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Vision
Vidraça
Es war nichts als Routine: das Hochstämmen der Augenlider, gefolgt von einem Greifen nach dem Lichtschalter, der ausschweifenden Bewegung, mit der ich die Daunendecke von meinem schlaffen Körper beförderte und dem unbeholfenen Ausstieg aus meinem warmen Bett. Ein Kribbeln breitete sich in meinen tauben Waden aus, als ich sie auf den Boden absetzte; es dauerte eine Weile, bis ich sie wissentlich unter Kontrolle bringen und die harte Oberfläche des Teppichs spüren konnte. Und das alles, weil ich am vorhergegangenen Abend einige Gläser (oder Flaschen?) zuviel getrunken hatte. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück.
Mark, grölend, mit erhobenen Armen, in der einen Hand eine halbvolle Flasche Korn. Laura, Michael und Nico, wie sie singend zu "Time of my Life" tanzten.
Oder es zumindest versuchten.
Der Tisch, der sich unter der Last der vielen Flaschen bereits bedrohlich bog und ich selber, wie ich volltrunken einige dieser Flaschen auf den Boden beförderte. Sandras Grinsen, als ich sie zum vierten mal an dem Abend verabschiedete.
Die Leute würden bestimmt wieder lustige Dinge über mich erzählen. Und das noch nicht mal zu Unrecht.
Mein Schädel fühlte sich so an, als wäre er gerade mit warmem Betäubungsgas vollgepumpt worden, und meine Blase war bis zum Bersten voll. Ich fluchte krächzend, zwang mich dazu, mich aufzurichten und taumelte langsam, aber bestimmt in Richtung Klo.
Als ich das Bad verließ, fühlten sich meine Füße von den kalten Keramikfliesen gelähmt und mein Körper wie eine ausgehöhlte Eisskulptur an. Es zog. Schätzungsweise das Schlafzimmerfenster. Ich durchquerte so schnell wie mir möglich den Raum und schloss es mit einer kräftigen Bewegung.
Das Spiegelbild meines von Tränensäcken und Augenringen entstellten Gesichtes starrte mich mit einem primitiven Ausdruck aus glasigen Augen an. Ein genauso widerlicher wie faszinierender Anblick, mich so zu sehen - man hätte mich ohne Probleme als Hauptattraktion in der Geisterbahn der diesjährigen Kirmes ausstellen können.
Irgendwie ein bisschen dämlich von mir, das Alles auf mich zu nehmen, nur um gewisse Leute zu unterhalten (und um selber wieder in ihre gewissen Reihen aufzusteigen).
Ich war gerade im Begriff, mich zu dem Bett umzudrehen, als ich ihn bemerkte.
„ Na ganz super, das war ja mal wieder klar.“ , brummelte sich, als ich den daumennagelgroßen, dunkelbraunen Fleck in der Fensterspiegelung entdeckte. Er klebte triumphierend auf dem weißen Stoffschirm meiner Nachttischlampe und hatte sich scheinbar tief in das Gewebe festgesogen.
Der war mir eben gar nicht aufgefallen...
Ich wollte gar nicht wissen, wieviel ich heute NOCH säubern musste.
Natürlich würde mir keiner helfen. Obwohl mir das von Anfang an klar war.
Seufzend wandte ich mich der Lampe zu.
Für einen Moment schaltete mein Denken völlig ab.
Ich dachte nicht, zwinkerte noch nicht mal mit den Augenlidern. Ich stand einfach nur da und starrte ungläubig den strahlend weißen Lampenschirm an. Keine Spur von einem Fleck. In Augenblicken wie diesen klappte Zeichentrickfiguren stets die Kinnlade runter. Drei Sekunden später löste sich die Starre.
„ Muss gestern wohl doch ein bisschen mehr gewesen sein, als ich dachte...“ murmelte ich.
Es konnte zwar schon mal passieren, dass ich etwas vergaß, aber ich hatte mir noch nie etwas eingebildet.
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug.
Rasierklingen
Spontan fiel mir der Bericht über ein drogenabhängiges Mädchen ein, den ich mal aus Langeweile gelesen hatte.
„Auf einmal sah ich Rasierklingen durch die Luft fliegen, ich duckte mich, doch sie waren auch auf dem Boden, überall, und sie zerschnitten meine Haut und ich konnte in meinen Arm sehen... Er war ganz rot...“
Bleierne Schwere legte sich in meinen Magen, jetzt wie damals.
Warum musste ich mich gerade JETZT daran erinnern?
(Du weißt dass der Fleck wirklich da war, du weißt es)
Es war.... eine Halluzination, bestimmt der Überschuss Tequila.
Endlich hatte ich meine Drehung zur Fensterscheibe vollendet.
Mit einem Schlag war ich wieder stocknüchtern.
Etwas Kaltes zog sich in meiner Kehle fest.
Wenn ich das Mark morgen erzähle, wird er sich halbtot lachen. Wieder ein neuer Insider. Sogar am nächsten Morgen noch besoffen.Wenn...
Der Fleck nicht nur immer noch da- er war auch größer geworden, hatte jetzt eher eine längliche Form.
„ Man, jetzt habe ich auch noch Schiss vor einem Fleck auf einer Fensterscheibe.“, stellte ich mit einer heiseren Stimme fest.
(Rasierklingen)
Hilflos spürte ich, wie sich mein Puls beschleunigte.
Das war doch lächerlich.
Vorsichtig näherte ich mich der Stelle auf der Scheibe, wo die Lampe zu sehen war. Bei jedem Schritt war das Kratzen meiner Fußballen auf dem Teppich zu hören.
„Was...?“
Stille.
Mir würde übel. Mein Herz trommelte so schmerzhaft gegen meine Brust, als wollte es aus ihr hervorbrechen. Blut rauschte hörbar durch meine Adern. Meine weit aufgerissenen Augen hafteten an dem Abbild. Obwohl ich es erkannte, weigerte sich mein Hirn, die Erkenntnis zu verarbeiten.
Das geht nicht das geht nicht das geht doch nicht...
Es war kein Fleck AUF der Scheibe. Es war noch nicht mal ein Fleck. Ein rasch wachsender, sich verändernder brauner Streifen mit hellem Rand und dunklem Kern, es war...
„Feuer.“, krächzte ich.
Sanfte, noch kleine Hitzewellen schlangen sich um meine Unterarme.
Eine erste Flamme loderte den Schirm empor.
Das Feuer war rechts direkt hinter mir, ich hätte es im Blickwinkel sehen müssen, doch ich sah es nicht.
Das Band zur Realität riss.
Furcht und Unruhe waren vergessen; stattdessen erfüllte mich ätzende Panik. Mein Körper fühlte sich nicht mehr wie mein eigener an. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, war nur noch eine Hülle mit hervorstehenden Stielaugen, die dazu verdammt war, ihren eigenen Untergang von außen zu beobachten.
„Unmöglich.“, sagte ich.
Die Stimme klang so lebendig wie die einer Aufziehpuppe.
Es ist ein Alptraum, ich liege betrunken und bewusstlos auf den Fliesen, Mark muss mich nur mit einer Ohrfeige wecken...
Ich wusste, wenn ich nach hinten greifen oder mich umsehen würde, würde ich einen unversehrten Lampenschirm ertasten- aber die Hitze war
(wie Rasierklingen es wird sich deinen Arm fressen und du wirst ihn sehen, von innen, wie rot er ist)
REAL!
In der Scheibe sah ich, wie das Feuer sich ausbreitete und gierig in den Nachttisch fraß.
Der Brand weitete sich auf das Bettlaken aus und verwandelte die Luft um mich herum in eine breiige Masse, die mir das Atmen beinahe unmöglich machte- und irgendwo im Unterbewusstsein registrierte ich, dass das Feuer nicht qualmte, und ich, wenn es doch gequalmt hätte, schon längst tot wäre.
Meine Augen tränten und die Hitze schmerzte pochend auf meiner Haut. Doch meine Beine verweigerten jeden Befehl.
Ich konnte meinen verschleierten Blick nicht von dem Inferno abwenden.
Bis mein Blick auf die Ausbeulung in dem Bettlaken fiel.
Nein
Mein Magen bäumte sich auf, mein Mund zuckte;ich wollte mich übergeben, wollte schreien, doch meine Zunge war nichts als ein lebloser Klumpen Fleisch.
In dem Bettlaken lag ein Mensch, beinahe fötal gekrümmt, mit dem Rücken zu mir gewandt; nur sein Arm, seine Schultern und sein Hals waren sichtbar.
Er verbrannte.
Sein Körper war eine Landschaft aus schmierigen Brandwunden.
Ich sah, wie die Haut auf seinem Arm Blasen warf, roch den Gestank von sengenden Haaren und schmorendem Fleisch.
Dann drehte er seinen Kopf zu mir, sodass ich in sein verstümmeltes Gesicht sehen konnte.
Er verzog seine toten Lippen zu einem breiten Grinsen und sah mich aus seinen ausgebrannten Augenhöhlen heraus an.
Es war MEIN Gesicht.
Schwärze umfing mich.
Als sie zu Boden fiel, wurde die Lampe mitgerissen.
Die Flammen in der Scheibe verschwanden.
Der Lampenschirm, der von dem bewegungslosen Körper an die Glühbirne gedrückt wurde, entzündete sich etwa drei Minuten später.