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Vollmond
Als sie die Augen wieder öffnet, liegt sie nicht mehr unter ihrer Decke. Stattdessen ist sie in einem abgedunkelten Raum, wie eine Requisite steht ein Bett in einer Ecke, riesig, aber im Dunkeln scheint es kaum vorhanden zu sein. Sie ist hier nie gewesen, aber das macht ihr nichts aus, denn sie nimmt einen Geruch wahr, den sie kennt wie den Duft ihres Roibush-Tees.
Suchend wandert ihr Blick durch das Dunkel, doch erst, als sie sich umdreht, findet sie Licht. Das Fenster ist weit offen. Der Vollmond lässt das Zimmer im Dunklen und taucht die Gestalt, die davorsteht, in Silber.
Sie tritt hinter ihn.
„Das ist ein Traum“, sagt er zu ihr.
„Ist…“ Sie will nicht wissen, ob das hier alles echt ist oder nicht. So kann sie ihm vielleicht endlich die Wahrheit sagen, diese Wahrheit, die sie erst begriffen hat, als sie die Augen wieder aufgeschlagen und ihn dort am Fenster gesehen hat.
Die Sterne funkeln kitschig, als sie zu ihm ans Fenster tritt. Sie zwinkern uns zu.
„Ich muss dir etwas sagen“, beginnt sie. „Etwas, das ich normalerweise nie…“, sie stockt, die Angst, etwas falsch zu machen, ihn zu verlieren, versiegelt ihre Lippen.
Er lächelt ihr zu. „Nur ein Traum“, sagt er, „jedenfalls glaube ich das. Wenn nichts davon real ist, dann sind nur wir beide hier.“
Niemand sonst.
Scheu finden ihre Hände sich.
Nur ein Traum. Alle schlafen.
Was wäre geschehen, wenn sie heute Morgen beim Klingeln des Weckers aufgestanden und losgefahren wäre?
Winternächte sind lang. Der Oktober neigt sich dem Ende zu, der Vollmond hat gelächelt, als sie zum Telefon gegriffen, sich mit belegter Stimme krank gemeldet und dann das Kissen über ihren Kopf gezogen hat. Und jetzt ist sie hier.
Sie birgt ihre Stirn an seinem Hals. Nur sie beide und eine Unzahl von Möglichkeiten. Ihre Lippen streifen seine Wange wie ein Hauch, der Puls an seinem Hals klopft heftig, und auf einmal ist ihr kalt.
Er nimmt sie in die Arme. Und sie klammert sich an ihn, als müsste sie ertrinken, wenn sie ihn losließe. Oder schlimmer noch: erwachen.
„Nur ein Traum." Nicht real, denkt sie, als sie sich zuerst zaghaft, dann immer heftiger küssen. Wenn es real wäre, ihr Herz würde zerbersten.
Seine Berührung bricht eine Barriere in ihr, von der sie nichts gewusst hat.
„Ich liebe dich“, flüstert sie. Sie liegen nebeneinander, berühren sich nur federleicht. Es ist so ein schönes Gefühl. Es ist so ein guter Traum.
„Es ist ein Traum“, wispert er zurück und berührt mit den Lippen ihre Wange. Sie würde gern weinen, weil sie am nächsten Morgen wieder erwachen und neben dem falschen Mann liegen wird.
Ihr Herz macht einen Sprung, als sie ihn sieht, einen albernen kleinen Hüpfer, und ihr Bauch kribbelt wieder. Sie ist in der Stadt, hat gerade eingekauft und jetzt winkt er ihr zu und sie kann nicht anders, geht zu ihm, schafft ein Lächeln, von dem sie nicht weiß, woher es kommt. Ihr Mund ist trocken vor Nervosität.
Zur Begrüßung umarmen sie sich. „Hallo, Süße“ sagt er, und plötzlich sind ihre Hände eiskalt, ihr Gesicht glüht und ihre Schüchternheit versiegelt ihr die Lippen. So hat er sie noch nie genannt.