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Vom Anspruch der guten Arbeit
Vierzig Jahre Erwerbsarbeit kratzen auf Haut und im Rachen. Betriebe verschwinden, an vierzig Jahre erinnert der Lebenslauf in grauen Narben. Sie ignoriert das Brennen, der vernarbte Körper fleht, aber sie stampft: Ich kann das, von nix kommt nix, ich mache was!
Dritter Stock, endlich.
Sie schließt die Tür zum Klienten auf. Der Klient hockt in einer Masse Körper und murrt zur Begrüßung, ehe er sich Zigaretten und Fototrödel zuwendet.
Sie schaut in den Fernseher.
„Ja, das gucke ich auch gerne“, ächzt sie. „Würden Sie das kaufen?“
„Nö“, beendet er das Gespräch.
"Nie Fotos gemacht?"
"Nö."
Sie streicht und schneidet ihm die Schnitten klein. Sie hat in vierzig Jahren gelernt: Die kleinere Seite auf den Teller, die größere nach oben, dann zügig einen Schnitt kopfoben ansetzen und in einem-einzigen-Zug um das Brotinnere. Mit einer lockeren Ellenbogenbewegung das Messer an die Butter streifen und in einer einzigen kreiselnden Bewegung über das Brot streichen lassen.
Mit Hackepeter aus dem Glas ähnlich verfahren. Lockerer Ellenbogen, auch wenn er Schmerzen mag.
Sie betrachtet ihr kleines Werk und spürt etwas Stolz. Sauberschnell gestrichene Schnitte mag sie und bittet den Klienten, Fernsehen zu schauen und einen guten Tag zu wünschen. Der Klient redet selten – sie verlässt die Wohnung in der Pommernstraße 8.
Der dritte lohnlose Monat hat gezwungen, im vierten hat die Sonne so schön vom Himmel geschienen. Manchmal hat sie auf dem Weg zur Arbeit die jungen Menschen gesehen, ausnüchtern, in feierfreier Stunde gegen fünf, auf den Stufen zum teuren Spätkauf und sie haben sie gegrüßt, aus einer Laune erzogener Höflichkeit.
„Hallo!“
„Hallo, muss weiter, ja?“
Nach Aufbruch der Reserve hat die Wohnungsbau-Genossenschaft einen Mietrückstand angeschrieben. Sie hat dem Betrieb gekündigt: „Ich muss ja zahlen, alles, ja, weil sonst geht das nicht“ und den Betrieb gewechselt. Die alte Chefin hat „Schade, aber viel Glück“, gesagt und sich dem Tagesplan zugewandt.
„Unbedingt klagen. Das geht gar nicht. Du musst klagen...“, hatten die neuen Kolleginnen gesagt und Kaffeeweißer in den Kaffee eingerührt. Und sie hat eine warme, süße Solidarität gespürt, einen positiven Kontaktmoment, wie die Kolleginnen sagen.
„Das ist ein echtes Biest, diese Frau, die ist schlimm, ja und auch, ich habe das ganze Ersparte verbraucht für drei Monate Miete, ja, und -“
„Ja, das erzählt jeder in der Stadt. Die sind schlimm.“
An diesem Abend hat sie sich gefragt, ob sie einen der Studenten am Späti ansprechen solle, so Jura eben, so Ideen, so eine Gesamteinschätzung der Gesamtsituation. In zehn Tagen bekäme sie den ersten Lohn des neuen Betriebs, präzise 1147 netto Grundgehalt plus Zuschläge für die Doppelschichten des Wochenendes. Sie hat sich am Geländer nicht festgehalten und hat frei von der Alfred-Kästner-Straße dreizehn einer aufstrebenden Großstadt gestanden.
„Ich arbeite, so. Von nix kommt nix. Ich bin die Kerstin, ich mache was.“
In der Wohnung der Pommernstraße 8 macht sie HWS. Eingerichtet in spartanischer Demenzfreundlichkeit sitzt der Klient vor einem Fernsehgerät und kommentiert ihre Handlungen mit einem „Mmmh“, das dem Programmangebot (Silbertrödel im Wasserwerk) ebenso gelten könnte: Der Klient redet, oh wunder. Sie wählt einen Limetten-Chlorreiniger für die Badfliesen (mittleres Preissegment) und einen General-Bergfrühling für das Fake-Limitat (mittleres Preissegment). Den beutellosen Staubsauger leert sie in drei Sekunden, das Entstauben einer Gruppe Glasflamingos berechnet sie auf zwölf Sekunden, mit Staubwedel-Wechsel zwanzig. Sie schreibt abkürzend in die Akte „Kleine HO“ und wünscht einen schönen Tag. Sie will abrasen, doch:
„Viel Glück“, knurrt der Klient.
„Wie?“
„Viel Glück für den Prozess heute.“
„Ach so, woher wissen Sie denn davon? Also, das.“
„In Deutschland arbeitet man für Lohn, das geht gar nicht, was die mit Dir gemacht haben. Deutsches Arbeitsrecht. Bei Sonne, wa'?“
„Ja, bei Firma Sonne war das, die Frau, die ist ein Biest und -“
„Gut, dass du klagst. Die ist schlimm.“
Er wendet sich Silbertrödel aus dem 18. Jahrhundert zu, der auf eintausenddreihundert Euro geschätzt wird.
Justitia nimmt die Augenbinde ab und prüft die Effizienz des Tagesplans. Zwanzig Minuten pro Verhandlung, die in acht Gerichtssälen stattfinden. Das Justizzentrum im Auenblick siebzehn bis fünfundzwanzig entstand für Akten und Ansprüche, also Glas und Beton samt Platz statt Eichenholz und Kreuzgewölbe samt Innenstadt.
„Ein modernes Land braucht eine moderne Justiz.“
„Der Rechtsstaat greift nicht durch, wenn Windows ein Update vorsieht.“
Justitia setzt die Augenbinde wieder auf.
Es riecht nach Zitronen-Chlorreiniger, sie merkt das, das muss der ganz billige aus dem Großhandel sein, den gibt es auch in Orange und sehr neu, in Holunder, aber alles Mist ist es trotzdem, so ein billiger Mist. Sie zupft ihre Malven-Bluse glatt, frisch textilgereinigt für zehn Euro siebzehn, denn vor einer Frau Doktor Richterin gebot der Respekt eine anständige Malven-Bluse. Die Blumen leuchteten nicht mehr. Sie haben Ende der Nullerjahre an Leuchtkraft verloren.
„Aber ich bin die Kerstin, ich mache jetzt was.“
Mit einer Atem-Technik aus dem Fernsehen beruhigt sie sich: Vier Mal lang, zwei Mal kurz, das machen auch die Tierpfleger im Leipziger Zoo, das hat sie gesehen, wenn sie dem Biest entgegentritt, vier Mal lang, zwei Mal kurz, das machen die Tierpfleger im Leipziger Zoo.
„Sie sind 55 Jahre alt und haben eine Ausbildung zur, Moment, ist die Bezeichnung richtig: Facharbeiterin zur Obst- und Gemüseverarbeitung, Konserven, abgeschlossen. Sie arbeiteten in der Firma Sonne drei Jahre. Sie klagen auf Lohnzahlung der letzten fünf Monate. Sie arbeiten als Pflegehilfskraft ohne Ausbildung im Gesundheitswesen bei einem anderen Pflegedienst, richtig?“
„Ja, also, da muss ich sagen, dass ich keine Reserven, also, die habe ich aufgebraucht, deutsches Arbeitsrecht und, insgesamt, Frau Ri-, Frau Doktor“
Die Richterin dankt und fragt ihre alte Chefin, ob die ehemalige Arbeitnehmerin keinen Lohn erhalten habe. Die alte Chefin verweist auf einen Kfz-Schaden, der nicht ordnungsgemäß gemeldet worden sei.
„Stoßstange. Wie immer.“
Und dann das Hastige. Das Durchmogeln. Das Nur-auf-Zeit-Denken bei einem Pflegedienst, das Unfreundliche gegen die Klienten, die bald sterben müssen oder wollen, die so hohen Standards der Firma Sonne, die sie nie einhielt. Nie!
„Das stimmt nicht!“, haspelt sie: „Ich habe nie einen Schaden gefahren, und davon, davon haben Sie erst drei Monate später berichtet! Das war im Juli und außerdem -“
Die Richterin dankt und fragt die alte Chefin:
„Wann wurden der Schaden festgestellt?“
„Am 18. Juli 2018.“
„Und seit dem 31. März 2018 wurde kein Lohn gezahlt? Das heißt, der Schaden fiel erst vier Monate später auf? Sie begründen das Nicht-Auszahlen des Lohns mit diesem Schaden?
Die alte Chefin schweigt.
„Ich meine, Sie haben, wenn ich das richtig lese, vier Dienstfahrzeuge im Pflegedienst und der Schaden an der Stoßstange scheint beträchtlich zu sein. Das muss doch in vier Monaten einer Pflegedienstleitung auffallen? Und die Autos rotieren doch durch, wie es bei ambulanten Pflegediensten üblich ist?“
Die alte Chefin schweigt.
„Sie räumen also ein, keinen Lohn gezahlt zu haben?“
„Der Schaden ist nicht gemeldet worden...“, antwortet der Anwalt.
Die alte Chefin schweigt
„Gut“, seufzt die Richterin. „Gut, bis wann bestand ein Arbeitsverhältnis?“
„Bis zum 31. Juli 2018.“, antwortet der Anwalt.
„Muss ich darauf hinweisen, dass das Arbeitsrecht eine Vielzahl an Sanktionsinstrumenten bereithält? Lohnverweigerung aber explizit nicht dazu gehört?“
„Der Schaden ist nicht ordnungs- und dienstvorschriftsgemäß gemeldet worden.“, antwortet der Anwalt.
„Der Schaden ist nicht ordnungs- und dienstvorschriftsgemäß gemeldet worden...“, ergänzt die alte Chefin leise, hält den Blick zur Richterin nicht und streicht das glatte Aktenpapier glatter.
Die Richterin dankt nicht. Sie sagt, der Fall sei klar. Man solle die moderne Justiz eines modernen Landes nicht mit so einem Schnickschnack aufhalten, ja, sie benutzt das Wort Schnickschnack und fragt, ob irgendwer etwas zu sagen habe.
Sie drückt den Rücken durch, denn eine Frau Doktor Richterin gebietet Respekt. Vielleicht leuchten ja die Malven heller vor der alten Chefin.
Sie bricht das Frühstück, eine Schnitte mit Hackepeter und fragt, ob Recht haben sich so anfühle, mit Brechen in einer zitronen-chlorgereinigten Toilette eines Justizzentrums.
In der Nachbarkabine schlägt der Deckel gegen die Wandfliesen. Sie hört das Abstreifen der Stoffhose nicht und würgt erste bittere Galle aus.
„Wir gehen in Berufung. Ist der Kühlschrank noch voll? Sind Sie flüssig? Oder Rotkreuzkaufhaus?“
„Was soll das?“, keucht sie leise.
„Wir gehen in Berufung, Landesarbeitsgericht. Das dauert, vielleicht ein halbes Jahr bis zur nächsten Runde.
Sechs. Monate.
Das Urteil ist nicht korrekt, das ist falsch. Mit 55 Jahren haben Sie Reserven, oder?
Er-spar-tes.“
„Aber, ich dachte, ich habe gewonnen, und ja, also?“
„Wir machen Ihnen ein Angebot. Vergleich, Mein Anwalt und ich. Sie erhalten zwei Monatslöhne und der Rest wird auf den von Ihnen verursachten Kfz-Schaden aufgerechnet.
Es schläft sich besser mit vollem Kühlschrank.
Und die Miete können Sie auch zahlen, ich kenne Ihren Vermieter aus der Wohnungsbau-Genossenschaft.“
Die alte Chefin betätigt die Spülung und verlässt die Nachbarkabine. Auf das Waschbecken legt sie einen Zwanzig-Euro-Schein. Sie hat auch auf Toilette gemusst.
Das ewige Fernsehen versucht sie in einen warmen Kokon einzuweben. Sie zittert bei der Prüfung ihrer Post auf Rechnungen oder Mahnungen und sortiert Werbung und Wahlbenachrichtigung aus. Ein Brief der Wohnungsbau-Genossenschaft sagt: Zahle den Mietrückstand oder wir drohen mit fristloser Kündigung, Räumungsklage und sehr viel Stress.
Eine Tochter verzeiht ihrer Mutter aus Suff-Suff. Den aggressivaffinen Ex-Freund panzert die Polizei ein. Aller Streit endet im Happy-End und die Bösen verschwinden zur Werbepause. Sie lässt das Fernsehgerät angeschaltet.
Eigentlich hatte die alte Chefin ja Recht. Warum hatte sie ihr Dienstauto dem neuen Kollegen überlassen? Der gar keinen gültigen Führerschein besaß? Der Autofahren irgendwo im Hinterland gelernt hat? Zack, Delle in der Stoßstange.
Sie geht zum französischen Balkon und blickt. In der Abenddämmerung einer aufstrebenden Großstadt rauchen die jungen Menschen ihre Zigaretten selbstgedreht. Kleine rote Punkte glühen auf, wie Glühwürmchen auf irritierender Suche nach Zweisamkeit. Sie stützt sich auf das Geländer der Alfred-Kästner-Straße dreizehn ab, fünftes Stockwerk.
Ist das elend.
Ist. Das. Alles. Elend.
Zur halben Zigarette schreibt sie ihrer alten Chefin per Whats-App, sie nehme das Angebot an.
„Vielen Dank Kerstin, dass Sie Ihrer Verantwortung bewusst werden“ antwortet die alte Chefin sofort.
Sauberschnell gesetzte Schnitte mag sie. Das hat sie in vierzig Jahre gelernt. Sie raucht und sendet einen Signalpunkt an den Sonnenuntergang.
Nach Abzug der Mietrückstände, Stadtwerke-Mahnungen und Gebühreneinzugszentrale steht ihr ein geringer Geldbetrag für den kommenden Monat zur Verfügung.
Mit 140km/h fährt der Express an Weinreben vorbei. Die Endstation Talca wurde bei dem Erdbeben von 2010 schwer beschädigt, ihr Verbleib als Kulturdenkmal oder Bahnhof oder beides bleibt unklar.
„Wie war der Prozess?“, fragt der Klient und nimmt die Schnitte entgegen.
„Wie, was, wie war der Prozess? Ja, ich habe gewonnen.“
„Na, ist doch gut.“
„Nee, die gehen in Berufung. Ja, das schaffe ich nicht, so lange. Ich meine, sechs Monate, nein, das schaffe ich nicht. Ich bin 55, ich schaffe das nicht.“
„Ich finde mein Brot nicht!“
„Wie, woher soll ich das wissen?“
„Wo ist mein Brot, du Kerstin!“
Talca ist der Umsteigepunkt zur einzigen Meterspur-Bahn Chiles, die nach Constitución an die Pazifikküste führt – entlang des berühmten Rio Maules, einem bekannten Weinanbaugebiet.
„Ich hab' gesehen, wie du Brot und Hackepeter klaust!“
„Ich?“
„Ich bin nicht so dumm, du Kerstin, ja? Ich bin nicht so dumm, wie die sagen! Die Ärzte und meine Dreckstochter! Die kennt euch, dieses Miststück.“
Sicherlich, Pablo Neruda hätte seine Unterschrift zum Verbleib der Bahn gesetzt. Dreißigtausend Menschen unterzeichneten eine Petition zum Erhalt der Bahn nach dem Erdbeben, mit Erfolg: Der Schienenbus fährt weiter und ist Teil der Seele der Maulinos geworden. Er verbindet viele abgelegene Siedlungen, in denen Menschen wie Oscar Gonzalez leben, Weichenwärter an der Kreuzungsstelle der Bahn.
„Und mein Geld fehlt auch, zwanzig Euro, du dumme Kuh, wo ist das?“
Oscar Gonzalez isst ein typisches Gericht Chiles, bistec a lo pobre, nach Art der Armen. So arm ist das Gericht nicht: Zu Pommes wird ein Spiegelei und ein Stück Fleisch gereicht. Seit vierzig Jahren arbeitet Oscar Gonzalez für die Bahn. "Der Arme isst, wenn er essen kann. Der Reiche isst wenig und kümmert sich um seine Gesundheit. So ist das, der Arme isst, wenn er essen kann und wenn nicht, dann isst er nicht."
Auf dem nackten Körper sammeln sich die Furchen vierzigjähriger Erwerbsarbeit. Die Narben vom Weinessig ihrer Ausbildung verheilen nie. Die Ernährungsweise a lo pobre strengt Leber, Galle und Magen an. In der Ein-Raum-Wohnung einer aufstrebenden Großstadt steige der Mietendruck, skandieren die Studenten-Demonstranten vor dem Späti und halten Plakate in die Höh'.
Das stumme Blaulicht der Polizei beruhigt sie.
Sie berührt das Hämatom an der linken Schulter mit der Gelassenheit aus fünfundfünfzig Jahren Menscherfahrung. Das Fernsehgerät lässt sie ausgeschaltet, das Smartphone ebenso, die Chefin fragte ständig, wie es ihr gehe, dass das gar nicht ginge, dass dem Klienten der Pflegevertrag gekündigt worden sei.
Ihr überfärbtes Haar hat erste graue Streifen, die das Muster des Ellenbogens spiegeln. Sie hinkt an den französischen Balkon, zieht eine Zigarette und sagt:
„Ich bin die Kerstin. Von nix kommt nix. Ich mache was.“