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Vivo

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28.11.2014
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Vivo

Über ihr sprang das Bild der Überwachungskamera um, und Eva sah sich selber und die hinter ihr Stehenden. Sie stutzte und merkte, wie ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Das Bild wechselte, zeigte einen anderen Ausschnitt des Ladens. Langsam wandte sie sich ein wenig zur Seite und schaute scheinbar gleichgültig über die hinter ihr Wartenden. Ja. Er war es. Nur die beiden Frauen standen zwischen ihnen.
Die Kundin vor ihr hatte nicht genug Platz für alles. Eva nickte und schob ihre schon liegenden Teile zurück. Ob auch er sie erkannt hatte? Wahrscheinlich. Sie glaubte, seinen Blick auf ihrem Nacken zu spüren.
Vierzig musste er jetzt sein. Andre war älter als sie: vier Jahre und drei Tage. Der erste und der vierte April. Immer um Ostern. Wie Kinder hatten sie in den guten Zeiten ihre Geschenke versteckt. Albernes Hin und Her, am Ende die Umarmung. Nur einmal hatte es länger gedauert. Das winzige weiß-goldene Kästchen hatte er hinter einer Vase versteckt und sie entdeckte es erst spät. Er war ganz unruhig, als sie den kleinen Deckel öffnete. Eine Kette mit einer Rosette aus roten Steinen. Altmodische Granatsteine. Sie war gerührt gewesen, mehr über seine Nervosität als über den Schmuck.

Komisch, dass sie immer nur an die letzten Jahre gedacht hatte, so, als hätte es diese erste Zeit nicht gegeben.

Die kleine Zweizimmerwohnung, ganz unten in einem Hochhaus. Silvester, zwanzig Leute, überall, auf dem Boden im Wohnzimmer, in der Küche, rauchend, trinkend, lachend und diskutierend. Und dann in der Nacht war Andre plötzlich weg gewesen. Einfach weg. Nicht im Badezimmer, nicht im Schlafzimmer, nicht vor der Tür. Martin, sein bester Freund, hatte ihn gefunden. Andre war über die Brüstung gefallen und lag vor dem Haus auf der nachtfeuchten Wiese. Er hatte sich auf die Seite gelegt und so wie immer, wenn sie nebeneinander lagen, die Beine angezogen und die Hand unter den Kopf gelegt. Aufstehen wollte er nicht, nur einfach weiterträumen.

Während das Band nach vorne rückte, schaute Eva auf den Zigarettenkasten. Reval hatten sie geraucht, mit Tabakkrümeln, die an der Zunge klebten, sich nur schwer ausspucken ließen. Und dann dieses unangenehme Krampfen im Magen, am nächsten Morgen, wenn sie die erste Zigarette wieder auf die Beine bringen sollte. Unbeschwerte Zeiten.
Sie rauchte schon lange nicht mehr. Irgendwann hatte sie es geschafft.

„Bar oder mit Karte?“
Das Band hatte ihre Sachen weitertransportiert und Eva spürte, dass alle auf sie warteten.
„Mit Karte.“
Während sie alles in den Wagen legte, dachte sie darüber nach, was sie machen würde. So tun, als hätte sie ihn nicht gesehen? ‚Hallo’ sagen, wie zu jemand, den man zufällig trifft?

Sie bezahlte, ging zur Ablage am Fenster, starrte auf den Prospekt der nächsten Woche und begann, alles in die Tragetasche zu packen. Ein Shampoo rutschte ihr aus der Hand. Sie bückte sich.
„Wie geht’s dir, Eva?“
Sie richtete sich auf, legte die Tube in die Tasche, strich das Haar aus ihrem Gesicht und drehte sich langsam um.
„Gut, und dir?“
Die beiden Falten zwischen Wangen und Mund waren neu – oder nur tiefer? Sein Haar war sehr kurz und an den Schläfen schon etwas grau. Zwölf Jahre hatten sie sich nicht gesehen.
„Auch gut“, antwortete er.
„Ja …“ Sie suchte nach einer Frage. „Wohnst du wieder hier?“
„Ja.“ Er machte eine kleine Pause, schien zu überlegen. „Ich glaube, irgendwann möchte man dann doch wieder zurück.“
„In der Nähe?“ Sie hörte sich selber, das ‚ä’ klang rau, ihre Stimme brach ab und das ‚e’ war kaum hörbar.
„Nein, der reine Zufall. Ich war drüben im Job-Center und dachte, ich könnte hier etwas für den Abend mitnehmen.“
Unwillkürlich schaute sie in seinen Wagen. Cola und Orangensaft, ein paar andere Sachen.
„Ja, und? Konnten sie dir helfen?“
„Ja, sieht gut aus.“ Er reichte ihr das Gewürztütchen, das sie im Wagen vergessen hatte.
„Aber vierzig ist eben schon ziemlich alt.“

Der hellblaue Hemdkragen über seinem Pullover ließ sein Gesicht frisch erscheinen, passte zu seinen Augen. Sie waren klar.
Ob er jemand hat, überlegte sie.
„Was machst du so?“
Er zögerte, schaute sie einen Moment an und lächelte. Es war etwas Vertrautes in seinem Lächeln und sie wusste, noch bevor er es sagte, was kommen würde.
„Vivo“, antwortete er.
Sie konnte nicht anders, auch sie musste lächeln.

Der alte Mann oben in den Hügeln von La Palma. Sie waren mit dem Auto den Serpentinen gefolgt, immer höher gestiegen und zuletzt auf einem kleinen Plateau in den tief hängenden Wolken gelandet. Hier war es grau und diesig. Ein Spanier, der ihnen seine Höhle zeigen und mit ihnen seinen Wein probieren wollte, hatte sie begleitet. Vor dem Eingang trafen sie den alten, gebrechlichen Schäfer. Ihr Freund hatte ihn umarmt und gefragt, wie es ihm gehe. Die Augen des Alten gaben das Lächeln des Spaniers nicht zurück. Sein Blick war weder traurig noch froh, irgendwie nicht mehr anwesend.
„Vivo.“
Sie sprach kein Spanisch, doch das hatte sie verstanden. Später war es ihre immer wiederkehrende Antwort, stets dann, wenn nur noch Ironie übrig blieb.

„Das war im Februar“, sagte sie, um etwas zu sagen.
Zurück hatte sie fahren müssen. Beide, Andre und der Spanier waren betrunken. Drei Stunden blieben sie in der Höhle. Am Anfang lauschte sie den beiden, verfolgte ihre Mimik, verstand nicht, was sie sagten. Andres Spanisch war gut und er kokettierte damit. Doch er war auch ein aufmerksamer Zuhörer. In der ersten Zeit hatte sie sich gewundert, wie bereitwillig Menschen ihm ihre intimsten Geschichten anvertrauten. Sie spürten sein Interesse. Und auch dieser Spanier hatte sich ihm geöffnet.
Der alte Mann saß die ganze Zeit ruhig und ein wenig nach vorne gebeugt am Kopf des Holztisches, leerte nur langsam sein Glas. Sie gaben es irgendwann auf, ihn ins Gespräch zu ziehen.
Eva hatte nicht gedacht, dass sie so lange bleiben würden und die Kälte kroch in ihr hoch. Auch sie trank nicht viel und sie begann, sich unbehaglich zu fühlen und sich zu langweilen, aber sie drängte nicht, sie wollte kein Spielverderber sein.

„Ja, kalt war es. Aber nur oben in den Bergen. Unten am Meer war die Nacht mild.“
Sie nickte.
Andre sah sie an, sah ihr in die Augen, als suche er etwas in ihnen: „War unsre beste Zeit, damals.“
Wieder nickte sie.
Eva schulterte ihre Handtasche und nahm die Einkäufe.
Auch Andre hatte inzwischen alles in seinen Stoffbeutel gepackt. Er schaute zum Parkplatz. „Hast du ein Auto?“
„Ja, aber ich bin mit dem Rad. Das geht schneller.“
Sie schoben ihre Wagen nach draußen und reihten sie ein.
Eva stellte die Tasche in den Korb am Lenker, öffnete das Schloss und zog ihr Fahrrad aus dem Ständer.
Sie zögerte aufzusteigen; nebeneinander gingen sie ein paar Meter. Andre sah sie an und sie blieben stehen.
„Können wir uns mal treffen? Ein bisschen reden?“ Es sollte leicht und normal klingen, doch sie spürte seine Anspannung.
„Ich weiß nicht … Wo wohnst du?“
„In der Nähe vom Hauptbahnhof.“ Er langte in die hintere Tasche seiner Hose und holte ein kleines Etui heraus. „Ich hab mir Kärtchen gemacht. Hier. Da steht auch meine Nummer. Wenn du möchtest, ruf mich an. Ich würde mich freuen … Wir könnten irgendwo etwas essen.“ Er sah ihr in die Augen, las ihre Frage. Seine Stimme veränderte sich, wurde tiefer und spröder: „Keine Angst: Alles ist gut … Ich bin in Ordnung.“ Er holte Luft: „Es ist vorbei.“
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, wusste überhaupt nichts, wollte nur los.
„Ich überleg’s“, sagte sie, wie um ein Ende zu finden. „Mach’s gut.“

Die Katze stand im Flur und schaute mit großen, runden Pupillen zu ihr hoch. Sie strich um ihre Füße und ein paar fiepende Laute zeigten ihren Unmut.
„Du bekommst gleich was.“ Eva bückte sich und streichelte sie. Aus ihrer kleinen Streunerin war mit der Zeit eine hübsche Katze mit glänzendem, weichem Fell geworden.

Sie trug die Einkäufe in die Küche, ging zurück in den Flur, zog ihre Kapuzenjacke aus und legte die kleine Karte auf das Regal unter dem Spiegel.
Wirklich blöd, dass sie diese Jacke angehabt hatte. Das Grau war vom Waschen heller geworden. Sie sah den dunklen Ansatz ihrer Haare. Wurde Zeit, dass sie mal wieder zum Friseur ging. Ihre Haut war matt. Die Bräune des Sommers war jetzt im November völlig verschwunden.
Sie trennte sich von ihrem Spiegelbild, ging in die Küche und schob das Gericht in die Mikrowelle. Mit dem appetitlichen Bild auf der Packung hatte es keine Ähnlichkeit, dachte sie. Sie nahm sich vor, mal wieder etwas Richtiges zu kochen.

Die kleine Katze sprang auf ihren Schoß. Sie hatte ihren Napf leer gefressen, schnurrte und putzte sich gleichzeitig. Eva dachte daran, wie die Katze mit ihrem schwarz-braunen Fell an einem Sommerabend auf der Fensterbank gesessen hatte. Ganz vorsichtig hatte sie ihr ein bisschen Wurst hingeschoben, langsam und darauf bedacht, ihre Hand schnell wieder in Sicherheit zu bringen. Aber die Katze war zutraulich und Evas Angst unbegründet. Seit diesem Tag kam sie jeden Abend und irgendwann blieb sie. In den Nächten lag sie auf der Bettdecke. Immer, wenn Eva wach wurde, streckte sie die Hand aus, streichelte das Kätzchen, hörte ihr Schnurren und schlief wieder ein.

Eva schüttete das heiße Wasser über den Teebeutel und ging mit der Tasse zum Wohnzimmer.
Im Flur blieb sie stehen und nahm die kleine Karte. Am besten werfe ich sie gleich weg, dachte sie. Das alles ergab keinen Sinn. Zu viel Zeit war vergangen. Warum sollte sie ihr ruhiges Dasein aufs Spiel setzen? Riskieren, dass ihr Leben aus seinem sicheren Kreislauf geriet. Die Arbeit im Institut gefiel ihr. Hin und wieder traf sie sich mit Kollegen, feierte mit ihnen die Feste des Jahres. Kleine Höhepunkte in einem geordneten Kosmos.
Es gab niemand, der ihr wehtun konnte, der ihre Ruhe störte. Eva hob den Kopf und blickte in den Spiegel, sah ihr Gesicht vor der weißen Wand des Flurs - sah ihre Augen. Der alte Schäfer fiel ihr ein.
Sie legte die Karte zurück und ging ins Wohnzimmer.

Vor dem Fenster stand sein Schreibtisch. Er hatte ihn ihr gelassen. Sie hatten sich um nichts gestritten, ihm war alles egal gewesen.
In der ersten Zeit ohne ihn hatte sie noch versucht, herauszufinden, was Ursache, was Folge war. Es gab keine Antwort, aber sie wusste, dass jene Nacht der Beginn des Endes gewesen war.

Eine dieser langen Nächte. Um sie nicht zu stören, hatte er sich auf der Couch in seinem Zimmer eine Schlafstelle eingerichtet. Aber wie so oft, hatte sie nicht schlafen können und den Geräuschen aus dem Nebenzimmer gelauscht. Die Musik war kaum vernehmbar. Es war, als begleite sie die Stille der Wohnung. Immer, bevor er die Tür öffnete und leise in die Küche ging, stellte er die Lautstärke zurück. Aber sie erahnte jede seiner Bewegungen.
Die Zeiten, als sie versucht hatte, auf ihn einzureden, zu verhindern, dass er zu viel trank, waren längst vorbei. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, dass sich etwas verselbständigt hatte, etwas, das sie nicht stoppen konnte.
Ihr fehlten Zigaretten. Sie war aufgestanden, hatte sich angekleidet und war aus dem Haus gegangen. Wieso sie gerade in dieser Nacht Martin angerufen hatte, wusste sie im Nachhinein nicht mehr. Wahrscheinlich nur, um mit jemandem zu reden. Andre würde sie nicht vermissen. Er war in seinem Universum, hörte seine Musik, schrieb seine Geschichten und trank. Bis zum Morgen blieb sie bei Martin.
Sie hatte sich geirrt. Als sie zurückkam, saß Andre am Küchentisch, starrte vor sich hin, betrunken und verzweifelt, nicht in der Lage, zu begreifen, warum sie weggegangen war. Doch auch sie war aufgewühlt und nicht sie selbst gewesen. Sie hätte schweigen sollen – oder warten. Irgendwann befanden sich Andres Gedanken in einer Spirale, die sich nur um eine Achse bewegte: seine Frau – sein bester Freund.
Langsam war es Tag geworden. Sie erinnerte sich an den dunkelroten Streifen über den Dächern der Stadt. Sie beide am Küchentisch, rauchend und gefangen in einem Gespräch, das danach suchte, alles ungeschehen zu machen.

Eva wunderte sich, wie gegenwärtig ihr das alles war. Es war lange Zeit verschüttet gewesen unter dem, was danach kam. Er trank mehr, trank immer öfter, verpasste seine mündliche Prüfung, kam tagelang nicht nach Hause. Vorhaltungen, Auseinandersetzungen und endlose Diskussionen. Zwischendurch Zeiten, in denen sie dachte, dass ihre alte Vertrautheit zurück wäre, doch schon einen Tag später wusste sie, dass nichts gut war, nichts so war wie früher.

Es war dunkel geworden, nur die Straßenbeleuchtung warf einen bläulichen Schimmer in den Raum. Sie stand auf, knipste die kleinen Lampen an. Sie konnte sich nicht entschließen, den Fernseher anzuschalten, und setzte sich wieder an den Tisch. Die Stille der Wohnung umhüllte sie. Sie lehnte sich in das Polster und schloss die Augen. Die Bilder kamen zurück.

La Palma. Unten an der Küste waren sie über den schmalen Felsenweg zur kleinen Sandbucht gelaufen. Dort hatten sie sich hingesetzt und an eins der Fischerboote gelehnt.
Der Geruch von Tang hing in der Luft und der Mond spiegelte sich auf dem ruhigen Meer als breites silbriges Band. Sein Licht färbte die Finsternis dunkelblau und ließ die kleinen Mulden, die das Wasser im Sand hinterlassen hatte, lila schimmern. Kleine Wellen mit weißem Saum schoben sich in die Nähe ihrer Füße, hielten ein, zogen sich träge zurück, um kurz darauf aufs Neue mit dem ewigen Spiel zu beginnen.
Seine Stimme war leise und verhalten gewesen. Müde war sie ihm in seine Phantasiewelt gefolgt und aus ihr irgendwann in den Schlaf geglitten. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er ihr an diesem Abend am Meer erzählt hatte. Nur, was sie gefühlt hatte, war auf einmal wieder da: Seine Phantasie war es gewesen, die ihre nüchterne, kleine Welt bereichert hatte, sie farbig und lebendig werden ließ.

Ein kleiner Ruck des Kopfes ließ Eva aus ihrem Halbschlaf erwachen. Sie öffnete die Augen und schaute auf den leeren, dunklen Bildschirm vor sich.

Die kleine Katze hatte wohl schon länger vor der Tür miaut. Eva stand auf, ließ sie ins Zimmer und ging in den Flur. Sie nahm Andres Karte. ‚Übersetzer Deutsch-Spanisch’ stand unter seinem Namen. Ob er die Prüfung nachgeholt hatte? Sie hob den Kopf und sah ihr Spiegelbild. Im Licht der kleinen Wandlampe wirkte ihr Gesicht weicher und jünger.

Und wieder dachte sie an den alten Schäfer. Und an das Leben.

 
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Liebe barnhelm,

ich habe mal etwas in der Kiste gekramt und mir diese Geschichte rausgesucht. Ich hoffe es ist okay für Dich. Aber so Beziehungsgeschichten sind eben voll mein Ding.

Dieses Konstrukt, man läuft sich nach Jahren zufällig über den Weg, denkt an die guten Zeiten, wiegt dagegen die Gründe des Endes auf und überlegt, ob es sinnvoll ist, sich erneut wieder anzunähern, das ist auch nicht tot zu kriegen, wenn die Figurenzeichnung stimmt. Wenn es mit Leben und Persönlichkeiten gefüllt ist. Das schaffst Du ganz gut. Ich will hier auch gar nicht viel rumkritisieren, weil ich denke, Du bist eh durch mit der Geschichte.

Ich habe zwei Sachen trotzdem im Gepäck. Was ich richtig gut fand, war dieser Absatz:

Sie trug die Einkäufe in die Küche, ging zurück in den Flur, zog ihre Kapuzenjacke aus und legte die kleine Karte auf das Regal unter dem Spiegel.
Wirklich blöd, dass sie diese Jacke angehabt hatte. Das Grau war vom Waschen heller geworden. Sie sah den dunklen Ansatz ihrer Haare. Wurde Zeit, dass sie mal wieder zum Friseur ging. Ihre Haut war matt. Die Bräune des Sommers war jetzt im November völlig verschwunden.
Sie trennte sich von ihrem Spiegelbild, ging in die Küche und schob das Gericht in die Mikrowelle. Mit dem appetitlichen Bild auf der Packung hatte es keine Ähnlichkeit, dachte sie. Sie nahm sich vor, mal wieder etwas Richtiges zu kochen.

Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt sehr unentschlossen ist, ob sie ihn wiedersehen will oder nicht, wird doch gleich mal vor dem Spiegel der "Marktwert" geprüft. Sie ärgert sich über die graue Jacke und nimmt sich wieder etwas vor, sie macht Pläne. Das ist so typisch Frau (wahrscheinlich auch Mann) in dieser Situation. Schön eingefangen. Auch, was es macht mit ihr, diese Begegnung. Sie schubst sie wieder ins Leben irgendwie, egal, wie sie sich dann auch entscheiden mag. Für ein paar Sekunden will sie nicht mehr graue Maus sein.

Zweite Sache ist was stilistisches, und vielleicht auch gar nicht unbedingt mehr für diese Geschichte, sondern etwas, was Du mitnehmen kannst, für Dich prüfen und bei Gefallen anwenden. Achte auf deine Verben! Irgendwie scheint es mir, wenn Du drei zur Auswahl hast, entscheidest Du Dich immer für das schwächste. Nicht im grammatikalischen Sinn jetzt, sondern in ihrer Bedeutung. Ich versuch das mal am ersten Absatz zu verdeutlichen.

Über ihr sprang das Bild der Überwachungskamera um, und Eva sah sich selber und die hinter ihr Stehenden. Sie stutzte und merkte, wie ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Das Bild wechselte, zeigte einen anderen Ausschnitt des Ladens. Langsam wandte sie sich ein wenig zur Seite und schaute scheinbar gleichgültig über die hinter ihr Wartenden. Ja. Er war es. Nur die beiden Frauen standen zwischen ihnen.
Die Kundin vor ihr hatte nicht genug Platz für alles. Eva nickte und schob ihre schon liegenden Teile zurück. Ob auch er sie erkannt hatte? Wahrscheinlich. Sie glaubte, seinen Blick auf ihrem Nacken zu spüren.
Vierzig musste er jetzt sein. Andre war älter als sie: vier Jahre und drei Tage. Der erste und der vierte April. Immer um Ostern. Wie Kinder hatten sie in den guten Zeiten ihre Geschenke versteckt. Albernes Hin und Her, am Ende die Umarmung. Nur einmal hatte es länger gedauert. Das winzige weiß-goldene Kästchen hatte er hinter einer Vase versteckt und sie entdeckte es erst spät. Er war ganz unruhig, als sie den kleinen Deckel öffnete. Eine Kette mit einer Rosette aus roten Steinen. Altmodische Granatsteine. Sie war gerührt gewesen, mehr über seine Nervosität als über den Schmuck.

Guck Dir mal die Verben im Text an. Die sind alle sehr brav, bieder, da leuchtet nichts. Sie erzählen, was sie erzählen sollen, aber darüber hinaus tun sie nichts. Und gerade die Verben, die sind doch unsere Geheimwaffe. Die können einen Text aufladen, ihm Tempo und Frische einhauchen, sie können Tragik und Komik, die sind Alleskönner. Deshalb lohnt auch, die immer wieder zu überprüfen, zu variieren, durchzuspielen beim Korrekturlesen.

Wenn ich jetzt mal als Beispiel die Synonyme für laufen nehme, was man dafür alles schreiben könnte:
beeilen, eilen, galoppieren, hasten, hechten, hochschnellen, huschen, pesen, preschen, rennen, sausen, sich sputen, sprinten, stürmen, traben, wetzen
... dann scheint es mir, Du hättest Dich im ganzen Text für laufen entschieden.
Ich meine jetzt nicht, dass man einen Text nur mit starken, explosiven Verben schreiben soll, das hält ja keiner aus und ist auch Mist, aber so hin und wieder wäre ganz schön, mal eben nicht so brav zu sein ;). Achte bei den Büchern drauf, die Dir gefallen, schlage einfach eine Seite auf und guck Dir die benutzten Verben an.

Aber ich habe die Geschichte gern gelesen. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, ich kann auch ihre Angst nachvollziehen, sich erneut einem Treffen zu stellen. Sie hat ja noch jede Menge gute Erinnerungen, da waren glückliche Zeiten, glücklicher als jetzt jedenfalls, zum Ende hin eben auch schlechte. Aber wenn er nicht mehr trinkt, ja dann ... die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ich bin mir sicher, sie wird ihn anrufen. Sie wird sich eine Menge Vorsätze machen für das Treffen, aber sie hat schon den Wunsch nach mehr als Katze. Behaupte ich mal, lese ich aus dem Text. Obwohl so ein geordnetes Leben auch seine Vorzüge hat, gebe ich zu. Hast Du alles schön eingefangen und für mich auch ein vollständiges Abbild erschaffen. Und ich liebe die Flurszene ;).

Beste Grüße, Fliege

 

Liebe Fliege,

schön, dass du meine Geschichte wieder ‚rausgekramt’ hast und natürlich freue ich mich auch darüber, dass sie dir in weiten Teilen gefallen hat.

Wofür ich dir aber besonders danke, dass ist dein stilistischer Hinweis. Das ist eine Rückmeldung, die ich mir hinter die Ohren schreiben werde. Da muss ich einfach kritischer mit mir selber sein und mir meine Verben beim nächsten Text genauer anschauen und Alternativen überlegen. Im Moment ist für mich das Forum sommerbedingt ein wenig in den Hintergrund gerückt, aber ich habe mir fest vorgenommen, die ‚Vivo’-Geschichte und vielleicht auch andere mal auf das von dir Festgestellte zu untersuchen und daran zu arbeiten. Danke noch mal für den wertvollen Tipp.

Jetzt wende ich mich aber ganz schnell wieder der ‚Außenwelt’ zu und genieße den herrlichen Spätsommer. Dir, liebe Fliege, wünsche ich ein schönes, möglichst sonniges Wochenende.

Liebe Grüße
barnhelm

 

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