas tranken, lachten und Radiomusik hörten, nicht laut, aber doch deutlich hörbar, wie das Quietschen von Fahrradreifen auf dem Fußgängerweg, oder die hallenden Geräusche der Bahn in der Ferne. Feinstaub hing in der Luft und jedes Körnchen schien seinen eignen, winzigen Lärm zu machen, aber Theo und Leonie standen nicht in diesem Lärm, sie standen daneben. Sie standen in der Stille und schauten sich an. Wie zwei Fragezeichen, denen man den Punkt weggezogen hatte.

Dann hatte er Leonie nach ihrem Namen gefragt, um dieses Phänomen zu benennen, dieses grauenhafte An-nichts-anderes-denken-können. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, sondern eine Verwirrung. Zuvor saß Theo in seinem Zimmerchen und bastelte an Algorithmen, während Leonie an einem Auftragsgemälde arbeitete, und obwohl der Kunde seine Phantasie recht präzise beschrieben hatte, klaffte auf der Leinwand tödliches Nichts, umtanzt von der Vorstellung, ein Aktbild von Theo zu zeichnen. Sie fragte ihn, ob sie ihn zeichnen dürfe und er sagte, er könne es sich ja mal ansehen. So kam es, dass er wenige Augenblicke später, bis auf einen kaputten Taschenrechner unbekleidet, in ihrer Wohnung stand. Leonie beeilte sich, weil sie die Gänsehaut auf Theos Körper bemerkte. Mit schnellem Pinsel übersetzte sie Theo in etwas Zweidimensionales. Sie kritzelte seine breiten Schultern und das bisschen Bauch, den aus dem Bauch fallenden Nabel, die Schamhärchen und sein schüchtern verschrumpeltes Geschlecht, die Augen, die grün leuchteten, als hätte er sie zuvor in grüne Farbe getunkt, nur beim Schnurrbart log sie. „Das ist falsch“, sagte Theo als er ihr Werk beäugte. „Ich dachte, ihr Künstler stilisiert, erhöht, verschönert. Das da ist ja ein Spiegel-Ich. Eines ohne Bart.“ Leonie verstand das als Kompliment und kicherte sich die Wangen rot. Dann stieg sie aus ihrem Kleidchen und stellte sich nackt vor Theo auf, unantastbar, wie eine Plastik im Museum. So lautete der Deal.
„Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins, wie im Kindergarten“, hatte Theo gemeint, bevor er sich die Hose ausgezogen hatte. „Willst du mich auch malen?“, fragte Leonie. „Jeder Pinselstrich wäre eine Beleidigung“, sagte Theo, der seine Erregung in den Klamotten versteckte, die er vom Boden gesammelt hatte. Ihre zarte Haut umspannte den Körper wie eine Leinwand, auf die bis auf ein paar Muttermale nichts gemalt worden war. Das dunkelblonde Haar reichte ihr an die Brust, konnte die leicht schielenden Brustwarzen jedoch nicht verdecken. Tiefer wollte Theo gar nicht tasten mit seinen Blicken. Aus Höflichkeit und aus Angst. Sie versteckte sich hinter dem Aktbild von Theo, weil sie nicht wollte, dass er ihr beim Anziehen zuguckte. Hastig flüchtete auch er zurück in seine Kleidung, die nach Kreide und Zigaretten roch. Er stolperte zur Wohnungstür und als er sich umdrehte, pappte Leonie ihm einen Kuss ins Gesicht. Dass sein erster Kuss mit einem Mädchen, mit diesem Mädchen, diesem Ungeheuer namens Leonie, ein Abschiedskuss war, störte ihn nicht. Beim Glückssprung auf dem Nachhauseweg hätte er sich beinah den Fuß verstaucht.

Sie wiederholten das nie. Sprachen auch nicht darüber. Leonie und Theo gehörten nicht zu den Menschen, die „Kannst du dich daran erinnern?“ sagten. Sie begriffen Erinnerungen als eine Art Decke, auf der man sitzen oder unter der man kuscheln konnte; etwas, das die Macht besaß, zwei Menschen miteinander zu verbinden, unsichtbar, fast unterbewusst. Ein Händchenhalten der Vergangenheiten.

Theo hatte Leonie nicht nach ihrer Nummer gefragt und so konnten sie nicht miteinander über die nächste und übernächste, die danachnächste und daraufnächste Begegnung sprechen. Aber er hatte sich gemerkt, wo sie wohnte, und stand am folgenden Tag vor dem Klingelbrett. Es war ein hochgewachsenes Gebäude. Acht Stockwerke zählte Theo, und auf das geöffnete Fenster, aus dem Leonies suizidale Blume lehnte, konnte er deuten. Obwohl er wusste, dass sich ihre Wohnung in der fünften Etage befand und dass ihr Name Leonie war, konnte er sie keinem Nachnamen zuordnen.

Rosentreter
Grüblich
Mai the Huy
Hedderoth
Sokolowski
Kindermann
Sternthal

In Gedanken ergänzte er jeden Namen mit Leonie. Leonie Rosentreter. Leonie Grüblich. Leonie May the Huy. Das klang sehr falsch. So konnte sie unmöglich heißen. Sokolowksi mochte ihm auch nicht passen, sie hatte nichts Osteuropäisches an sich. Auch wenn das eine Milchmädchenrechnung war, fand er Sternthal am schönsten. Leonie Sternthal. So musste ihr voller Name lauten. Es klingelte. Gespannt hoffte er auf ihre Stimme. Es meldete sich ein alter Mann, jedenfalls klang er abgenutzt und rauchig, so wie kein junger Mensch klingen konnte.

„Hallo?“
„Ich suche eine Leonie. Wissen sie zufällig, bei welchem Namen ich klingeln muss?“
„Hier wohnt keine Leonie.“
„Doch, sie wohnt hier ganz gewiss.“
Danach verstummte die Sprechanlage. Kurz überlegte Theo, ob er alle Namen probieren sollte, aber er entschied sich für eine etwas ältere Variante. Theo begab sich auf die andere Straßenseite, formte seine Hände zu einem Trichter und richtete diesen auf das geöffnete Fenster im fünften Stock. „LEONIE!?“ Es gelang ihm, sowohl das Ausrufezeichen als auch das Fragezeichen zusammen mit dem Schrei durch ihr Fenster zu werfen.

„Verschwinde endlich!“

Der alte Sternthal, der aus einem Fenster im dritten Stock lehnte, fuchtelte wild mit dem Telefon und musste seine Brille immer wieder zurück auf die Nase schieben, weil sie herunterzufallen drohte. Nun beugte sich auch Leonie aus dem Fenster.

„Herr Sternthal, es ist alles in Ordnung!“
„Belästigt sie der junge Mann?“, fragte der immer noch verärgerte Greis, nachdem er seinen Kopf mit einer rostigen Bewegung schräg nach oben gedreht hatte.
„Ja“, antworte Leonie. „Aber es ist eine schöne Belästigung!“

Daraufhin schloss der Mann das Fenster und verzog sich. „Ich komme runter“, rief Leonie und während Theo auf sie wartete, überlegte er sich Gründe für sein Kommen, die er ihr nennen konnte. Als sich die Türe öffnete und Leonie heraus schlüpfte, hatte er einen Grund gefunden, bloß war ihm die Formulierung abhandengekommen. Sie gingen aufeinander zu und trafen sich mitten auf der Straße. Ein Auto hupte. Zweimal. Sie wichen aus und gaben sich die Hand. Weil das komisch war, umarmten sie sich, und beide verliehen der Umarmung einen leichten Druck, aber weil sich das immer noch komisch anfühlte, berührten sich ihre Lippen, zu kurz, um es Kuss nennen zu können. Ein Küsschen.

„Ich wollte dich fragen“, stammelte Theo, „wie viel du kostest.“
Leonie lächelte. „Wie bitte?“
„Ich meine, wie viel du willst, damit du mir …“
„Jaaa …?“
„Ein Bild malst.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das kommt ganz darauf an, welches Format, welches Motiv, wie aufwendig das alles ist, welche Farben du möchtest.“
„Das ist mir alles egal. Ich will nur, dass du mir ein Bild malst. Irgendeines. Nenn mir einen Preis!“
„Ich weiß es nicht. Zweihundert Euro?“
„Das ist dein Freundschaftspreis?“
„Nein! Wir sind keine Freunde. Ich kann dir doch keinen Freundschaftspreis geben. Du musst zahlen, wie jeder andere Kunde auch. Du bist sogar ein schwieriger Kunde, weil du nicht weißt, was du willst. Wenn Kunden sagen, was sie wollen, ist es viel leichter. Stell dir vor, du gehst ins Restaurant und bestellst etwas zu Essen. Was denkst du, bringen die dir?“
„Irgendetwas. Vielleicht ein Gericht, das sie irrtümlich zu viel gekocht haben.“
„Du meinst, ich soll dir ein Bild verkaufen, das ein Kunde nicht abgeholt hat?“
„Nein! Du musst das schon für mich malen.“
„Aber du würdest etwas essen, das für einen anderen gekocht wurde?“
„Das schmeckt man ja nicht.“
„Dem Bild siehst du auch nicht an, ob ich es für dich gemalt habe.“
„Ich glaube schon.“
„Du hast doch keine Ahnung!“
„Stimmt“, sagte er.
Dann fügte er hinzu: „Also zweihundert?“´
„Einverstanden“, sagte sie und ging die Straße entlang.

„Wohin gehen wir?“, fragte er.
„Ist das so wichtig?“, fragte sie.
„Nein“, log Theo.

Sie gingen in den Stadtpark. Eine Gruppe Akrobaten simulierte mit Holzstäben einen Feuertanz. Eine ältere Dame bückte sich nach dem Haufen, den ihr kleiner Hund auf die Grenze zwischen Kies und Wiese geschissen hatte. Ein Junge stellte ein Papierboot in den kleinen Bach, der das Grün zerschnitt und sich unter zahlreichen Brückchen hindurch schlängelte.
„Was malst du eigentlich so?“, fragte Theo.
„Ich male alles, so wie es ist. So wie es wirklich ist“, sagte Leonie.
„Wie würdest du diesen Bach malen?“
„Wenn ich solche Bäche sehe, mit diesem gelben Wasser, dann muss ich immer daran denken, wie die Welt aussähe, wenn die Kanalisation oberflächlich verliefe.“
„Kein schöner Gedanke.“
„Nein.“
„Und wie würdest du die Akrobaten malen?“
„Ich würde denen Flammen an die Holzstückchen malen. Vielleicht den ganzen Park in Brand setzen, in ein ungefährliches Feuer, das man bestaunen, in dem man aber nicht verbrennen kann.“
„Und warum hast du mir keinen Schnurrbart gemalt?“
„Weil ich den fürchterlich finde“, sagte Leonie.

Ein anderes Mal brachte Theo ihr Blumen, aber sie schmiss sie in den Müllcontainer im Innenhof und sagte bloß: „Blumen mag ich nicht.“ Sie hielten nie Händchen und solange sich ihre Münder nicht berührten, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die beiden ein Paar waren. Selbst sprachen sie nicht darüber. Vielleicht dachte sie sich etwas dabei, wenn sie ihn küsste oder anschaute, vielleicht dachte auch er sich etwas dabei. Sie waren; aber was, sagten sie nicht. Sie trafen sich in Museen, Leonie erzählte ihm etwas über Kunst, über Andy Warhol, und was er gesagt hat über sich, dass jemand, der alles wissen will über ihn, nur die Oberfläche anzusehen braucht, die seiner Bilder und Filme und von sich - das sei er.
Da wäre nichts dahinter. Theo schaute Leonie ins Gesicht, auf die leise Andeutung von Sommersprossen, die kleine Narbe an ihrer Lippe, deren Geschichte er nicht kannte, das Lächeln, denn irgendwie hatte Leonie keinen Mund, sondern ein Lächeln, und in ihre Augen, die so aussahen, als könnte man mit ihnen mehr sehen. Er versuchte, dahinter zu gucken, hinter die Oberfläche, aber er sah nichts, und es machte ihm Angst, dass dort wirklich nichts sein könnte. Oder etwas, das er nicht verstand. Er spürte nur etwas. Etwas ganz und gar Undefinierbares. Dann wurde ihm schlecht. Leonie setzte sich zu ihm und kraulte seinen Rücken. Hinter ihnen hingen Gemälde von Breton und Yves Tanguy, die tief genug waren, um hineinfallen zu können, aber an diesem Tag fielen sie nicht. Sie saßen und als es Theo wieder besser ging, knutschten sie „surrealistisch“, wie Leonie Zungenküssen nannte. Sie biss ihm die Lippen blutig, und als er sie fragend und auch ein bisschen erschrocken anguckte, sagte sie bloß: „Sonst schmeckt das ja nach nichts.“

Theo gelang es, seine Vorlesungen wieder regelmäßig zu besuchen. Auch, weil in der Stadt viel los war und Leonie viel in der Bar aushelfen musste. Eines Tages setzte sich Leonie mit ihm in den Hörsaal, aber was der Professor an die Tafel klatschte, verursachte ein nervöses Zucken an ihrem Augenlid. Sie versuchte einzutauchen in die Logik, in die Choreographie aus Formeln und Zahlen, aber ihre Gedanken stolperten vorbei. Einmal hatte ihr Theo von „Primzahlzwillingen“ erzählt. Primzahlen, mit einem Abstand von zwei. 11 und 13 waren solch ein Pärchen. Aber je größer die Zahlenwerte wurden, desto seltener wurden Primzahlen. Umso überraschender war das Phänomen, dass auch bei wirklich großen Zahlen, immer wieder solche Primzahlzwillinge vorkamen. 1.000.037 und 1.000.039, beispielsweise. Leonie mochte diesen Gedanken, aber mehr aus einer romantischen, weniger aus einer mathematischen Sicht.
„Ich habe übrigens dein Aktbild verkauft“, sagte Leonie.
Theo biss auf den Stift, auf den er zuvor geknabbert hatte.
„An wen?“
„An meine Großmutter. Die hat mich neulich besucht und war ganz begeistert gewesen von dem Bild.“
„Du hast ein Nacktbild von mir an deine Oma verkauft?“, fragte Theo.
„Das klingt echt komisch“, gab Leonie zu. „Aber sie hat mir tausend Euro dafür gegeben, weil ich mich anfangs gesträubt habe. Dann habe ich mich gesträubt, so eine hohe Summe von ihr anzunehmen, aber mehr aus Höflichkeit.“
„1.000 Euro für eine Kohlezeichnung?“
„Ich habe es noch einmal gemalt. Mit Öl.“
„Wunderbar! Jetzt hänge ich nackt im Wohnzimmer deiner Oma und all deine Verwandten betrachten mich, während sie aus einer Tasse Tee schlürfen und Kekse mampfen.“
„Ich hatte nicht mehr genügend Grün für deine Augen. Hab stattdessen blau genommen. Die würden dich nie wiedererkennen“, lächelte Leonie.
„Dafür bekomme ich mein Bild umsonst“, sagte Theo.
„Okay“, sagte Leonie. Ganz leise. Denn das Bild existierte schon. Trotzdem sagte sie ihm immer, dass es noch nicht ganz fertig sei, dass sie noch ein bisschen Zeit bräuchte. Es war ihr perfekt gelungen. Sie konnte ihre Gedanken und Phantasien mit den Farben vermischen und alles auf die Leinwand bringen. Alles, was sie in Theo sah oder für ihn fühlte. Dass es das Beste war, was sie je gemalt hatte, wollte sie weder behaupten noch glauben. Sie versteckte es vor ihm. Und vor sich selbst.

„Ich habe zwar ein kleines Bett“, sagte Theo. „Aber wenn du möchtest, kannst du einmal bei mir schlafen.“
Darauf sagte Leonie nichts. Das war das Ende ihres fünfundzwanzigsten Treffens. Theo zählte mit. Sie hatten sich oft geküsst, sich nackt gesehen, nackt berührt, aber miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Theo war siebenundzwanzig und hatte noch überhaupt nie mit irgendjemandem geschlafen. Leonie schon. Mit wem und mit wie vielen Wems sagte sie nicht. Ein Professor von Theo meinte einmal zu ihm: „Sobald du deinen Schwanz in sie steckst, sind die Gefühle weg.“ Das ließ er lange Zeit unangefochten in seinem Weltbild stehen. Doch als an jenem Abend Leonie an seiner Tür klopfte und sie sich schon im Flur nahe kamen, weil es eine Notwendigkeit der Architektur war, genauso wie sie das dünne Bett zwang, eng aneinander zu liegen, und als er ihr die Jeans von den Beinen streifte und ihr den Pullover über den Kopf zog, als er den BH mit ungeschickten Bewegungen öffnete und sie zusammenzuckte, weil der Schnurrbart an ihrer Brust kratzte, als sie sich den Slip auszog und auch er endlich nackt war, als er sich zwischen ihre Beine schob, als er ihre Schamlippen berührte, nicht mit dem Mund oder den Fingern, als sie anfing, sich mit dem Becken gegen ihn zu stemmen, als sie einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, sie leise begann, zu stöhnen, und sich hin und wieder die Schweißperlen von der Brust wischte, die Theo von der Stirn tropften, als sie sich auf dem Studentenbett liebten, war alles sinnvoll und logisch und die Gefühle, die hätten verschwinden sollen, blühten.

Auch Monate später waren die Gefühle nicht weg. Es waren andere, aber es waren Gefühle. „Ich habe Gefühle“, sagte Theo, als handle es sich um eine ansteckende Krankheit. Theo wollte wissen, was genau das jetzt war mit ihnen. Leonie wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht, trat sich die Füße blutig in den Scherben, weil sich Theo seit kurzem ständig den Kopf zerbrach. Über sie und sich und über das, was sie waren, wenn sie zusammen waren, und was sie blieben, wenn sie etwas trennte. Wenn Theo von „uns“ sprach, flüchteten ihre Lippen schnell an seine. Sie wollte nicht, dass er ihnen ein Namensschild umhängte, eine Erklärung; wie er alles betitelte und untertitelte, um manchmal das Dahinter oder Darüber zu übersehen. Sie wollte etwas anderes, etwas Verbindendes. Etwas, das sie zusammen verwirrte.

„Lass uns zusammen träumen“, sagte Leonie.
„Wie meinst du das?“, fragte Theo.
„Zusammen in einem Traum sein. Demselben Traum.“
„Das ist unmöglich“
„Hast du es je versucht?“
„Es ist trotzdem unmöglich.“
„Lass uns es trotzdem versuchen.“
„Okay“, sagte Theo. „Und wie machen wir das?“
„Wir hören Musik. Leise, so dass wir nicht aufwachen, wenn wir schlafen, aber so, dass wir gemeinsam in einen Schlaf schlüpfen können. Wir liegen ganz nah aneinander und du versuchst im Traum, mich zu finden, und ich dich, und wenn wir uns gefunden haben, träumen wir miteinander.“
„Können wir vorher miteinander schlafen?“, fragte er.

Ein paar Atemzüge nach Theo schlief auch Leonie ein. Die Musik hatten sie vergessen. Theo war in irgendeiner Bar und die Leute spuckten Kaffee in einen Becher und reichten ihn an ihren Nachbarn weiter, der ihn trank und wieder in einen Becher spuckte, und so weiter und so fort. Er suchte nach Leonie, bis ihm auffiel, dass alle Frauen ihr Gesicht hatten. Als er ihren Namen rief, fühlten sich alle angesprochen und schauten erschrocken im Raum umher. Welche Leonie war seine Leonie? Er setzte sich zu einer an den Tisch und begrüßte sie. Ihre Stimme war verzerrt und die Narbe an ihrer Lippe fehlte. Aus diesem Grund setzte er sich zu einer anderen Leonie, aber auch die war nicht ganz echt. Die Narbe war auf der falschen Seite und er fragte sie: „Bist du du?“
„Nein“, sagte sie, spuckte Kaffee in den Becher und reichte ihn Theo.
„Nein, Danke!“
„Du musst!“, sagte sie. „Sonst fallen wir auf.“ „Leonie?“
„Psst!“
Er nahm den Becher und trank. Zum Glück schmeckte er nichts. Eine Leonie, die hinter ihm saß, stupste ihn an und forderte den Becher. Theo hatte den Kaffee aber geschluckt und konnte nichts zurück in den Becher spucken. Jene Leonie, die ihm gegenübersaß, beugte sich über den Tisch und küsste ihn, küsste ihn, küsste ihn. Er war aufgewacht und Leonie saß wie ein Mädchen neben ihm, das Geburtstag hatte und wegen der Geschenke früher aufgestanden war als sonst.
„Und?“, fragte sie ihn. „Hat es geklappt?“
„Ich weiß nicht. Ich war in einer Bar.“
„Ich auch!“, schrie Leonie. Theo setzte sich auf.
„Du hast mir Kaffee in den Becher gespuckt und ich habe es getrunken.“
„Nein!“ Leonie schüttelte angewidert den Kopf. „Wir haben Pfirsichnektar getrunken.“
„Was träumst du auch von Pfirsichnektar! So etwas gibt es in meiner Welt nicht. Auch nicht im Traum.“ Theo war ein bisschen enttäuscht, aber es freute, nein, beruhigte ihn, dass es nicht möglich war.

Sie wiederholten diese Zeremonie nicht. Aber sie tauschten sich aus über die Träume, die sie träumten, und vielleicht waren sie zufällig in denselben Traum geraten. Manchmal war es ihm unangenehm, den wahren Hergang seines Traumes zu schildern. Auch weil er wiederholt pornographische Leonieabenteuer träumte. Im Laufe der Zeit nahmen sie seine Erzählungen als eine Art literarisches Vorspiel, und Leonie fand sogar großes Gefallen daran. Sie hingegen verschwieg ihre Träume oder log sie langweilig, so dass Theo jegliches Interesse an ihrer Schlafwelt verloren hatte.
„Letzte Nacht habe ich etwas total Verstörendes geträumt“, sagte Theo. „Wir waren in deiner Wohnung, die ganzen Bilder waren zerschnitten, an der Wand stand irgendetwas geschrieben, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls standest du da in deinem grünen Kleid, es war von Ölfarben beschmiert. Anfangs habe ich gedacht, du blutest, aber es war nur Farbe. Du hast nichts gesagt. Du standest einfach da und hast mich angeschaut und als ich einen Schritt auf dich zugegangen bin, hast du dich zum Fenster gestürzt. ‚Du wirst mich nie einholen‘, hast du gesagt und bist gesprungen.“ Leonie bekam Nasenbluten. Das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und sie wurde ganz bleich. Richtig kalt sah sie aus in diesem Moment. „Es tut mir leid“, sagte Theo. „Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen.“ Leonie schwieg. Sie starrte ins Leere. Theo brachte ihr ein Taschentuch, damit sie sich das Blut aus dem Gesicht wischen konnte. „An der Wand stand HAPPY END“, sagte sie. „Wir hatten den gleichen Traum.“

*

Theo hatte inzwischen sein Mathematikstudium abgeschlossen. Er war Mathematiker und wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Der Logik und den Gesetzmäßigkeiten traute er immer weniger, manchmal misstraute er ihnen sogar. Statt eine Formel einfach anzuwenden, leitete er sie aufwendig her, damit er sich sicher sein konnte, dass sie stimmte. An einige namhafte Versicherungen hatte er Bewerbungen geschickt. In den Monaten des Wartens arbeitete er an einem Programm, das Gedichte schreiben sollte. Er fragte Leonie, welche Dichter ihr am besten gefielen, denn er selbst kannte nur Goethe und Schiller. Die Namen, die Leonie aufzählte, sagten ihm alle nichts, also bat er sie, ihm einige Gedichte zu geben, die sie gut fand. Nach ein paar Wochen gelang es seinem Programm, metrisch einwandfreie Reime zu produzieren, die jedoch inhaltlich keinen Sinn ergaben, aber immerhin grammatikalisch in Ordnung waren. Zwei Gedichte gefielen Leonie sogar. „Bin auf Sehnsucht nach dir“ und „Zusammenfallen“. Als ihm eine Versicherung zusagte, ließ er vom Programm ab und berechnete von nun an Wahrscheinlichkeiten und Beiträge für Lebensversicherungen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch stirbt“, sagte er zu Leonie, „beträgt 100%. Der Zeitpunkt des Todes ist entscheidend und der lässt sich erschreckend genau vorhersagen. Statistisch gesehen natürlich.“
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide zum gleichen Zeitpunkt sterben?“
„Wir besitzen kein Auto, gehen Berufen nach, die auf der Risikoskala nicht einmal einen Score erreichen, eine Schachtel Zigaretten reicht uns das ganze Jahr, das ist wichtig, weil Raucher häufiger bei einem Unfall sterben als Nichtraucher. Unsere Herzen schlagen zuverlässig und haben nicht vor, stehenzubleiben oder uns in den nächsten Jahren ein Gerinnsel ins Hirn zu pumpen. Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf Jahren bei einem Unfall zu sterben, liegt bei weniger als fünf Prozent. Berücksichtigen wir nur die Zeit, in der wir zusammen verunglücken könnten, geht die Wahrscheinlichkeit gegen Null.“ Leonie hatte gespannt zugehört. „Also werden wir nicht zusammen sterben?“
„Eher nicht.“
„Findest du das komisch?“
„Nein. Das ist natürlich.“
„Aber wenn du früher oder später stirbst als ich, sind wir nicht mehr zusammen.“
„Wenn wir zum gleichen Zeitpunkt sterben, sind wir auch nicht mehr zusammen.“
„Ich glaube schon. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.“
„Wieso?“
„Ich glaube, dass es etwas nach dem Tod gibt. Etwas Schönes sogar. Man ist dort bloß am Anfang allein. Die Seele muss von hier nach dort wandern. Aber wenn zwei Seelen im gleichen Moment wandern, ist man zusammen. Dann ist man auch nach dem Tod nicht getrennt.“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Der Tod ist unlogisch, Theo. Genau wie die Liebe.“
„Schon möglich.“
„Lass uns ein Versprechen machen“, sagte Leonie.
„Wenn jemand von uns stirbt, bringt sich der andere um. Damit wir im Tod zusammen sein können. Es darf nur wenig Zeit verstreichen, denn wohin die Seelen fliegen, und wie schnell, weiß niemand.“ Theo schluckte. „Vorausgesetzt wir haben keine Kinder“, fügte Leonie hinzu.
„Das ist Wahnsinn!“, sagte Theo.
„Es ist, was es ist“, sagte Leonie.

Die Schmetterlinge im Bauch puppten sich ein. Gefühle wachsen nicht, sie verändern sich, schlagen tiefe Wurzeln, graben sich in einen Charakter, bis das Gefühl zu einem dazugehört. So gehörte die Liebe zu Leonie genauso zu Theo wie sein Schnurrbart, den er immer noch trug. Als letztes, leises Nein gegenüber Leonie. Sie zogen nicht zusammen, aber er verkaufte sein Bett und schlief immer bei ihr. Als sie mit zwei Freundinnen für ein Kunstprojekt nach Kroatien geflogen war, dort Steine suchte und in den Steinen nach Figuren, und an einem Tauchunterricht teilnahm, saß er alleine in ihrer Wohnung, hatte aus ihrer Tasse getrunken, auch diesen bitteren Kräutertee, den er beim ersten Mal ausgespuckt hatte. Er hatte auf der Seite des Bettes geschlafen, auf der sie immer lag und die warme Stelle vermisst. Einmal hatte er sogar ein wenig Farbe auf die Leinwand gekleckert, und indem er sie nachspielte, war sie ein bisschen bei ihm. Diese Sehnsucht gefiel ihm, weil es ein Gefühl war, das er noch nie zuvor gefühlt hatte, und weil er wusste, dass dieses seltsam schöne Gefühl bloß ein Nebengefühl war. Eine Nebenwirkung der Verwirrung zu Leonie. Aber ein Gedanke machte ihn verrückt. Während er in der Arbeit saß und mit seinem Vorgesetzten über eine Erhöhung der Beiträge stritt oder mit einem Mathematikfreund ein Bierchen trank oder allein einen Pornofilm guckte, während er irgendetwas tat, so, als wäre nichts Sonderbares geschehen, konnte Leonie tot sein. Er könnte über einen schlechten Witz seines Kollegen lachen und Leonie wäre tot. Leonie wäre tot und er würde weiterleben, als wäre alles normal. Als würde sie in ein paar Tagen zurückkehren. Dabei wäre sie weg. Unerreichbar.

„Das ist doch kindisch“, sagte Mira, eine von Leonies erfolgreicheren Künstlerfreundinnen, „so ein Versprechen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich Theo umbringt, bloß weil du tot bist. Und wenn du dich umbringst, wenn dieser Freak stirbt, bist du hoffnungslos dumm.“
„Mag sein“, sagte Leonie. „Du kannst ja dafür sorgen, dass er sich umbringt, wenn es soweit ist.“
Leonies Handy klingelte. Sie ließ es läuten. Dann wandten sie sich wieder dem Projekt zu, sie mussten sich beeilen, denn nachmittags wollten sie tauchen.

Theo ging durch die Wohnung. Er glaubte, die nassen Spuren zu sehen, die sie hinterlassen hatte, nachdem sie das letzte Mal aus der Dusche gestiegen war. Er folgte den Spuren. Sie führten ihn zu ihrem Kleiderschrank. Er öffnete ihn und sah die vielen Kleider und Röcke. Er sah sie, wie sie mit dem Lächeln über Wasserpfützen sprang, wie er mit einem Pinsel nach ihr warf und ihr das Kleid danach noch besser gefiel oder wie ihre Kleidung auf dem Boden lag und sie auf ihm. Theo griff nach ihrem Lieblingsschal, den sie selten, aber schon seit er sie kannte, umhatte, und tauchte seine Nase in den dunkelbunten Stoff. Er atmete sie. Nach diesem Atemzug stand sie kurz neben ihm, hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Sie war ganz nah bei ihm, er konnte ihr Haar an seinem Hals spüren, und diese unsichtbare Anwesenheit von Leonie erschreckte ihn so sehr, dass er den Schal fallen ließ. Er bückte sich nach ihm, weil er sie noch einmal heraufbeschwören wollte, weil er sie riechen wollte, weil er diesen Duft nicht beschreiben und sich nicht an ihn erinnern konnte, sobald er aus seiner Nase verschwunden war. Aber als er sich nach dem Schal bückte, erblickte er eine Leinwand, die hinter dem Schrank lehnte, ummantelt von einem braunen Tuch. Theo schob den Schrank ein Stück nach vorne. Er zog das Bild hervor und lehnte es an die Wand. Dann befreite er es von seiner Verkleidung. Es war jenes Bild, das Leonie ihm von Anfang an versprochen, das sie sehr bald gemalt, ihm aber nie gezeigt hatte.

Auf dem Bild waren Theo und Leonie zu sehen. In der Dunkelheit waren sie nicht viel mehr als zwei Schatten. Er lag auf dem Boden, grau, bis auf das Grün seiner Iris. Sie lehnte an dem Bett, trug ein Kleid aus Blut. Beide waren tot. Das Bild stand wie ein Spiegel an der Wand. Bloß zeigte es nicht das Jetzt. Trotz der Sonne, die ins Schlafzimmer schien, war es nicht hell und nicht warm. Je länger Theo auf das Bild starrte, desto realer wirkte es. Am Ende spürte er den giften Geschmack von Ölfarbe auf seinen Lippen. Er versuchte, sich mit der Hand über den Mund zu wischen, aber seine Finger zerliefen und blieben als schwarze Rinnsale in seinem Gesicht kleben. Sein Schrei schrumpfte zu einem Blubbern. Dann fiel er.

*

„Warum willst du uns umbringen?“, fragte Theo, als er Leonie vom Flughafen abholte. Sie trug ein braunes Kleid. Die Sonne hatte sich auf Leonies Haut gedrückt und er hatte ganz vergessen, wie verzaubernd ihr Lächeln aussah, selbst wenn es in Momenten wie diesen zurückzuckte.
„Ich will niemanden umbringen“, sagte Leonie. Und nachdem sie von dem Fluglärm, den anfahrenden Autos und den Millionen Gesprächsfetzen in ein Taxi geflohen waren, fügte sie hinzu: „Du hast das Bild gefunden, stimmt’s?“
Theo nickte. „Du hast einmal gesagt, du malst alles, so wie es ist. So wie es wirklich ist.“
„Wenn man nach dem Happy End weiter macht, wird’s scheiße.“
„Und deswegen willst du uns umbringen?“
Leonie schwieg. Der Taxifahrer drehte die Musik lauter und schaute nur in den Rückspiegel, wenn er die Spur wechselte.
„Wann“, sagte Theo, „war unser Happy End?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Leonie. „Können wir bitte über was anderes sprechen? Du hast mich gar nicht gefragt, wie es in Kroatien war!“
„Wie war es in Kroatien?“, fragte er.
„So macht das keinen Spaß“, sagte sie.
„Ich dachte, wir lieben uns, um zusammen zu leben. Nicht, um zusammen zu sterben“, sagte Theo.

Theo mochte ihren halboffenen Schlafmund, ihre schläfrigen Augen am Morgen und wie sich ihre piepsige Stimme überschlug, als wären die Töne seitenverkehrt. Auch ihr Gesicht beim Gähnen gefiel ihm. Vielleicht, weil sie in solchen Momenten harmlos aussah. Die schlafende Leonie beobachtete er oft, wenn er wach im Bett lag und an das Bild hinter dem Schrank denken musste. Nach dem Zähneputzen zählte er noch einmal die Messer in der Küche. Erst dann schlüpfte er zu Leonie unter die Decke. „Das macht keinen Sinn“, dachte er und kuschelte sich an sie.

„Das Bild“, flüsterte er ihr ins Ohr, „gehört mir, oder?“
„Ja“, sagte sie, zu laut für eine Einschlafende.
„Wenn es mir gehört, kann ich es nehmen und mit ihm machen, was ich will, oder?“
„Ja“, sagte Leonie. „Was willst du denn damit machen?“
„Ich will es aus der Wohnung tragen. Irgendwo hinstellen, vielleicht vernichten.“
„Das wird nichts ändern“, log sie, küsste ihm auf den Oberarm und schlief ein.

Theo überlegte, das Bild am nächsten Tag verschwinden zu lassen, während Leonie in der Touristeninformation arbeitete, aber er zog es noch in derselben Nacht vorsichtig hinter dem Schrank hervor, schob es aus der Wohnungstür, balancierte es das Treppenhaus hinab und schleifte es in den Innenhof, wo er es mit einem Teppichmesser zerschneiden wollte. Aber dann musste er an gemeinsame Träume denken und grüne Kleider und an Leonies Blume im fünften Stock. Auf der Straße hörte er eine Gruppe Jugendlicher grölen. „Entschuldigung!“, schrie er ihnen hinterher. „Hat irgendjemand von euch Feuer?“ Sie verstummten, drehten sich zu ihm und begannen, ihn zu umkreisen. Ein Junge stellte seine Wodkaflasche auf das Kopfsteinpflaster. Sein Gesicht war ein blödes Grinsen, eine Seite des Kopfes war kahl rasiert, am Hals blitze ein unglückliches Tattoo. Er kramte eine Streichholzschachtel aus der Tasche, entzündete ein Streichholz und schnippte es in Theos Richtung.
„Wir brennen“, sagte er. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren und Katzenohrringen spuckte Theo vor die Füße. „Wir brennen.“ Ein anderer klatschte Theo in den Nacken. „Mal sehen, ob du Feuer schlucken kannst.“

„Warst du schon einmal verliebt?“, fragte Theo.
„Kopfüber“, sagte Leonie.

Kopfüber hing die Welt, in der Theo am Boden klebte; zusammengekauert auf dem nassen Asphalt des Innenhofes, erhellt vom brennenden Gemälde, das in seinem von Schmerzen vernebelten Blick noch fürchterlicher aussah als zuvor. Die jungen Vandalen hatten fortgesetzt, was er bloß angedacht hatte. Er fiel in einen Schlaf, aus dem er sich Stunden später vom alten Sternthal wecken ließ, der mit einem Gehstock gegen Theos Schienbein klopfte.

*

Theo entführte Leonie in einen Urlaub. Die Tritte schmerzten immer noch unter seiner Haut, aber ihn beunruhigte das Gefühl, sich verbrannt zu haben. Irgendwie - mit allem. Dem ganzen Körper. Aber es war nichts zu sehen, und wenn er sich anfasste, schmerzte es nicht mehr und fühlte sich nicht anders an als sonst. Auch Leonie hatte ihm gesagt, dass sie sich verbrannt fühlte, ohne genau benennen zu können, was sie damit meinte. Er hatte das, was sie waren, verbrannt oder verbrennen lassen und jetzt musste er an einen kalten Ort. Er wollte mit ihr in eine Nichtfarbe reisen. Mit der Bahn fuhren sie nach Norwegen. In Göteborg waren sie gezwungen, fünf Stunden nebeneinander zu sitzen, weil ihnen der Anschlusszug entwischt war.
„Kopfüber sagst du“, sagte Theo.
„Ja“, sagte Leonie.
„In wen?“, fragte Theo.
„In dich und in dich und in dich, oder in drei Theos, die dir nicht ähneln. Es ist traurig, dass du nicht du geblieben oder du geworden bist.“
Als sie am Bahnsteig standen und der Vorwind, durch ihr Haar und Kleid und seinen Schnurrbart wirbelnd, den einfahrenden Zug ankündigte, spürte er ihre Hand in seinem Rücken, wie er die Verbrennung auf seiner Haut spürte. Er fühlte etwas, das nicht da war und nicht da sein konnte, aber es waren ihre Hände. Die Hände, die ihn liebkosten, die Zukünfte pinselten und applaudierten nach dem Sex. Ihre fünf Finger in seiner Lende, dabei umklammerte sie mit beiden Händen ihren vollgestopften Koffer. „Es ist kalt dort“, hatte Leonie gesagt und sich auf den Koffer gesetzt, damit Theo den Reißverschluss zuziehen konnte. Er fühlte den Zug, den Stoß, das Ende. Leonie ließ ihren Koffer fallen, um ihn vor den Zug zu schubsen. Dieses Bild zerschnitt und verbrannte er in seinem Kopf, aber selbst die Fetzen und die Asche dieser Angst verwirrten seine Gedanken. Vielleicht hätte sie wirklich ihren Koffer fallen gelassen, vielleicht wäre der Koffer aufgeplatzt und der Lieblingsschal, ein roter Handschuh oder eine tödliche Skizze herausgesprungen, vielleicht hätte sie ihn dann mit einem unerwartet heftigen Stoß vor den Zug geschubst, der ihn zermahlen würde. Vielleicht hätte sie das alles getan, aber er stellte seinen Rucksack ab und küsste ihr aufs Lächeln, ohne dass sie sich hätte dagegen wehren können.

„Du bist auch nicht du geblieben. Und was du geworden bist, weiß ich nicht“, sagte Theo.
„Findest du das traurig?“
„Nein. Das ist natürlich.“

„Es wird kalt werden“, sagte Leonie und stieg in den Zug. Er brachte sie nach Oslo, wo sie in einer Jugendherberge übernachteten. In einem Stufenbett. Sie schlief oben und Theo mochte den Gedanken, dass Leonie über ihm schlief.

Draußen schneite es. Es war Winter, aber es war ein anderer Winter hier. Die Schneeflocken waren schwerer, die Kälte eisiger und die Luft tat weh, wenn man sie atmete. Theo und Leonie besuchten das Museum für zeitgenössische Kunst, das Museet for Samtidskunst. Drinnen schmolz ihnen der Schnee von den Schuhen und während sich Leonie vor Skulpturen verrenkte, um sie nachzustellen, sprach Theo immerfort von Abel, einem norwegischen Mathematiker. Von Abelscher partieller Summation und seinen elliptischen Integralen, mit denen man diesen in Stein geschlagenen Kuss teuflisch genau auseinander rechnen konnte. Leonie und Theo standen vor einem Paar, das beim Kuss zu einer Statue verschmolzen war.

„Das schaffe ich nicht allein!“

Leonie zog Theo an sich, führte die Hände zur gegenseitigen Umklammerung an die richtigen Stellen und küsste ihn. Obwohl er sich nicht wehrte, vermischte sich nichts. Theo blieb Theo und Leonie blieb Leonie.

„Ich hab die Kunst nur, wenn ich davor stehe, aber du hast deine Mathematik immer im Kopf“, sagte Leonie.
„Das ist es nicht“, sagte Theo. „Du liebst mich nur, wenn ich vor dir stehe, wenn du dein Ohr am Telefon gegen meine Stimme drückst oder sonst irgendwie mit mir verwirrt bist.“
Leonie öffnete ihren Mund zum Widerwort, aber stieß dann bloß Luft aus, und wunderte sich, dass sie sie nicht sehen konnte.

„Willkommen im kältesten Plätzchen Norwegens“, begrüßte sie der Exkursionsleiter Erik Dahl in Kirkenes, einer kleinen Stadt im Norden. Theo wusste nicht mehr, warum er sie zum Eistauchen angemeldet hatte. Vielleicht wollte er ihre flammenden Phantasien in der Kälte ersticken, vielleicht dachte er auch, dass man für manche Wahrheiten einfach in die Tiefe tauchen musste. Theo war unerfahren im Tauchen, aber Leonie zeigte ihm den Umgang mit der Sauerstoffflasche und fälschte seine Unterlagen. Sein Logbuch war schön. Erik hatte die beiden böse angeschaut. Vermutlich hatte er mitbekommen, dass Theo nicht viel Ahnung hatte, aber die Scheine passten und er brauchte jeden Kunden. Und Theo und Leonie wollten tauchen. Zusammen in die Stille hinein, die wegschwimmen würde, wie ein verschreckter Schwarm Fische. Sie schlüpften in die Neoprentauchanzüge. Es war das hässlichste, was er je an Leonie gesehen hatte. Er sagte es ihr und sie kicherte. Bevor sie sich die Tauchmasken überzogen und den Schlauch in den Mund steckten, küsste er sie ein letztes Mal. Sie tasteten am Tauchseil entlang Erik hinterher. Leonie hing über Theo und Theo mochte den Gedanken nicht, dass sie über ihm war. Vor jedem Atemzug hatte er Angst, dass sie den Schlauch aus seiner Flasche gezogen hatte, um sich auf ihn zu stürzen und in Zeitlupe zusammen mit ihm in die Tiefe zu sinken. Und tatsächlich spürte er ein Zerren an seiner Flasche. Er drehte sich um und sah in Leonies Gesicht. Es war nicht das Gesicht einer Verliebten oder Verwirrten, auch nicht das Gesicht einer Mörderin. Es war das panische Gesicht einer Sterbenden.

*

Sechs Monate lag sie nun schon im Koma. Das Lächeln war ihr sinnlos geworden. Sie konnte nichts mehr sagen, nicht mehr küssen und nicht mehr lächeln, auch nichts mehr essen. Der Mund war nur noch ein Loch, ohne das ihr Gesicht komisch ausgesehen hätte. „Ich habe sie umgebracht“, dachte Theo, und Mira, die hinter ihm stand, sagte mit Tränen in den Augen:
„Sie hat euch beide umgebracht.“
Dann weinten sie zusammen und ob Leonie etwas mitbekam von den Tränen, die auf ihre Decke tropften, wussten die Ärzte nicht. „Möglich, aber nicht wahrscheinlich“, sagten sie, und Theo las ihr aus ihren Lieblingsbüchern vor, Süskind und Zeh und Fried. Später auch aus seinen mathematischen und philosophischen Büchern. Nachdem er mehr Zeit neben ihrem Bett verbracht, als zusammen mit ihr gelebt hatte, hörte er auf, an sie zu glauben, und daran, dass irgendetwas von dem, was er sagte oder für sie fühlte, bei ihr ankam. Theo besuchte Leonie nur noch jeden zweiten, jeden dritten, jeden fünften Tag. Seine Tränen waren unsichtbar geworden, aber sie waren da und sie tropften auf Leonies eingefallene Wangen, wenn er über ihr lehnte und überlegte, ob er ihr einen Kuss geben sollte, sich aber dann doch abwand, weil er sie nicht ohne ihren Willen küssen wollte, weil ein Kuss etwas war, was man nicht alleine schaffen konnte. Es wäre bloß die Berührung zweier Lippen gewesen, nicht die Fortsetzung von Gefühlen. So ließ er sich zurück in seinen Stuhl fallen und wischte ihr die unsichtbaren Tränen aus dem Gesicht, berührte ihre Hände, die ihm tödlich schienen, in Wirklichkeit aber immer voll Zärtlichkeit und Liebe gewesen waren.

Etwa fünf Jahre nach dem Vorfall unter dem Eis, der Leonie in eine seltsame Zwischenwelt gerissen hatte, küsste Theo das erste Mal eine andere Frau. Er hatte sie in den Winterferien kennengelernt, aber der Schnee klebte ihm auf den Lippen wie der letzte Kuss von Leonie. Er war in einer Modeboutique für Frauen, weil er einen Schal suchte, der Leonies Lieblingsschal ähnelte. Er wollte ihr einen neuen Lieblingsschal kaufen, weil sie das Gepäck in Norwegen lassen mussten und bei der Nachsendung etwas schief gelaufen war. Er vermisste seine Sachen nicht und sie brauchte ihre nicht, aber wenn er bei ihr saß und sah, wie draußen die Schneeflocken durch die Äste tanzten und die Wasserpfützen im Park gefroren, vermisste er den Lieblingsschal um ihren Hals. Marie fragte Theo nach einer bestimmten Jeansgröße, weil sie ihn mit einem Verkäufer verwechselt hatte. Obwohl er klar stellte, dass er hier nichts verkaufen würde und vor allem niemanden beraten könne, verbrachte er den ganzen Tag mit Marie und sah ihr dabei zu, wie sie ohne Ausnahme alles in dem Laden probierte. Den Schal, der falsch aussah um ihren Hals, kaufte er, und legte ihn einige Tage später auf Leonies Nachtkästchen. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“

Vorsichtig schüchtern waren Maries Küsse und sie schmeckten ganz anders als die von Leonie. Sie fühlten sich falsch an, aber taten gut, auch wenn sie den letzten Kuss von Leonie nicht wegküssen konnten. „Es macht Sinn“, redete sich Theo ein. Wenn sie miteinander schliefen, musste das Licht brennen, weil er in der Dunkelheit mit Leonie schlief, weil er dann nicht Maries Gesicht sah, sondern Leonies Lächeln. „Es ist okay“, sagte sich Theo. „Es ist logisch.“ Es kam der Tag, an dem Marie ihm sagte, dass sie es komisch fand, dass er Leonie so oft besuchte. „Warum besuchst du so oft deine tote Vergangenheit?“, hatte sie ihn gefragt, und er war wütend auf Marie. Aber letztendlich unterließ er die Besuche und an manchen Tagen vergaß er sogar, dass Leonie woanders lag und er nicht bei ihr.

Er küsste Marie, schaute in ihre graublauen Augen, die so aussahen, wie das Loch, das Erik damals ins Eis geschnitten hatte. Er besuchte mit ihr zusammen einen Tanzkurs und verliebte sich in den Schwindel, den er mit ihr dort erlebte. In der Arbeit bekam er ein eigens Büro mit einem großen, leeren Fleck, den er gerne mit einem Bild von Leonie verscheucht hätte, aber Marie ließ eine Fotografie von sich auf Leinen spannen, und so saß er auf seinem Stuhl und Leonie war tot. Leonie war tot und er scherzte mit einem Geschäftspartner am Telefon über eine Floskel im Kleingedruckten, die der Versicherung endlos Geld einbringen würde. Leonie war gestorben und er lebte weiter, als wäre nichts Sonderbares geschehen.

„Tu es nicht“, sagte Mira am Telefon.
„Was?“, fragte Theo.
„Bring dich nicht um“, sagte sie und legte auf.

Theo saß an dem nackten Schreibtisch und wunderte sich, dass die Tischlampe nicht flackerte oder etwas den Papierstoß durcheinander wirbelte. Nur die neue Wanduhr tickte zu laut. Als er die Augen schloss, sah er ein kleines Mädchen. Es stand weinend in einem Blumenfeld und schaute auf eine Frau, die tot auf dem Boden lag. Er sah das kleine Mädchen, wie es einen kleinen Jungen küsste, kicherte und weglief. Wie es schreiend mit einem Kissen auf ein blutiges Bett schlug. Er sah das Mädchen, als es kein Mädchen mehr war und erkannte in ihrem Kussmund Leonies Lächeln. Sie umarmte ganz viele ganz unterschiedliche Männer; knutschte mit ihnen. Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Bei Sonnenfinsternis. Im Mondschein. Einmal in einem Auto, in das das fahle Licht einer Laterne fiel. Sie schlief mit ihnen. Nacheinander, miteinander, durcheinander. Ohrfeigte einen und weinte um einen anderen. Er sah sie, wie sie auf einer Brücke stand, auf der anderen Seite der Brüstung, an der sie sich mit einer Hand festhielt. Sie beugte sich gegen die Tiefe und suchte im Wasser die winzige Stelle, in der sie sich spiegelte und sprang hinein. Sie fiel sieben Sekunden lang und schlug mit dem Gesicht auf. Bewusstlos trieb sie den Fluss entlang. Er sah Leonie mit einer kleinen Narbe an ihrer Lippe in einem Krankenhausbett sitzen. Sie erinnerte ihn an die Leonie, die er so oft besucht hatte, aber nie besuchen konnte. Jetzt sah er Leonie und ihr Lächeln und wie sie einen Mann küssten, der aussah, wie Theo. Noch einmal sah er sich und Leonie, wie sie waren und was sie waren, aber er sah es mit ihren Augen. Er hörte das leise Kritzeln seines Stiftes im Hörsaal, atmete die schmutzige Luft, die sie geatmet hatten, als sie sich in der Stadt trafen. Er fühlte sich nackt und er fühlte sich eingeengt im Studentenbett. Er küsste alle Küsse noch einmal und zählte sie nicht, weil er sie mit ihrem Mund küsste und ihn das Kratzen des Schnurrbartes beschäftigte. Er sah das Feuer und den Schnee und sein ängstliches Tauchmaskengesicht. Als er die Augen öffnete, war alles wie zuvor. Die Uhr tickte wieder jede Sekunde. Der Bildschirmschoner zeigte das Markenzeichen der Versicherung. Er sprang auf und ging zu den Toiletten, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschte. Dann schaute er in das Spiegelbild, an dem sich Leonie verschluckt hatte, und überlegte, ob er sie noch einholen konnte.

 

Hi!

Ich hab die ganze Geschichte nochmal in einem Rutsch gelesen und bin wieder genauso eingetaucht, wie beim ersten mal, wurde weggerissen. Ich weiß nicht, ob du bisschen Süße rausgenommen hast, denke aber schon. Vom Gefühl her ist die ganze Geschichte jetzt dunkler, stimmiger und es sind die Dinge, die du über die Liebe sagst, die mich echt staunen lassen. Vertrau da bitte deinem Instinkt, deinem Gefühl, deinen Fertigkeiten. Bei mir kommt das alles 100% an, ich finde den Text großartig, ich kann das jetzt alles vollkommen nachvollziehen und ich finde, es ist nicht ein Text über diese beiden Figuren, sondern ein Text über das Wesen der Liebe. Ich hab Herzklopfen bekommen beim Lesen. Natürlich sind es bestimmte Erfahrungen, die man gemacht haben muss, damit der Text einen trifft, aber so ist es doch bei jedem Text. Diese Veränderungen beim Partner, die vielleicht bloß wie Veränderungen wirken, weil die Verliebtheit, diese Droge langsam entzogen wird dem Gehirn, weil man zu sich kommt, boah, du hast es einfach voll drauf, mir zu erzählen, wie sich was anfühlt und warum. Wirklich: Für mich hast du ein ganz außergewöhnliches Talent. Ich hoffe, du kannst dich echt auf diesem Niveau halten und einpendeln. Es ist jetzt eben genau die richtige Mischung: Süß, wie die Verliebtheit, ja das ist am Anfang im Text spürbar, aber für mich überhaupt nicht zu süß, glaube aber auch, du hast einiges geändert. Dann dieser schale Nachgeschmack, der bleibt, wenn man das letzte Stück Schokolade gegessen hat und am Ende auch wirklich dieses Traurige, diese Sehnsucht nach dieser Schokolade, aber es gibt keine Schokolaade mehr, Schokolde wurde abgeschafft, ja.

Zum Ende: Es ist ja nicht nur das Ende, die ganze Vorbereitung auf das Ende, eigentlich ist es ein absolut anderer Text geworden und ich bin begeistert. Ganz tolles Ende, ganz krasse Verbesserungen eines Textes, der für mich eh schon sehr weit oben war. Also ich empfehle den, wenns die Funktion wieder gibt. Wirklich großartig, auch weil es jetzt alles greifbar, nachvollziehbar wird. Du gibst das Märchenhafte bisschen auf, ohne es vollkommen zu verlieren, aber so gefällts mir doch viel besser. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, es geht um die Liebe, es geht um das Wesen der Liebe und nicht um Leonie und Theo, das ist schon abgefahren, dass du so was hinbekommst.

Lollek

 

Theo schaute aus dem Fenster und sah, wie sich zwei Vögel in die Tiefe stürzten.

Huch, denk ich zuerst – die alte Fassung noch im Kopf – nun werde die Kunst der Auguren gepflegt mit einer Vorschau im Vogelflug,

lieber Markus,

und zum Glück nicht an der Leber, bis der Norwegenurlaub und die Tauchermasken eine andere Vorstellung geben

Bevor sie sich die Tauchmasken überzogen und den Schlauch in den Mund steckten, küsste er sie ein letztes Mal

Aber schimmert nicht im Namen des nordischen Urlaubsortes noch genug Antike und gar Weltliteratur durch: Circe, welche die Kameraden des ersten Roadmovies auf IHRER Insel in Schweine verwandelte, während auf dem fernen Ithaka die Freier um Penelope sich wenig standesgemäß und auch mal wie die Säue verhielten. Nun ist’s aber mit der Antipodie Büchners Komödie vorbei und wendet sich dennoch der Tragödie des Lenz zu, in der Büchner seine Poetik darstellt, indem er allem romantischen Firlefanz absagt und die Wirklichkeit darstellen will – kurz: das Sichtbare, die Oberfläche (er ist im Danton dann quasi ein Vorläufer Karl Kraus', der ja durch Ausschlachtung und Zitieren von Dokumenten die monumentalen letzten Tage der Menschheit schafft). Und soviel – ohne den direkten Vergleich der zwei Fassungen, die ich gelesen hab, beide gefallen mir (was heißt: Beide aufbewahren!) und Jan hat ja schon Wesentliches gesagt. Denn zwo Weisheiten werden hier umgesetzt: Die erste Liebe mag nicht für die Ewigkeit halten, aber erst recht nicht die große Liebe, deren Scheitern in der langen Dauer eines Lebens man eigentlich nur durch Liebe bis in den Tod umgehen kann (eine Liebe über den Tod wäre dann mit dem (Aber?)Glauben eines ewigen Lebens verbunden). Zur Identitätsproblematik, die darinnen noch mehr aufscheint als in der älteren Fassung, kann ich noch gar nix sagen.

Seine Tränen waren unsichtbar geworden, aber sie waren da und sie tropften auf Leonies eingefallene Wangen, wenn er über ihr lehnte und überlegte, ob er ihr einen Kuss geben sollte, sich aber dann doch abwand, weil er sie nicht ohne ihren Willen küssen wollte, weil ein Kuss etwas war, was man nicht alleine schaffen konnte.
Hier wäre freilich noch auf die Verwechselung von winden (wand/gewunden) und wenden (wandt/wendete) hinzuweisen. Aber kurz darauf hätt’ ich denn doch noch eine Anmerkung, wenn es heißt
So ließ er sich zurück in seinen Stuhl fallen und wischte ihr die unsichtbaren Tränen aus dem Gesicht, berührte ihre Hände, die ihm tödlich schienen, in Wirklichkeit aber immer voll Zärtlichkeit und Liebe gewesen waren.
Mein Deutschlehrer an der Realschule bemerkte immer, dass nur die Sonne scheine und selbst der Mond sich sein Licht leihen müsse und darum auf die Verwendung mit einer Infinitivkonstruktion zu verbinden sei. Aber Hände scheinen nun mal noch wenig zu scheinen, aber vor allem durch den Zusatz
…, berührte ihre Hände, die ihm tödlich [zu sein] schienen, …
den Gegensatz von Sein und Schein aufblitzen lässt.

So viel oder so wenig für heute und tschüss/tschüüs/tschö wie man in den drei Zonen des Ruhrpotts so sacht ...

Friedel


PS
Jetzt hab ich doch aus den zwölf Seiten einen Schnitzer nicht notiert, nämlich zu Theos "eigenem" Büro. Ich erinner mich an "eigens" ... aber ich bin guter Dinge, dass es gefunden wird ...

 

Lieber Markus,

jetzt kommt nur Lob. Ich entschuldige mich, aber ich habe keinen Bock hier was zu suchen, zu fitzeln oder über irgendeine Formulierung auch nur ansatzweise nachzudenken. Ich nehme das Paket, wie es ist und ich will es behalten und nicht mehr hergeben. Das ist für mich auf jeden Fall die Geschichte 2013 in der Rubrik. Okay, die wurden gerade aufgehoben, dann ist es für mich halt die Geschichten 2013 zum Thema Liebe :). Ich habe nur die jetzige Version gelesen und hänge allgemein furchtbar hinter den Texten her, die ich alle noch lesen und kommentieren will, aber die Tage haben einfach zu wenige Stunden. Immerhin habe ich es heute geschafft, diesen Text zu lesen. Und es war mir ein Vergnügen. Ich versteh Lollek total, mit allem was er sagt. Ich will den Text jetzt nicht zerreden, was mir leid für Dich tut, wenn ich da nicht genauer drauf eingehe, aber er hat so was Ganzes/Rundes/in sich geschlossenes, was ich mir nicht kaputt machen will. Da musste jetzt durch. Die beiden sind toll, da sind schlaue Sachen drin, die Sprache ist gut, da steckt überall so viel Liebe drin. In halt so vielerlei Hinsichten.

Theos Liebe zu Leonie war das einzig Unlogische in seinem Leben.

Ab hier hatte mich der Text :).

Sie standen in der Stille und schauten sich an. Wie zwei Fragezeichen, denen man den Punkt weggezogen hatte.

Schön!

Theo hatte Leonie nicht nach ihrer Nummer gefragt und so konnten sie nicht miteinander über die nächste und übernächste, die danachnächste und daraufnächste Begegnung sprechen.

sprachlich wirklich schön gelöst

„Ich habe übrigens dein Aktbild verkauft“, sagte Leonie.
Theo biss auf den Stift, auf den er zuvor geknabbert hatte.
„An wen?“
„An meine Großmutter. Die hat mich neulich besucht und war ganz begeistert gewesen von dem Bild.“

Hehe. Gut das der Text auch so Stellen hat.

Auch Monate später waren die Gefühle nicht weg. Es waren andere, aber es waren Gefühle. „Ich habe Gefühle“, sagte Theo, als handle es sich um eine ansteckende Krankheit.

So viele schöne Sätze. Ich such hier wirklich nur Stellvertreter raus.

"Wir hören Musik. Leise, so dass wir nicht aufwachen, wenn wir schlafen, aber so, dass wir gemeinsam in einen Schlaf schlüpfen können. Wir liegen ganz nah aneinander und du versuchst im Traum, mich zu finden, und ich dich, und wenn wir uns gefunden haben, träumen wir miteinander.“
„Können wir vorher miteinander schlafen?“, fragte er.

Ich mag die beiden. Die sind wie Puzzleteile aus verschiedenen Bildern, aber egal an welche Seite man die zusammenpappt, es passt irgendwie. Bis auf die Sache mit dem Tod natürlich, obwohl, wenn ich so ganz aufs Ende schaue, dann ja doch auch wieder.

Im Laufe der Zeit nahmen sie seine Erzählungen als eine Art literarisches Vorspiel, und Leonie fand sogar großes Gefallen daran. Sie hingegen verschwieg ihre Träume oder log sie langweilig, so dass Theo jegliches Interesse an ihrer Schlafwelt verloren hatte.

Diese Sehnsucht gefiel ihm, weil es ein Gefühl war, das er noch nie zuvor gefühlt hatte, und weil er wusste, dass dieses seltsam schöne Gefühl bloß ein Nebengefühl war. Eine Nebenwirkung der Verwirrung zu Leonie.

Ach ...

Also, ich könnte hier ewig viel zitieren, das ist echt nur eine Mini-mini-Auswahl. Und jetzt muss ich schlafen gehen.

Sehr gern gelesen, Fliege

 
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Wahnsinn,

lollek,

dein Kommentar hat mich echt umgehauen, was du da sagst über mich und meine Zeilen ließ mich echt glückstanzen! Auch dieser Schokoladenvergleich, der mir sehr gefallen hat; und es stimmt, die Schokolade ist nicht mehr so süß wie bei der Ursprungsfassung, wobei ich nicht Süßes gestrichen, sondern dunkle Elemente dazwischen geschoben habe, als Gegenpol, wie Quinn es mir empfohlen hat. Mir gefällt es so jetzt auch besser, sie schmeißt die Blumen weg, beißt ihm die Lippen blutig, usw.

Ich frage mich: Wie würdige ich einen derartigen Kommentar, vielleicht würde ein nacktes, tiefehrliches "Dankeschön" genügen, aber ich möchte schon auf die einzelnen Dinge eingehen, die du mir geschrieben hast.

Dein erster Kommentar war übrigens ein starker Ansporn für mich, das Ende zu suchen, was die Geschichte schon immer abschließen sollte. Du hast sehr begeistert kommentiert, den Empfehlungstext im Kopf, schon während dem Lesen, und dann die große, ja, unerwartete Enttäuschung. Hab mich da sehr schlecht gefühlt und dann habe ich etwas umgeschrieben und etwas anderes und dann war das Sterben Leonies kein Moment, sondern eine Zeitspanne und auch wenn ich persönlich diesen Norwegenteil immer noch ein bisschen zu aufgesteckt empfinde, habe ich dann auch in den ersten Teil hinein geschrieben, um die beiden Teile aneinander zu fesseln, Anfang und Ende neu zu verwirren. Du hast geschrieben, setz dich noch einmal ran, das Ende ist nicht gut genug für die Geschichte, und du darfst nie vergessen, dass du hier im Forum eine Art Vorbildcharakter für mich hast.

Es sind die Dinge, die du über die Liebe sagst, die mich echt staunen lassen.
Hammer!

Vertrau da bitte deinem Instinkt, deinem Gefühl, deinen Fertigkeiten.
Ich versuche es, aber da schwingt immer das Gefühl mit, das alles nur zufällig geschafft zu, das nicht wieder hinzubekommen. Aber die Angst legt sich langsam, sehr langsam.

Bei mir kommt das alles 100% an
Ich muss die einzelnen Sätze schon zerlegen, und ich hoffe, ich zerrede dieses Lob nicht, aber ich teile einfach meine Gedanken, die ich beim Lesen deines Kommentars hatte, mit dir, weil tatsächlich jeder Satz eine Fülle davon in mir hervorgerufen hat.

ich kann das jetzt alles vollkommen nachvollziehen
Das war mir sehr wichtig, das war ja auch so der größte Kritikpunkt an der alten Version, dass Leonie einfach tot sein will und ihn umbringt. Einen Satz hab ich ja - leicht abgewandelt - aus deinem ersten Kommentar entnommen: "Ich dachte, wir lieben uns, um zusammen zu leben, nicht, um zusammen zu sterben."

Ich hab Herzklopfen bekommen beim Lesen.
Krass, ein paar Freundinnen habe ich zum Weinen gebracht, aber dafür ist das Ende verantwortlich, ich denke deine Reaktion ist durch das ganze Setting bedingt gewesen.

Natürlich sind es bestimmte Erfahrungen, die man gemacht haben muss, damit der Text einen trifft, aber so ist es doch bei jedem Text.
Ja, und du hast mir ja auch einmal geschrieben, dass man Phasen im Leben hat, in denen man nicht schreibt, sondern erlebt, worüber man dann schreiben kann. Und im letzten Jahr habe ich viel über Liebe gelernt. Wenn man über Liebe schreiben will, muss man über Liebe lesen, man muss Liebe sehen, auch im Alltag, vielleicht selbst lieben. Irgendein kluger Kopf, mir fällt es gerade nicht ein, hat einmal gesagt: Ich liebe nicht, aber ich kenne das Gefühl.

boah, du hast es einfach voll drauf, mir zu erzählen, wie sich was anfühlt und warum. Wirklich: Für mich hast du ein ganz außergewöhnliches Talent.
Wenn ich kein Gegner der Sprachlosigkeit wäre, würde ich jetzt schreiben: Ich bin sprachlos. Und weißt du was? Ich sage es trotzdem: Ich bin sprachlos.

Es ist ja nicht nur das Ende, die ganze Vorbereitung auf das Ende, eigentlich ist es ein absolut anderer Text geworden und ich bin begeistert. Ganz tolles Ende, ganz krasse Verbesserungen eines Textes, der für mich eh schon sehr weit oben war.
Das ist auch der erste Text, den ich derart umfangreich überarbeitet habe, aber man muss dann echt ein Ende streichen, das man eigentlich mochte - und wenn man das Ende noch einmal neu schreibt, nach einer Verzögerung und Input von außen, dann versteht man seine Figuren auch besser, das große Ganze ist nicht klar, aber klarer und dann kann man das auch runder abschließen am Ende.

Also ich empfehle den, wenns die Funktion wieder gibt.
Das freut mich sehr!!!

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, es geht um die Liebe, es geht um das Wesen der Liebe und nicht um Leonie und Theo, das ist schon abgefahren, dass du so was hinbekommst.
Das ist echt ein krasses Lob, was du mir da unter die Geschichte geklebt hast, und ich habe es - viele werden den Kopf schütteln, aber das ist meinem Herzenslächeln egal - bestimmt an die 20x gelesen, und dabei wird es nicht bleiben. So schön und dicht formuliert alles, lollek, du hast mir damit eine gewaltige Freude bereitet!

Jetzt ist meine Antwort doch pathetischer geworden, als sie ursprünglich angedacht war. Ich dachte, nach zwei Tagen, viel Alkohol und zu später Stunde könnte ich das etwas zügeln, aber nein.

VIELEN DANK FÜR DEINEN KOMMENTAR!

Beste Grüße
markus.

***

An Friedrichard,
und die Lieblingsfliege,

ich antworte euch bald, hab mich über eure Kommentare gefreut, hast wieder einiges vergleichwechselt, Friedel, wenigstens drei Facetten der Weltliteratur in zwei Absätzen, und Fliege, es sei dir verziehen, wofür du dich unnötig vorher entschuldigst, dein Kommentar ist mein Gutes-Nacht-Grinsen!

Beste Grüße
markus.

 

Hey,
ich mag's immer noch nicht, ich kann's nicht ändern.

Es gibt zwei Filme mit di Caprio "Inception" und "Shutter Island", ich glaub, die kamen nacheinander raus und beide haben eine Liebe im Gehen - eine tragische Liebe, die in Versatzstücken erinnert wird.
Beide Filme find ich in diesen Szenen am besten, wenn ich im Halbschlaf bin und so eine Traumlogik gelten lasse.

Ich find bei der Geschichte hier ist es ähnlich, man kriegt da, wenn sie sich entschlossen hat, ihn umzubringen oder das alles, diesen komischen Vibe. Das hätte mir als Kernthema einer Geschichte gefallen - da hätte ich aber die ganze Einleitung nicht in der Länge gebraucht, so find ich das in den Proportionen unklar.

Ich bin einfach nicht die Zielgruppe für den Text, schön, dass du so viel Lob dafür bekommst, ganz ehrlich.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedel,

du siehst die Vögel, die Theo gar nicht sehen will, und es sind so kleine Details, die an einem vorbeifallen, aber auch alles entscheiden können, manche nehmen es als literarisch hochwertig, so etwas dazwischen zu schreiben, andere als oberflächlich und billig, du bewertest in deinen Kommentaren eigentlich kaum noch, wenn ich deine Kommentare lese, lese ich meine Geschichten, aber mit anderen Augen, als hätte ich mehr gelesen und irgendwie komme ich mir dann vor, als hätte ich bloß kopiert, weil das aus dem und dies aus jenem, weil alles eine Anspielung auf irgendetwas sein könnte, und das wird jetzt auch ein bisschen offtopic, aber ich denke, der Gedanke, die gesamte Weltliteratur in einem Text zusammenzufassen, wie die gesamte Physik in eine Formel, ist so ein kleiner (nahezu unendlich großer) Traum von dir.

Tatsächlich habe ich bei Kirkenes nicht an die Circe gedacht, auch sehe ich keine Säue und überhaupt keinen Zusammenhang, die anderen Vergleiche verstehe ich auch nicht ganz, da blätterst du mir zu schnell durch die Weltliteratur, aber das ist auch gar nicht so wichtig. Die Texte haben dir gefallen, du stimmst Jan zu in einigen wesentlichen Punkten und schreibst selbst:

Die erste Liebe mag nicht für die Ewigkeit halten, aber erst recht nicht die große Liebe, deren Scheitern in der langen Dauer eines Lebens man eigentlich nur durch Liebe bis in den Tod umgehen kann
Das hast du schön gesagt und diese verquere Denkweise führt auch zu Leonies Gedanken und obwohl der total widersinnig ist, liebäugt Theo immer mehr mit diesem Gedanken. Die zitierte Stelle mochte ich sehr an deinem Kommentar.

Danke auch für deine Hinweise, ich bin glücklich, dass du nicht mehr Fehlerchen gefunden hast, es scheint (ganz klar und sonnig), dass mir der ziemlich rein geglückt ist, und mit so viel Glück schließe ich auch diese Antwort.

Vielen Dank für deine Vielfachbeschäftigung mit dem Text, und dass "Verwirrungen" jetzt irgendwo bei dir schlummert, um vielleicht wieder gelesen zu werden, oder eben nur zu schlummern.

Beste Grüße
markus.

***

Liebe Fliege,

manchmal ist es gar nicht so schlecht, einen Text erst dann zu lesen, wenn eine Überarbeitung stattgefunden hat. So durftest du das Gefühl der Nachvollziehbarkeit und des Abgeschlossenseins genießen, was der ersten Fassung beinah gefehlt hat. Und du musst dich für nichts entschuldigen! Für gar nichts!

Ich nehme das Paket, wie es ist und ich will es behalten und nicht mehr hergeben. Das ist für mich auf jeden Fall die Geschichte 2013 in der Rubrik. Okay, die wurden gerade aufgehoben, dann ist es für mich halt die Geschichten 2013 zum Thema Liebe
Vielen Dank, das ist auch ein heftiges Kompliment, was du mir da machst, bedeutet mir echt viel und wenn du dann einerseits nichts zerreden willst (was ich verstehen kann und auch irgendwie gut und nachvollziehbar finde), stimmst du lollek zu in den Dingen, die er sagt und das zeigt mir ja, was Ursache für dein Gefallen sein könnte.

Dein Kommentar war echt schön zu lesen, du bist da unmittelbar vor mir gesessen in meinem Kopf und ich wusste gar nicht, was ich tun sollte:

Die beiden sind toll, da sind schlaue Sachen drin, die Sprache ist gut, da steckt überall so viel Liebe drin. In halt so vielerlei Hinsichten.
Vielen Dank für dieses Fazit, auch für deine Mini-Mini-Auswahl an schönen Sätzen, als du den ersten zitiert und gesagt hast "ab da hatte mich der Text" musste ich schmunzeln. Auch, dass du erkennst, dass er zwar Gefahr läuft, sehr eindimensional zu werden, und auch Großteils ist, dass da andere Stellen drin sind, das mit der Oma und dem Nacktbild.

Eine Stelle fand ich herrlich in deinem Kommentar:

Ich mag die beiden. Die sind wie Puzzleteile aus verschiedenen Bildern, aber egal an welche Seite man die zusammenpappt, es passt irgendwie. Bis auf die Sache mit dem Tod natürlich, obwohl, wenn ich so ganz aufs Ende schaue, dann ja doch auch wieder.
Das ist wirklich wunderbar formuliert, da würde ich nicken.

Vielen lieben Dank für dein Lob, so ganz ohne Nebenwirkungen, etwas ungewohnt, aber sehr schön jedenfalls!

Liebe Grüße
markus.

***

Hallo Quinn,

es freut mich, dass du dir den Text noch einmal angeschaut hast, dass er dir immer noch nicht gefällt, ist freilich schade, aber wundern tut es mich nicht gerade. Du drehst dich ja nicht wie die Fahne im Wind, vor allem wenn es der gleiche Wind ist, der weht.

eine tragische Liebe, die in Versatzstücken erinnert wird.
So schön formuliert habe ich die Liebesepisoden der beiden Filme noch nicht gehört. Ich sehe auch jetzt erst, dass es tatsächlich so ist, dass beide Filme die mörderische Seite der Liebe beleuchten. In INCEPTION pflanzt er ihr einen Gedanken ein, der sie in den Selbstmord treibt, (oder ins wahre (wache) Leben zurück fallen lässt), und bei SHUTTER ISLAND ist's der Kinds- und Feuermord, alles durch Liebe motiviert, und es geht auch aus den Statistiken hervor, gemordet wird hier im Lande nicht aus Spaß am Morden oder aus Hass, natürlich auch, aber die meisten sterben wegen einer verletzten Liebe oder weil sich die Liebe in etwas anderes, etwas Gefährliches verwandelt hat. Du duldest so etwas nur, wenn deine Gedanken durch nicht allzu wache Augen blicken, schreibst du, und ich kann das auch verstehen, vor allem kann ich diese Kritik nachvollziehen:

Das hätte mir als Kernthema einer Geschichte gefallen - da hätte ich aber die ganze Einleitung nicht in der Länge gebraucht, so find ich das in den Proportionen unklar.
Du schreibst, es hätte die Einleitung nicht gebraucht, ich finde, man hätte das Ende länger machen müssen, noch mehr dehnen, wobei es kein Blähen ist, sondern ein Nachgeben. Die Geschichte ist ja schon eingezwängt in einen viel zu kleinen Raum, aber ein bisschen nachgeben noch. Es stimmt, die Proportionen sind nicht klar, aber ich verstehe es noch nicht ganz, und das liegt nicht an dir, sondern noch an meinen Unfähigkeiten, kritischer an meine eigenen Texte zu gehen. Ich kann jetzt gar nicht viel dazu sagen, weil ich nicht wie ein trotziges Kind meinen Text verteidigen möchte, sondern dazulernen und ich glaube, ich muss diese Kritik erst sacken lassen und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal lesen. Wenn ich deine Kritik richtig lese, ist dir meine Erzählung zu unentschlossen, am Anfang das Süße ohne großes Gegengewicht, am Ende diese Dramatik, aber beide Teile dürfen nicht das erzählen, was sie nur einzeln könnten, irgendwie so.

Vielen Dank jedenfalls für deinen erneuten Blick auf meinen Text. Hat mir viel bedeutet, dass du da noch einmal darüber geguckt hast!

schön, dass du so viel Lob dafür bekommst, ganz ehrlich.
Hat mich gefreut, dass du das geschrieben hast!

Beste Grüße
markus.

 

Hallo M. Glass,

ich habe mich beim Lesen total in deiner Geschichte verloren. Deinen Schreibstil finde ich toll, aber darüber hinaus fand ich auch die beiden Protagonisten einfach genial gezeichnet. Besonders gefallen hat mir da z. B. die Prüfungsszene bzw. die Beschreibung von Theo. Das ist ganz große Wortmalerei, finde ich.
Da könnte ich jetzt ganz viele Beispiele finden, ich mag z. B. auch die Szene, als sie zum ersten Mal allein in der Wohnung sind und sie das Bild von ihm malt.

Was für mich irgendwie nicht so richtig nachvollziehbar wurde, war ihre Todessehnsucht. Schon das Bild kam für mich etwas zu plötzlich und seine Reaktion darauf erschien mir zu schwach. Er will das Bild vernichten, um es auf der Welt zu schaffen. Aber Leonie sagt ja auch selbst, dass das nichts ändern wird und das müsste auch Theo kapieren. Mir fehlt, dass er irgendwie versucht ... sie zu verstehen bzw. ihr zu helfen.

Insofern kam mir dann das Ende einfach zu plötzlich bzw. ich fand es zu wenig nachvollziehbar und da hat deine Geschichte dann doch stark verloren.

Das ist meinerseits jetzt schon eine Kritik auf einem sehr hohem Niveau! Deine Geschichte gehört sicherlich zu den Besten, die ich auf dieser Seite jemals gelesen habe (auch wenn´s bei mir ja schon ein paar Jahre her ist). Aber gerade, WEIL deine Geschichte so toll ist, finde ich es umso bedauerlicher, dass dieses Detail aus meiner Sicht noch nicht so ganz stimmt.

In jedem Fall: Sehr gerne gelesen.

Viele Grüße
die Bella

 

Hastu,

lieber Markus,

der Redaktion des Zeitmagazins Deine letzten Titel z. V. gestellt mit dem Auftrag festzustellen, was denn „Ihre“ Wahrheit über Liebe sei? Mit der heutigen Ausgabe hastu 44 ½ Antworten erhalten (Nr. 52, 19.12.2013, S. 14 - 44)! Am witzigsten (und knappsten) Anke Engelke: „Nicht an sich denken, das macht ja der andere schon.“ (Antwort 6, S.21; erinnert mich ans Schild für den lieben Besuch überm Sofa im Esszimmer meiner ersten Haushälfte: Sprechen Sie nicht über sich, das tun schon wir, wenn Sie weg sind!)
Andreas Marneros (Psychiater) beantwortet die Frage, ob man aus Liebe töten könne mit „Ja, natürlich. Die Mehrzahl der Tötungen gelten dem Intimpartner.“ Der Gründe seien viele, „aber fast alle Liebesmörder töten, weil ihr Selbstbild in Gefahr ist. Je wichtiger ein Mensch für mich ist, desto labiler bin ich, wenn ich ihn verliere. […]" Und dann kommt selbst Caroline Musselwhite dran:"Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner[!] Liebe“, was auch für den Mutter-Kind-Mord zähle: Frau wolle nicht das Kind allein lassen (Nr. 31, S. 35/37). Die überraschendste Antwort kommt vom Jesuiten und Philosphiepref. Michael Bordt: „Machen wir uns doch nichts vor: Wer liebt, will Macht. […]“, was dann auch begründet wird. (Nr. 34, S. 40). Die ehrlichste Antwort gibt Axel Prahl: „Liebe ist leider eines der am meisten missbrauchten Wörter unserer Zeit geworden. […]“ (Nr. 41, S.43)

Unbedingt lesen!, meint der

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bella,

verloren hast du dich in meiner Erzählung, was mich freut, aber am Ende hast du dich verloren gefühlt, was mich nicht freut, sind es doch Rudimente der ersten Fassung, die dieses Gefühl vermutlich verursachen. Ich gehe da mal auf deine einzelnen Kritikpunkte ein:

Was für mich irgendwie nicht so richtig nachvollziehbar wurde, war ihre Todessehnsucht.
Hm, es ist ja keine wirkliche Todessehnsucht im Sinne - schnell ins Verderben, sie möchte zusammen tot sein, zusammen sterben, sie möchte das, was sie haben, nenn' es Liebe oder Verwirrung, die wollte sie nicht ausleben lassen, im Sinne von Verleben. Nur, wenn beide zugleich starben, konnten sie das ins Jenseits nehmen, das ist ja auch ihre Begründung und am Ende ist es eine Missinterpretation von Theo, dass sie unbedingt sterben will, sie malt das Bild, träumt davon, spricht darüber, aber sie hätte nie den letzten Schritt gewagt. Das wird auch deutlich als er von ihren tödlichen Händen spricht, die in Wirklichkeit immer lieb und zärtlich gewesen waren.

Schon das Bild kam für mich etwas zu plötzlich und seine Reaktion darauf erschien mir zu schwach.
Plötzlich in diesem Zusammenhang kann ich nicht genau nachvollziehen. Das Bild wird in einem schnellen Dialog angekündigt, dann wieder angesprochen als sie über Leonies Oma reden, sie versteckt es, es ist die ganze Zeit da, und als Leonie weg ist, er sie vermisst, findet er das Bild, ohne danach zu suchen. Und dann ist es da.

Er will das Bild vernichten, um es auf der Welt zu schaffen. Aber Leonie sagt ja auch selbst, dass das nichts ändern wird und das müsste auch Theo kapieren.
In der Tat sagt sie, dass es nichts ändern wird, es steht allerdings auch dort, dass SIE LÜGT. Es zu zerstören, ist doch nur eine logische Folge seiner Gefühle, er verbrennt das Bild oder lässt es verbrennen, also, den Lebensentwurf, den Leonie für die beiden hatte, den zerstört er und natürlich weiß er, dass das vielleicht weitergeht, deswegen hat er Angst, dass sie ihn vor den Zug schubst oder ihn unter dem Eis ertränkt, insofern verstehe ich nicht ganz, was du meinst.

Mir fehlt, dass er irgendwie versucht ... sie zu verstehen bzw. ihr zu helfen.
Ich möchte die Geschichte echt gerne verbessern, eine Freundin hat mir auch gesagt, dass das mit dem Bild und ihrem Gefühl nicht ganz rund ist, nicht gänzlich nachvollziehbar, dass man da noch einen Schliff bräuchte, aber ich weiß nicht, was ich da ändern soll. Ich könnte die Entwicklung noch mehr herausarbeiten, aber das würde den Text nur noch länger machen. Es stimmt schon, dass ich da schnell nach Norwegen springe und auf einmal ist sie komatös, aber es ist ja auch sprunghaft, ein Sprung daneben, ein Fall, ein Sturz.

Aber du schreibst ja nicht nur gegen die Geschichte, was ja auch immer heißt, dass man für sie schreibt, nein, du schreibst und sprichst auch für sie, auf unmittelbarsten Wegen. Es freut mich sehr, dass dir mein Schreibstil zusagt, einige stoßen sich auch daran, dass dir Leonie und Theo so gut gefallen und du die Geschichte zu den besten zählst, die du hier je gelesen hast, das ist schon ein krasses Lob, das ich beinah gar nicht annehmen kann, aber dann doch irgendwie muss. (Wie Leonie die tausend Euro für das Bild.) Auch schön, dass du zwei Lieblingsszenen herausgepickt hast.

Vielen Dank für deinen schönen Kommentar, und auch deine Kritik an dem Ende, aber wie gesagt, ich bin ein bisschen ratlos, was die Überarbeitung diesbezüglich angeht, es ist ja schon eine Traumlogik, die hier fasst und nicht zuletzt trägt die Erzählung den treffenden Namen: Verwirrungen.

Beste Grüße
markus.

***

hastu?

Hallo Friedel,

hab ich nicht, aber ich fand die Zitate sehr anregend und schön, die du da rausgesucht hast, mal gucken, ob ich zu einem Blatt finde, vielen Dank jedenfalls für die Empfehlung. "Der erweiterte Suizid" - das ist auch ein sehr verrücktes Wort, ein starkes auch.

Axel Prahl schrieb:
„Liebe ist leider eines der am meisten missbrauchten Wörter unserer Zeit geworden. […]“
Das stimmt wohl, auch eines der am meisten missbrauchten Gefühle unserer Zeit, und ich schreibe viel zu viel davon, aber irgendwie muss man sich ja an den "Tatbestand/ Gefühlsbestand" herantasten, der hinter dieser inflationären Fratze steckt.

Beste Grüße
markus.

 

Hallo M. Glass,

vielen Dank für deine Rückmeldung.

Ich muss mich korrigieren. Mit "Plötzlich" meinte ich nicht das Bild selbst, sondern vielmehr das was es zeigt. Das kam für mich so ... unvorbereitet. Ich kann´s einfach nicht besser sagen. Beim ersten Lesen habe ich das irgendwie gar nicht so richtig erfasst. Ich schätze, das klingt bescheuert, weil du das ja alles da hin geschrieben hast, aber ich hab das so gelesen und mir nach dem Absatz gedacht: "Moment, da ist jetzt gerade was wichtiges passiert" und hab es dann sofort im Anschluss nochmal gelesen.

Ich habe auch leider keine wirkliche Idee, wie das anders gemacht werden könnte. Musst du ja auch gar nicht, den meisten anderen Lesern hat das ja auch so ganz gut gefallen bzw. sie haben das auch nicht so empfunden wie ich.

LG
die Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Markus,


als erstes kurz was zum Zitat:

Von einem gewissen Punkt an,
gibt es keine Rückkehr mehr.


Bitte, bitte nimm das Komma weg. Das tut mir weh ;).


Die Geschichte hat ein eigenartiges Timbre. Die Zwei kommen mir vor wie in einer Seifenblase in ihrer speziellen Art, wie die Beziehung gelebt wird, obwohl sie von außen betrachtet wohl nicht auffallen: Beide haben einen Job und sind auch sonst anscheinend nicht aussergewöhnlich.

Bei Leonie dachte ich erst an ein verhuschtes Mädchen mit zartem Gesicht und blassen Kleidern, aber nach einigen Szenen (Kanalisation, Zunge blutig beißen) wurde mir dann klar, dass sie ganz anders drauf war als mein anfängliches Bild von ihr. Theo ist besser zu fassen in seiner analytischen Struktur. (Jetzt weiß ich auch, wieso du bei offshores Maskentext so auf das Abzählbare eingeschossen bist, nachdem du dich hier so intensiv mit einem Zahlenfreund beschäftigt hast).

Leonie zelebriert mit Theo eine Hass-Liebe. Das Bedürfnis, mit ihm zusammen zu sein, muss für sie fremdgesteuert erscheinen, denn es gibt vieles, was sie an ihm nicht mag - beim Bart angefangen, bei seiner krankhaften Zählerei aufgehört.


„Es hat, glaube ich, mit Gefühlen zu tun.“
„Gefühle? Ich erkenne Sie gar nicht wieder, Herr Liebknecht! Gefühle sind unberechenbar, da tasten Sie im Dunklen.“
Eine sehr passende Antwort für einen Mathematiker.

Das Bett betrachtete er mit einem verwandten Gedanken. Hatte er es nie vermisst, dass jemand bei ihm schlief, weil das Bett gar nicht für zwei gemacht war, weil dieses Bett das Bett eines Einsamen war?
auf das eine Bett könnte man ja zugunsten eines es verzichten, dann wäre es immer noch dreimal in zwei Sätzen.

Ihm war, als hätte jemand einen Fremdkörper in das Zahnrädchenwerk seiner Gedanken geschoben.
sehr schön

Einige Tage später begegneten sich Leonie und Theo in einer Einkaufsstraße. Sie brauchte mehr von der grünen Ölfarbe, die sie so verschwenderisch in ihre Bilder kleckerte; er wollte die Solarfunktion seines Taschenrechners reparieren lassen.
naja, jeder braucht was für seine Arbeit. Aber mal ehrlich: die Solarfunktion reparieren lassen? Ich glaube, bevor da was kaputt geht, muss viel anderes passieren. Wieso nicht einfach einen neuen kaufen, weil der alte kaputt ging? Dann muss ich mir keine Gedanken über dieses Modul machen und mir die Frage stellen, ob das überhaupt kaputt gehen kann und ob das zu reparieren ist oder wirtschaftlicher Totalschaden wird.


Sie standen in der Stille und schauten sich an. Wie zwei Fragezeichen, denen man den Punkt weggezogen hatte.
skurril, aber das Bild funktioniert.

Sie fragte ihn und er sagte, er könne es sich ja mal ansehen. So kam es, dass er wenige Augenblicke später, bis auf einen kaputten Taschenrechner unbekleidet, in ihrer Wohnung stand.

Hier hatte ich ein massives Problem und es ist für mich auch die Stelle, die sich mir im Nachhinein als verbesserungswürdigste aufdrängte. Ein paar Zeilen zuvor wird eine fast greifbare Stille ausgebreitet, die episch anmutet. Und dann stolpert man wortwörtlich von einem Satz zum anderen von der Straße zum nackten Theo. Beim ersten Mal lesen hatte ich innerliches "Hä?" und kam mir als Leser überrumpelt vor. Das wird hier so erklärt, als würde Leonie Theo bitten, mal kurz eine Kiste Sprudel in den dritten Stock zu tragen und er gerne dazu bereit wäre. Nun kommt der schüchterne Theo mit seinen jungfräulichen 27 von einer Minute zur anderen dazu, als Nacktmodell zu posen, nee, das war für mich zu schnell (wenige Augenblicke später!).

Mit schnellem Pinsel übersetzte sie Theo in etwas Zweidimensionales. Sie kritzelte seine breiten Schultern und das bisschen Bauch, den aus dem Bauch fallenden Nabel, die Schamhärchen und sein schüchtern verschrumpeltes Geschlecht, die Augen, die grün leuchteten, als hätte er sie zuvor in grüne Farbe getunkt, nur beim Schnurrbart log sie.
zweimal das grün - vielleicht kann man das einmal umschreiben?


„Das ist falsch“, sagte Theo als er ihr Werk beäugte. „Ich dachte, ihr Künstler stilisiert, erhöht, verschönert. Das da ist ja ein Spiegel-Ich. Eines ohne Bart.“ Leonie verstand das als Kompliment und kicherte sich die Wangen rot. Dann stieg sie aus ihrem Kleidchen und stellte sich nackt vor Theo auf, unantastbar, wie eine Plastik im Museum.
Kleidchen, Wangen, kichern - ich seh' da immer ein altes Kinderbuch aus den 50/60er-Jahren vor mir.
Aber jetzt nicht unangenehm, aber es gibt dem schon einen besonderen Touch.


Hastig flüchtete auch er zurück in seine Kleidung, die nach Kreide und frischem Asphalt roch.
Da habe ich kein Bild dazu - Kreide? frischer Asphalt bedeutet für mich Teer, der gerade eben dampfend auf die Straße aufgebracht worden ist. Was soll das in dem Zusammenhang bedeuten?

pappte Leonie ihm einen Kuss ins Gesicht.
schönes Bild

Acht Stockwerke zählte Theo, und auf das geöffnete Fenster, aus dem Leonies suizidale Blume lehnte, konnte er deuten.
suizidal mag sicher gerne witzig klingen, aber ich finde, es passt nicht so recht hier rein.


In Gedanken ergänzte er jeden Namen mit Leonie.
Das darauf folgende Rumprobieren mit Vor-Nachnamen ist eine schöne Idee.a


Als sich die Türe öffnete und Leonie heraus schlüpfte, hatte er einen Grund gefunden, bloß war ihm die Formulierung abhandengekommen. Sie gingen aufeinander zu und trafen sich mitten auf der Straße. Ein Auto hupte. Zweimal. Sie wichen aus und gaben sich die Hand. Weil das komisch war, umarmten sie sich, und beide verliehen der Umarmung einen leichten Druck, aber weil sich das immer noch komisch anfühlte, berührten sich ihre Lippen, zu kurz, um es Kuss nennen zu können. Ein Küsschen.
solche Beschreibungen gibt es mehrere in der gleichen Manier, das gefällt mir, es ist so, wie es ist.


Ein anderes Mal brachte Theo ihr Blumen, aber sie schmiss sie in den Müllcontainer im Innenhof und sagte bloß: „Blumen mag ich nicht.“
Knallhart. Puhh.


.

Doch als an jenem Abend Leonie an seiner Tür klopfte und sie sich schon im Flur nahe kamen, weil es eine Notwendigkeit der Architektur war, genauso wie sie das dünne Bett zwang, eng aneinander zu liegen, und als er ihr die Jeans von den Beinen streifte und ihr den Pullover über den Kopf zog, als er den BH mit ungeschickten Bewegungen öffnete und sie zusammenzuckte, weil der Schnurrbart an ihrer Brust kratzte, als sie sich den Slip auszog und auch er endlich nackt war, als er sich zwischen ihre Beine schob, als er ihre Schamlippen berührte, nicht mit dem Mund oder den Fingern, als sie anfing, sich mit dem Becken gegen ihn zu stemmen, als sie einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, sie leise begann, zu stöhnen, und sich hin und wieder die Schweißperlen von der Brust wischte, die Theo von der Stirn tropften, als sie sich auf dem Studentenbett liebten, war alles sinnvoll und logisch und die Gefühle, die hätten verschwinden sollen, blühten.

Die Bettszenen sind ein(e) Fall(e) für viele Autoren. Du bekommst das sehr gut hin. Da ist nichts Innovatives drin, im Gegenteil, die ziehen sich aus, ein Stück nach dem anderen, sprachlich ist es nun auch nicht herausragend, aber trotzdem passt es, die Stimmung kommt für mich rüber.

Hier breche ich mal ab, Markus. Das strengt mich jetzt um die Uhrzeit doch an. Da ich nicht weiß, ob ich die nächsten Tage direkt am Text weitermachen kann, schicke ich das jetzt mal los.

Was mir jetzt gleich noch wichtig ist zu sagen: Diese Idee mit dem Eintauchen finde ich - sorry - hanebüchen. KEIN Tauchlehrer würde die zwei ohne Erfahrung unter Wasser lassen, das könnte ihn die Lizenz kosten. Von daher finde ich das schade, dass diese Schlüsselszene so an den Haaren herbeigezogen ist, da gäbe es doch auch Situationen, die sich besser in die Geschichte einfügen würden.

Mir gefällt der Text, es gibt viele schöne Stellen; Formulierungen, die sehr bewusst eingesetzt wurden.
Die Personen sind liebevoll gezeichnet und du hast dir viel Mühe gegeben, die Andersartigkeit der Beziehung herauszuarbeiten, das ist dir auch gut gelungen.

Die Todessehnsucht oder dieses Umgehen mit dem Thema Tod nehme ich ohne Hinterfragen zur Kenntnis, da ist jeder Mensch anders gestrickt. Die bedingungslose Liebe, die soweit geht, um bis in den Tod zu folgen - verstehen kann das wohl sowieso nur jemand, der ähnliches mitgemacht hat.
Ich habe die Geschichte in einem Rutsch gelesen, aber sie ist für das, was sie inhaltlich bietet, schon auch grenzwertig lang.

Hier jetzt der Rest:

Leonie wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht, trat sich die Füße blutig in den Scherben, weil sich Theo seit kurzem ständig den Kopf zerbrach. Über sie und sich und über das, was sie waren, wenn sie zusammen waren, und was sie blieben, wenn sie etwas trennte. Wenn Theo von „uns“ sprach, flüchteten ihre Lippen schnell an seine. Sie wollte nicht, dass er ihnen ein Namensschild umhängte, eine Erklärung; wie er alles betitelte und untertitelte, um manchmal das Dahinter oder Darüber zu übersehen. Sie wollte etwas anderes, etwas Verbindendes. Etwas, das sie zusammen verwirrte.
Einerseits hat Leonie die Kraft, Geduld und Liebe, Theo als Person in seinen Eigenarten anzunehmen bzw. sich zu arrangieren. Andererseits zweifelt sie an dem Wie, wie er sie liebt, sie verstehen will. Also von außen betrachtet frage ich mich schon: Wieso ist sie noch mit ihm zusammen? Sie hat doch so ganz bestimmte Visionen, die er scheinbar nicht erfüllen kann.

Leonie ist eine sehr schwierige Person, was diese Beziehung betrifft. Theo dackelt dagegen brav mit ihr durch die Zeit. Er scheint auch leicht autistische Züge an sich zu haben. Wie soll das zusammen etwas werden? Da gibt es eben nur dieses unerklärliche Ding: Liebe. Wenn diese zwei trifft, die von den äußeren Umständen her nicht zusammen passen, kommt so etwas wie diese Geschichte raus.

Wir liegen ganz nah aneinander und du versuchst im Traum, mich zu finden, und ich dich, und wenn wir uns gefunden haben, träumen wir miteinander.“
„Können wir vorher miteinander schlafen?“, fragte er.
Wieder ein schönes Bild, wie der Realist und die Romantikerin ticken.

Die Traumszene mit der Spucke im Kaffee war für mich heftig, weil mich nur schon die Vorstellung richtig würgte, jemandes Spucke trinken zu müssen. Auch wenn es ja nur ein Traum in einer erfundenen Geschichte ist, aber da hast du mich grade am Ekelpunkt erwischt. Wobei ich die Szenerie als solche gut erfunden und geschrieben fand.

Er war aufgewacht und Leonie saß wie ein Mädchen neben ihm, das Geburtstag hatte und wegen der Geschenke früher aufgestanden war als sonst.
sehr schön

Sie hingegen verschwieg ihre Träume oder log sie langweilig, so dass Theo jegliches Interesse an ihrer Schlafwelt verloren hatte.
Warum verschweigt sie sie? Das macht sie mir noch skuriller. Sie war doch diejenige, die mit dem Thema angefangen hatte. Bei Theo beschreibst du, was alles er träumt, bei ihr kneifst du, das finde ich unfair dem Leser gegenüber.

Theo brachte ihr ein Taschentuch, damit sie sich das Blut aus dem Gesicht wischen konnte. „An der Wand stand HAPPY END“, sagte sie. „Wir hatten den gleichen Traum.“

Ja und dann? Nach dieser Szene gibt es einen knallharten Orts- und Zeitenwechsel. Mir wäre eine kleine Reaktion von Theo wichtig gewesen.

Theo hatte inzwischen sein Mathematikstudium abgeschlossen. Er war Mathematiker und wusste nicht, was er damit anfangen sollte.
oweia.


Leonie hatte gespannt zugehört. „Also werden wir nicht zusammen sterben?“ „Eher nicht.“
„Findest du das komisch?“
„Nein. Das ist natürlich.“
„Aber wenn du früher oder später stirbst als ich, sind wir nicht mehr zusammen.“
„Wenn wir zum gleichen Zeitpunkt sterben, sind wir auch nicht mehr zusammen.“
„Ich glaube schon. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.“
„Wieso?“
„Ich glaube, dass es etwas nach dem Tod gibt. Etwas Schönes sogar. Man ist dort bloß am Anfang allein. Die Seele muss von hier nach dort wandern. Aber wenn zwei Seelen im gleichen Moment wandern, ist man zusammen. Dann ist man auch nach dem Tod nicht getrennt.“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Der Tod ist unlogisch, Theo. Genau wie die Liebe.“
Für mich Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.

„Wenn jemand von uns stirbt, bringt sich der andere um. Damit wir im Tod zusammen sein können. Es darf nur wenig Zeit verstreichen, denn wohin die Seelen fliegen, und wie schnell, weiß niemand.“ Theo schluckte. „Vorausgesetzt wir haben keine Kinder“, fügte Leonie hinzu.
„Das ist Wahnsinn!“, sagte Theo.
„Es ist, was es ist“, sagte Leonie.

Ich denke, Leonie hat ein Riesenproblem damit, dass sie mit Theo eigentlich nicht richtig glücklich sein kann, weil vieles bei den Zweien nicht so recht passt. Aber die von ihr nicht beeinflussbare Kraft der Liebe, mit der sie quasi leben muss, lässt sie darauf hoffen, dass es vielleicht im Tode vereint besser werden könnte? Vielleicht ist sie ja auch eine moderne Hexe, dachte ich dann auch noch, denn es ist ja schon schaurig, wenn man sich überlegt, dass Leonie diese Vision schon gleich zu Anfang hatte, als sie das eine Bild malte, was Theo nie sehen durfte.

Sie zogen nicht zusammen, aber er verkaufte sein Bett und schlief immer bei ihr.
Jedesmal, wenn ich den Satz lese, suche ich eine Bedeutung in dem verkauften Bett. Ich meine: Wer macht so was, wenn man seine Wohnung behält, dass man das Bett verkauft?


Diese Sehnsucht gefiel ihm, weil es ein Gefühl war, das er noch nie zuvor gefühlt hatte, und weil er wusste, dass dieses seltsam schöne Gefühl bloß ein Nebengefühl war. Eine Nebenwirkung der Verwirrung zu Leonie.
Warum nennen sie es nicht Liebe?

Die Sonne hatte ihre Abdrücke um Leonies Haut gewickelt
ich mag ganz viele Umschreibungen von dir sehr gerne und empfinde sie als kreativer Umgang mit der Sprache. Aber mit diesem Bild kann ich überhaupt nichts anfangen, das ist nicht stimmig für mich. Die Sonne strahlt ein, arbeitet an der Haut; mit Fläche, die nicht erst aufgebracht werden muss, sondern, die schon besteht. Da stört mich das Wickeln sehr.


„Wann“, sagte Theo, „war unser Happy End?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Leonie. „Können wir bitte über was anderes sprechen? Du hast mich gar nicht gefragt, wie es in Kroatien war!“
„Wie war es in Kroatien?“, fragte er.
„So macht das keinen Spaß“, sagte sie.
„Ich dachte, wir lieben uns, um zusammen zu leben. Nicht, um zusammen zu sterben“, sagte Theo.
hier sind sie soweit auseinander, das wäre ja schon fast ein Grund, die Freundschaft zu kündigen. Und Theo schluckt das einfach alles.


„Kopfüber sagst du“, sagte Theo.
„Ja“, sagte Leonie.
„In wen?“, fragte Theo.
„In dich und in dich und in dich, oder in drei Theos, die dir nicht ähneln. Es ist traurig, dass du nicht du geblieben oder du geworden bist.“
Diese Leonie wird mir immer unsymphatischer.

„Du bist auch nicht du geblieben. Und was du geworden bist, weiß ich nicht“, sagte Theo.
„Findest du das traurig?“
„Nein. Das ist natürlich.“
Und Theo wird erwachsener.

. „Warum besuchst du so oft deine tote Vergangenheit?“, hatte sie ihn gefragt, und er war wütend auf Marie.
wäre ich auch.


Tu es nicht“, sagte Mira am Telefon.
„Was?“, fragte Theo.
„Bring dich nicht um“, sagte sie und legte auf.

Dieser kurze Dialog finde ich zu sehr reingeklebt. Kann Mira in die Zukunft sehen? War das Gespräch länger? Soll damit sein Wille deutlicher herauskommen?

Dann schaute er in das Spiegelbild, an dem sich Leonie verschluckt hatte, und überlegte, ob er sie noch einholen konnte.

Ein sehr gelungenes Ende.

Wie schon angedeutet, gäbe es für mich schon einige Sätze, die man kürzen könnte, ohne wirklich was wegzunehmen. So läppert es ein wenig vor mich hin, aber insgesamt eine tolle Geschichte!


Liebe Grüße
bernadette

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo bernadette,

das Komma hab ich gleich entfernt, frag mich nicht, wieso es überhaupt dort war. Darf man das auf Kafka schieben? Ich denke nicht. Ja, da hast du mir einen sehr reichen und ausführlichen Kommentar geschrieben, ich möchte auf ganz viele Sachen eingehen und hab nebenbei meine Geschichte offen, um ab und zu etwas zu ändern. Über die vielen schönen Stellen, die du herausgepickt hast, habe ich mich sehr gefreut, dazu sage ich gar nicht viel, deute das einfach als geschmeichelte Sprachlosigkeit.

Zu deinen Anmerkungen:

Die Geschichte hat ein eigenartiges Timbre. Die Zwei kommen mir vor wie in einer Seifenblase in ihrer speziellen Art, wie die Beziehung gelebt wird, obwohl sie von außen betrachtet wohl nicht auffallen: Beide haben einen Job und sind auch sonst anscheinend nicht aussergewöhnlich.
Aber ich denke, das ist ein Phänomen, das nicht selten ist, aber natürlich nicht gesehen wird. Wenn du das nächste Mal in einem Café sitzt, schau dich einmal um und frage dich, wie viele Paare du als langweilig oder nicht außergewöhnlich einschätzen würdest und es wären fast alle, und dabei steckt hinter jedem Paar vielleicht eine wunderbar verrückte Story!

Bei Leonie dachte ich erst an ein verhuschtes Mädchen mit zartem Gesicht und blassen Kleidern, aber nach einigen Szenen (Kanalisation, Zunge blutig beißen) wurde mir dann klar, dass sie ganz anders drauf war als mein anfängliches Bild von ihr. Theo ist besser zu fassen in seiner analytischen Struktur. (Jetzt weiß ich auch, wieso du bei offshores Maskentext so auf das Abzählbare eingeschossen bist, nachdem du dich hier so intensiv mit einem Zahlenfreund beschäftigt hast).
Witzig, dass du hier das mit einem "anfänglichen Bild" beschreibst, das du hattest, aber dann doch alles ganz anders kam, wie es in der Geschichte ja auch ist. So sieht auch Theo sie. Und ja, offshore hat ein bisschen von Theo abbekommen.

Leonie zelebriert mit Theo eine Hass-Liebe. Das Bedürfnis, mit ihm zusammen zu sein, muss für sie fremdgesteuert erscheinen, denn es gibt vieles, was sie an ihm nicht mag - beim Bart angefangen, bei seiner krankhaften Zählerei aufgehört.
Auch schön gesagt!

auf das eine Bett könnte man ja zugunsten eines es verzichten, dann wäre es immer noch dreimal in zwei Sätzen.
Die Wiederholung ist hier ganz bewusst gemacht, aber es stimmt schon, dieses eine Bett könnte man streichen. Ich sehe, dich hat auch die Tatsache, dass er sein Bett verkauft, verwirrt. Vielleicht findest du in diesem Satz die Antwort.

naja, jeder braucht was für seine Arbeit. Aber mal ehrlich: die Solarfunktion reparieren lassen? Ich glaube, bevor da was kaputt geht, muss viel anderes passieren. Wieso nicht einfach einen neuen kaufen, weil der alte kaputt ging? Dann muss ich mir keine Gedanken über dieses Modul machen und mir die Frage stellen, ob das überhaupt kaputt gehen kann und ob das zu reparieren ist oder wirtschaftlicher Totalschaden wird.
Es ist nämlich so: ich habe einen Freund, dem ist tatsächlich die Solarfunktion kaputt gegangen und er ist ins Geschäft, um es dort reparieren zu lassen, natürlich haben die das nicht reparieren können und wollen, die wollten es ihm auch nicht ersetzen, aber meine Gedanke war hier der, dass Theo glaubt, dass alles, was kaputt ist, repariert werden kann, und weil es so herrlich absurd ist, doch, diese Taschenrechnerrettung kann ich nicht streichen.

skurril, aber das Bild funktioniert.
Freut mich, dass du die Fragezeichen stehen lässt. Was Bilder angeht, hast du echt einen scharfen Blick und wenn das Bild schief hängt, zerschneidet dein Blick es mit hoher Sicherheit. Das mag ich sehr an deinen Kommentaren.

Hier hatte ich ein massives Problem und es ist für mich auch die Stelle, die sich mir im Nachhinein als verbesserungswürdigste aufdrängte. Ein paar Zeilen zuvor wird eine fast greifbare Stille ausgebreitet, die episch anmutet. Und dann stolpert man wortwörtlich von einem Satz zum anderen von der Straße zum nackten Theo. Beim ersten Mal lesen hatte ich innerliches "Hä?" und kam mir als Leser überrumpelt vor. Das wird hier so erklärt, als würde Leonie Theo bitten, mal kurz eine Kiste Sprudel in den dritten Stock zu tragen und er gerne dazu bereit wäre. Nun kommt der schüchterne Theo mit seinen jungfräulichen 27 von einer Minute zur anderen dazu, als Nacktmodell zu posen, nee, das war für mich zu schnell (wenige Augenblicke später!).
Ich kann deine Kritik hier verstehen und gucke gerade, wie ich das deutlicher machen kann. Es gibt da ein Missverständnis. Es steht ja da: „Er könne es sich ja mal ansehen.“ Das ist ja auf die Frage, ob er Nacktmodell steht, eine falsche Antwort, außerdem fasst hier schon wieder die Traumlogik, aber ich kann die dem Leser so früh noch nicht zumuten, das stimmt. Die Stelle werde ich auf jeden Fall noch einmal unter die Lupe (hähä) nehmen. Danke für den Hinweis! (In meinem Kopf passiert folgendes: Beide haben sich schon ein bisschen verschaut ineinander, ja, eigentlich ziemlich gewaltig, und ich weiß nicht, wenn mir so etwas angeboten werden würde von einer Frau, die ich anziehend finde, und die Konsequenz daraus ist, dass ich sie nackt sehen werde, dann würde ich da schon einwilligen. Eigentlich müsste sich der Leser daran stoßen, dass sich Leonie entblößt, aber der nimmt man das ab, weil sie crazy ist, ich verstehe schon, da stimmt etwas nicht ganz.)

zweimal das grün - vielleicht kann man das einmal umschreiben?
Mhm, grün umschreiben … Mal sehen.

Kleidchen, Wangen, kichern - ich seh' da immer ein altes Kinderbuch aus den 50/60er-Jahren vor mir.
Aber jetzt nicht unangenehm, aber es gibt dem schon einen besonderen Touch.
Das ist interessant, aber ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment, jedenfalls nicht als groben Kritikpunkt. Ich mag die alten Worte und Umschreibungen gerne, statt Videothek sage ich gerne Filmkunstverleih, statt Psychologe Seelsorger, ein bisschen hinke ich der Zeit hinterher, aber mir gefällt das einfach. Es heißt ja oft, früher war alles besser, aber manche Dinge sind genauso, sie heißen bloß anders, werden anders gesehen und anders bewertet.

Da habe ich kein Bild dazu - Kreide? frischer Asphalt bedeutet für mich Teer, der gerade eben dampfend auf die Straße aufgebracht worden ist. Was soll das in dem Zusammenhang bedeuten?
Den Geruch von Kreide stelle ich mir so vor, wie wenn man seine Nase in einen trockenen Schwamm steckt, mit der zuvor eine Tafel abgewischt wurde, den frischen Asphalt, ja, dabei habe ich mir zu wenig Gedanken gemacht, dampfen soll es nicht, da muss ich etwas ändern.

suizidal mag sicher gerne witzig klingen, aber ich finde, es passt nicht so recht hier rein.
Hm, meinst du sprachlich? „selbstmörderische“ Blume klingt zu hart, „lebensmüde“ Blume zu tragisch, es ist auch so, dass ich auch seit längerem an einer Geschichte arbeite, die „Suizid einer Blume“ heißt, und die auch irgendwann einmal hier landen wird, und dieser Gedanke spielt da mit rein, warum hier die Blume nicht nur aus dem Fenster lehnt, sondern „suizidal“ aus dem Fenster lehnt, ist dir bestimmt klar, ist ja so eine Ankündigungssache.

Das darauf folgende Rumprobieren mit Vor-Nachnamen ist eine schöne Idee.
Freut mich, dass dir das zusagt. Einer deiner Vorredner wollte die Klingelszene glatt streichen.

solche Beschreibungen gibt es mehrere in der gleichen Manier, das gefällt mir, es ist so, wie es ist.
Danke!

Knallhart. Puhh.
Ich weiß nicht, ob das klar wird, warum sie die Blumen in die Mülltonne schmeißt!? Es hat mit der toten Frau im Blumenfeld zu tun, in dem das Mädchen am Ende steht.

Die Bettszenen sind ein(e) Fall(e) für viele Autoren. Du bekommst das sehr gut hin. Da ist nichts Innovatives drin, im Gegenteil, die ziehen sich aus, ein Stück nach dem anderen, sprachlich ist es nun auch nicht herausragend, aber trotzdem passt es, die Stimmung kommt für mich rüber.
Hehe, das hast du schön erkannt, und gut finde ich es, dass du – jetzt wollte ich schon schreiben, in Stimmung gekommen bist … ich finde das auch nicht immer leicht, finde es aber sehr interessant, wie das von anderen gemeistert wird. Bei Sexszenen ist es wie mit Gewaltszenen – sie wirken sehr schnell billig, das will ich in jedem Fall verhindern.

KEIN Tauchlehrer würde die zwei ohne Erfahrung unter Wasser lassen, das könnte ihn die Lizenz kosten. Von daher finde ich das schade, dass diese Schlüsselszene so an den Haaren herbeigezogen ist, da gäbe es doch auch Situationen, die sich besser in die Geschichte einfügen würden.
Hm, ja, das hat mir auch ein Taucher gesagt und nach Juli Zehs Nullzeit müsste ich das eigentlich wissen, du hast wahrscheinlich auch gemerkt, dass ich dieses Sträuben eingebaut habe, der Tauchlehrer will nicht, andere Teilnehmer schütteln den Kopf, da bin ich etwas verloren, weil der Teil sehr wichtig ist und ich die Situation unter Wasser so gewaltig fand, vielleicht sollte ich ihnen einfach Taucherfahrung hinterher schieben? Zumindest sollte Leonie eine Tauchausbildung haben, sie fährt ja dann auch nach Kroatien, vielleicht war sie dort früher einmal getaucht, und Theo war beim Wehrdienst Taucher oder schummelt sich irgendwie durch, ist zwar nicht die perfekte Lösung, aber dann kann man diese Szene wohl verdauen, was meinst du?

Wieder ein schönes Bild, wie der Realist und die Romantikerin ticken.
:)

Die Traumszene mit der Spucke im Kaffee war für mich heftig, weil mich nur schon die Vorstellung richtig würgte, jemandes Spucke trinken zu müssen. Auch wenn es ja nur ein Traum in einer erfundenen Geschichte ist, aber da hast du mich grade am Ekelpunkt erwischt. Wobei ich die Szenerie als solche gut erfunden und geschrieben fand.
Dazu kann ich nur eines sagen: Pfirsichnektar. Aber es ist gut, dass du noch etwas zu der Traumszene gesagt hast, Quinn hat die ja nicht gefallen, hat da gleich an „Being John Malkovich“ gedacht, dabei ist das ja nur ein Nebeneffekt und die Leonies sehen sich gar nicht alle ähnlich. Es freut mich richtig, dass du dich geekelt hast und den Traum gut findest, und es tut mir leid, keine Spucke in der nächsten Geschichte, versprochen!

Warum verschweigt sie sie? Das macht sie mir noch skuriller. Sie war doch diejenige, die mit dem Thema angefangen hatte. Bei Theo beschreibst du, was alles er träumt, bei ihr kneifst du, das finde ich unfair dem Leser gegenüber.
Skurril soll sie sein, und sie verschweigt ihre Träume so, wie sie das Bild versteckt, sie träumt ständig so Zeugs und sie kann Theo doch nicht erzählen, jo, heute Nacht hab ich dich mit dem Kissen erstickt, auf das ich zuvor einen Kuss gedrückt habe, letzte Woche habe ich dir die Kehle aufgeschnitten, aber keine Angst, es hat nicht geblutet, dein Herz schlug ja für mich, nicht für die Halsschlagader, das kann sie ihm nicht erzählen. Ich frage mich auch, warum du dich unfair behandelt fühlst, ich verrate dann doch, dass sie den Traum, das HAPPY END, auch geträumt hat. Insofern kneife ich nicht vollkommen.

Ja und dann? Nach dieser Szene gibt es einen knallharten Orts- und Zeitenwechsel. Mir wäre eine kleine Reaktion von Theo wichtig gewesen.
Ja, die Reaktion wäre gewiss interessant, ich kann dich da auch verstehen, aber ich weiß nicht, ob das der Geschichte zuträglich wäre, hab mir da auch etwas überlegt, aber wie kann man diese Überrumpelung und Sprachlosigkeit besser ausdrücken als ohne Worte?

oweia.
Da musste ich sehr schmunzeln.

ich mag ganz viele Umschreibungen von dir sehr gerne und empfinde sie als kreativer Umgang mit der Sprache. Aber mit diesem Bild kann ich überhaupt nichts anfangen, das ist nicht stimmig für mich. Die Sonne strahlt ein, arbeitet an der Haut; mit Fläche, die nicht erst aufgebracht werden muss, sondern, die schon besteht. Da stört mich das Wickeln sehr.
Danke für das Lob, das bedeutet mir echt viel, und auch der Hinweis ist mehr als berechtigt. Vorher habe ich geschrieben, dass meine Fragezeichen von deinem scharfen Blick nicht zerrissen wurden, anders hier: Freilich wickelt sich die Sonne nicht um die Haut, du hast recht.

Dieser kurze Dialog finde ich zu sehr reingeklebt. Kann Mira in die Zukunft sehen? War das Gespräch länger? Soll damit sein Wille deutlicher herauskommen?
Vielleicht schreibe ich vorher noch, dass das Telefon läutet. Mira schaut nicht in die Zukunft. In der Szene vorher wird ja beschrieben, dass er alles so macht, als wäre nichts geschehen, dabei ist Leonie gestorben. Einen ähnlichen Gedankengang hat er ja schon einmal gehabt, diese Szene ist analog dazu, oder die böse Fortsetzung, weil seine Befürchtung Wahrheit wird. Und er lebt, als würde Leonie noch leben, und dann ruft Mira an, weil sie als erste erfahren hat, dass Leonie tot ist und sie um das Versprechen weiß und bittet ihn, sich nicht umzubringen. Leonie hat ihr ja das Gegenteil aufgetragen, aber Freunde machen oft – das musste auf Kafka erfahren (?) – das Entgegengesetzte nach dem Tod. Weil Mira das zu ihm sagt, erinnert er sich vielleicht an das Versprechen, vorausgesetzt, er hat es vergessen, aber er weiß ganz bestimmt in den Augenblick, dass Leonie tot ist. Woher hätte er es auch erfahren sollen. Sie liegt im Heim und er ist weder Freund noch regelmäßiger Besucher. Das ist die Todesnachricht. Das habe ich jetzt zu Tode erklärt, aber das wollte ich alles mit diesen drei Zeilen sagen und ich habe gehofft, der Leser liest das alles mit.

Ein sehr gelungenes Ende.
Weil du nicht Satz schreibst, nehme ich an, dass du das ganze Ende meinst, diesen Flashback und das Nocheinmaldurchküssen der eigenartigsten Beziehung, das freut mich wirklich, weil das Ende ja der große Kritikpunkt bei der ersten Fassung war.

Die Todessehnsucht oder dieses Umgehen mit dem Thema Tod nehme ich ohne Hinterfragen zur Kenntnis, da ist jeder Mensch anders gestrickt. Die bedingungslose Liebe, die soweit geht, um bis in den Tod zu folgen - verstehen kann das wohl sowieso nur jemand, der ähnliches mitgemacht hat.
Ich denke, Leonie hat ein Riesenproblem damit, dass sie mit Theo eigentlich nicht richtig glücklich sein kann, weil vieles bei den Zweien nicht so recht passt. Aber die von ihr nicht beeinflussbare Kraft der Liebe, mit der sie quasi leben muss, lässt sie darauf hoffen, dass es vielleicht im Tode vereint besser werden könnte?
Du hast da sehr viele interessante Gedanken in deinem Kommentar und es ist immer wieder ein überwältigendes Erlebnis, selbst nach 20 Kommentaren Neues in seiner Geschichte zu finden bzw. gezeigt zu bekommen. Deine Interpretation gefällt mir außerordentlich gut, deine Leseart hat sich auch, so glaube ich, über Nacht etwas geändert, weil die beiden Zitate aus unterschiedlichen Zeiten stammen und doch anders klingen in ihrer Sicht. Im ersten nickst du noch, Todessehnsucht und Todestriebe – naja, Liebe eben, aber beim zweiten suchst du schon nach Gründen und es ist vermutlich wirklich so, dass man das nicht verstehen kann, sie versteht es ja selbst nicht, und du interpretierst sie als Hexe fast, aber ich sehe in ihr ein hexenhaftes Wesen, das gar nicht schaurig sein will, hätte sie nämlich die Hoffnung, dass sich nach dem Tod etwas ändern würde, hätte sie ihn nicht leben lassen. Das ist halt meine Sicht: Sie passen vielleicht nicht zusammen, sind aber trotzdem miteinander verwirrt, verworren und verbunden, selbst als sie tot ist oder tot weiterlebt im Bett.

Einerseits hat Leonie die Kraft, Geduld und Liebe, Theo als Person in seinen Eigenarten anzunehmen bzw. sich zu arrangieren. Andererseits zweifelt sie an dem Wie, wie er sie liebt, sie verstehen will. Also von außen betrachtet frage ich mich schon: Wieso ist sie noch mit ihm zusammen? Sie hat doch so ganz bestimmte Visionen, die er scheinbar nicht erfüllen kann.

Leonie ist eine sehr schwierige Person, was diese Beziehung betrifft. Theo dackelt dagegen brav mit ihr durch die Zeit. Er scheint auch leicht autistische Züge an sich zu haben. Wie soll das zusammen etwas werden? Da gibt es eben nur dieses unerklärliche Ding: Liebe. Wenn diese zwei trifft, die von den äußeren Umständen her nicht zusammen passen, kommt so etwas wie diese Geschichte raus.

Ich kann eigentlich nur bei allem nicken, autistische Züge trägt er in der Tat, finde ich gut, dass das auch so ankommt, aber es ist halt der klassische Widerspruch: Kunst gegen Mathematik, Gefühl gegen Vernunft, dem ich mich hier bediene, ich habe es schon auch abgewandelt, aber das ist schon eine überholte Sache eigentlich, die ich versuchte habe „einzuholen“, aber ja, Liebe ist die Antwort. Und Verwirrung. Ist’s ein Symptom der Liebe oder die Ursache, das ist auch so eine Frage, die mich hier beschäftigt hat und ich hab mich dabei gefühlt wie ein Huhn im Ei.

Mir gefällt der Text, es gibt viele schöne Stellen; Formulierungen, die sehr bewusst eingesetzt wurden.
Die Personen sind liebevoll gezeichnet und du hast dir viel Mühe gegeben, die Andersartigkeit der Beziehung herauszuarbeiten, das ist dir auch gut gelungen.
Über das habe ich mich sehr gefreut, das ist eine schöne Anerkennung meines Textes! Durch deine Anregungen werde ich die Geschichte vielleicht noch ein bisschen besser machen können. Gewiss ist er „grenzwertig lang“, aber das ist auch meinem Bestreben geschuldet, dass ich immer längere und umfassendere Geschichten schreiben möchte, oft denke ich mir bei Texten, den kannst du nicht länger machen, das ist dann keine Kurzgeschichte mehr, davon will ich ein wenig weg, und vielleicht hätte man das, was ich mit der Geschichte sagen wollte, wirklich in einen kürzeren Text packen können, aber habe ich – zumindest im Augenblick – nicht geschafft. Ich bin ja sogar der Meinung, dass ich die Geschichte noch länger schreiben, noch weiter ausdehnen müsste, hm, kürzen werde ich wohl kaum etwas.

Vielen lieben Dank, bernadette, für deine sehr ausführliche Beschäftigung mit „Verwirrungen“, auch zu später Stunde, verzeih, dass ich erst so spät geantwortet habe, aber da waren viele Dinge in deinem Kommentar, über die ich etwas nachdenken musste, und das zeigt dir auch, dass mir deine Zeilen wieder einmal viel gebracht haben!

Beste Grüße
markus.

 

Hi Markus,


ich muss gleich klarstellen, dass ich nicht davon ausgegangen bin, dass Leonie gestorben ist. Für mein Verständnis lag sie einfach noch im Koma, was ja im übertragenen Sinne für Theo und Mira schon der Tod war:


Sechs Monate lag sie nun schon im Koma..... „Ich habe sie umgebracht“, dachte Theo, und Mira, die hinter ihm stand, sagte mit Tränen in den Augen:
„Du hast sie umgebracht. Du hast sie immer schon umgebracht.“


n der Arbeit bekam er ein eigens Büro mit einem großen, leeren Fleck, den er gerne mit einem Bild von Leonie verscheucht hätte, aber Marie ließ eine Fotografie von sich auf Leinen spannen, und so saß er auf seinem Stuhl und Leonie war tot. Leonie war tot und er scherzte mit einem Geschäftspartner am Telefon über eine Floskel im Kleingedruckten, die der Versicherung endlos Geld einbringen würde. Leonie war gestorben und er lebte weiter, als wäre nichts Sonderbares geschehen.

Diese Szene habe ich so interpretiert, dass nun Marie in sein Leben getreten ist und den Platz auf dem Schreibtisch eingenommen hat und Theo damit ein Zeichen der Kapitulation gesetzt hat, denn dadurch gab er Leonie nach außen hin auf, was aber für mich nicht bedeutet hat, dass Leonies Herz nun aufgehört zu schlagen hat. Das würde auch gar nicht in mein Verständnis von "einholen" passen, denn da wäre ich von einer viel kürzeren Zeit ausgegangen, in der sich Theo entscheiden hätte müssen, ihr zu folgen.
So, wie ich das mit dem Gedanken lese, sie sei wirklich tot und Marie hätte ein Bild aus Leinen machen lassen, was er austauscht - da sprechen wir ja von Tagen oder eher Wochen.

Deswegen hing das Telefonat mit Mira für mich dann so in der Luft (da einen Satz vorher einzufügen brächte also gar nichts).

Die weggeschmissenen Blumen im Mülleimer und das Mädchen im Blumenfeld habe ich nicht zusammenbekommen.

Theo würde ich eine vorherige Taucherfahrung nicht so zutrauen, aber der Leonie wäre so eine Ausbildung zuzutrauen. Richtig passend wäre das, wenn das Thema vorher schon einmal präsent wäre. Du beschreibst eben, dass Leonie nicht nur zum Steinbildhauen nach Kroatien ist, sondern auch noch einen zweiwöchigen Tauchkurs machte, dann passt es sich besser ein.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo bernadette,

vielen Dank für deine Rückmeldung. Ja, das ist ein böses Missverständnis zwischen dir und meinen Zeilen und ich stehe hier mit meinen Achseln, die mir unentschlossen zurückzucken. Es bleibt mir verwehrt, zu sagen, du hast das falsch gelesen, du hast dich verlesen, das stimmt nicht, denn ich kann deine Leseart nachlesen. Aber wenn man sich die Fakten zurecht legt, gibt es drei Momente in der Erzählung, in der Leonie tot ist:

1. schrieb:
Aber ein Gedanke machte ihn verrückt. Während er in der Arbeit saß und mit seinem Vorgesetzten über eine Erhöhung der Beiträge stritt oder mit einem Mathematikfreund ein Bierchen trank oder allein einen Pornofilm guckte, während er irgendetwas tat, so, als wäre nichts Sonderbares geschehen, konnte Leonie tot sein. Er könnte über einen schlechten Witz seines Kollegen lachen und Leonie wäre tot. Leonie wäre tot und er würde weiterleben, als wäre alles normal. Als würde sie in ein paar Tagen zurückkehren. Dabei wäre sie weg. Unerreichbar.
2. schrieb:
„Ich habe sie umgebracht“, dachte Theo, und Mira, die hinter ihm stand, sagte mit Tränen in den Augen:
„Du hast sie umgebracht.
Du hast sie immer schon umgebracht.“
3. schrieb:
Leonie war gestorben und er lebte weiter, als wäre nichts Sonderbares geschehen.
Beim ersten ist's der Konjunktiv, der spricht, beim zweiten Theo und Mira, beim dritten aber der Erzähler. Es ist keine Umschreibung oder Interpretation von Figuren, sondern es steht schwarz auf weiß da: Leonie war gestorben.

Ich kann mich nur wiederholen: Ich kann deine Leseart, die hier Ursache eines Missverständnisses war, gänzlich nachvollziehen, aber ich bin der Meinung, dass es eindeutig dort steht. (Den verwirrenden Moment mit "Du hast sie umgebracht" könnte ich zur Verdeutlichung streichen, aber der Satz ist mir auch wichtig, weil er die ganze Handlung verkennt.) Der Prozess des Aufleinenziehens wird hier nicht beschrieben, bloß, dass eine Fotographie Maries dort hängt, während Leonie stirbt und Theo scherzt, nicht an sie denkt.

Theo würde ich eine vorherige Taucherfahrung nicht so zutrauen, aber der Leonie wäre so eine Ausbildung zuzutrauen. Richtig passend wäre das, wenn das Thema vorher schon einmal präsent wäre. Du beschreibst eben, dass Leonie nicht nur zum Steinbildhauen nach Kroatien ist, sondern auch noch einen zweiwöchigen Tauchkurs machte, dann passt es sich besser ein.
Vielen Dank für diesen Hinweis und auch den im vorhergehenden Kommentar, eine Änderung diesbezüglich macht die Geschichte ein Stückchen stimmiger, denke ich. Muss der Änderung aber bisschen Zeit geben, sonst sieht man, dass ich nachgepinselt habe, weil der Fleck zu hell oder zu feucht glänzt, wenn man drauf schaut - ihn als nachträglich wahrnimmt.

Vielen lieben Dank für deine Anregungen!

Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest!

Beste Grüße
markus.

 

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